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Hermann Bahrs Gegen Klimt - Eine Revision
In: Kakanien, Budapest 1987, S.401-413


Hermann Bahrs Gegen Klimt (1) ist ein Buch für Klimt und nicht von Bahr. Diese Anthologie ist eine Stil-Blütenlese (wörtl. = anthologia) von kunstkritischen Schmähungen der Klimtschen Werke Philosophie, Medizin, Goldfische und Beethovenfries.

Bahr hat bezeichnenderweise nicht eine Objektivierung durch die Gegenüberstellung positiver und negativer Urteile angestrebt, sondern offensichtlich geglaubt, diese als „Schandmal für die Nachwelt“ (S.5) apostrophierten Texte entlarvten sich selbst. „Bezeichnenderweise“ deshalb, weil hier das persönliche Engagement wertvoller zur Durchsetzung der künstlerischen Position erschien, als wissenschaftliche oder sonstige Argumente. Das erleichtert die Lektüre, ja macht diese Texte überhaupt erst lesenswert.

Karl Kraus, den Bahr hier durch Nichtberücksichtigen strafte, beleuchtete schon 1900 dessen Strategie: „Denn es ist eine Eigenthümlichkeit des Herrn Bahr, dass er über die Kunstwerke, die er lobt, niemals etwas sagt, wonach man sie von jenen, die er tadelt, unterscheiden könnte; ja, dass er über Kunstwerke überhaupt niemals etwas sagt, sondern nur über die Künstler, die seine Freunde oder Feinde sind.“ (Die Fackel 56/21, 1900)

In der Tat war es Kunstpolitik, die Bahr zur Herausgabe dieses Büchleins bewegte, abgesehen davon, daß er gleichfalls anderen denselben Vorwurf macht: „Bei uns gilt ja nicht, was einer tut, sondern man fragt, ob er beliebt ist.“ (S.4) In seinem Vorwort schildert er seine Bewegtheit, wie er von allen Seiten mit Fragen bestürmt worden wäre, weil (oder ob) Klimt verrückt geworden sei. Den Grund dieser Gerüchte ortete er im Versuch, die Berufung Klimts als Professor an die Akademie zu verhindern. Trotz mehrerer Ansätze des Kollegiums wurde der damals in Wien „einzige europäisch große Meister“ (Bahr, S.4) nie berufen. Immerhin wurde er am 26.Oktober 1917, einige Monate vor seinem Tod, noch zum Ehrenmitglied ernannt.

Die Meinungsschlacht wurde an der Geschmacksfront geführt. Bahr verehrte Klimt vielleicht für eine Eigenschaft, die ihm selbst nicht immer beschieden war, für seine standhafte Konsequenz, niemals „ein ganz klein wenig nur, unter sein Talent herabzugleiten, um mit einem Schlage von allen bewundert und gepriesen zu sein.“ (S.6) Klimt suchte sich kein Publikum, biederte sich weder Snobs noch Philistern an - von denen Kraus sagte, die ersteren förderten das Unkraut, während die anderen die Edelpflanze hinderten - und schon gar nicht wiederholte er Gewohntes. Gerade das Insistieren auf dem Immer-Gleichen, ein Charakteristikum der Prämoderne aus Bahrs Sicht, wäre das Kriterium der wieder abgedruckten Kritiken gewesen.

„Sie sprechen wirklich nur aus, was der gemeine Wiener denkt und wie er sich zur Kunst verhält. Und eigentlich muß ich sagen, lernt man durch sie unsere 'Kultur' und den 'österreicliisclien Geist', wie diese wirklich sind, viel besser verstehen als etwa durch mich." (S.5)

Karl Kraus schrieb Eduard Pötzl (1851-1914), dem Redaktionskollegen Bahrs im Neuen Wiener Tagblatt und dessen ironischen Gegenspieler zum 60.Geburtstag ins Stammbuch (Die Fackel 319/11 ff., 1911): „Herr Eduard Pötzl, der die Weltanschauung meiner Bedienerin zur Satire geformt und meinen Hausmeister auf die moderne Kunst losgelassen hat...“

Dieser Blick auf das mehr oder weniger gebildete Maul des Volkes macht denn auch Gegen Klimt zu einer amüsanten und zugleich lehrreichen Fundgrube. "Hlier findet man" nicht nur "Wiener Spaßmachertum, österreichisches Denunziantenwesen und internationale Unwissenheit in harmonischer Vereinigung den niedrigen Instinkten der Menge huldigend" (S.9), sondern auch bisher selbst im "Wien um 1900"-Boom der letzten Jahre unbeachtet gebliebenes, reiches Material für eine Rezeptionsgeschichte und eine Theorie der Kunstkritik.

Abgesehen von der oft witzigen Seite dieser Alltagsliteratur der Feuilletonisten, an der man sich heute freuen kann, stellen sich zwei Fragen:
1. Was hat man gegen Klimt vorgebracht?
2. Was unterscheidet unsere von der damaligen Sicht?

Die Argumente gegen Klimt lassen sich mit den inzwischen sattsam bekannten Begriffen "Unmoral, Unfunktionalität, Unklarheit, Eklektizismus, Stilunreinheit, Sensationslust, Unkunst" zusammenfassen. Damals bis heute steht die Moral im Vordergrund. Bahr:
"Um den Impressionismus zu widerlegen, sucht man darum einem Impressionisten einen Ehebruch nachzusagen." (S.4)

Vor allem der Beethovenfries (1902, Det. Abb. links) erregte Anstoß. Es folgen einige Zitate:
     "Solche Orgien hat das Nackte noch auf keiner Wiener Ausstellung gefeiert ... Offenbar glaubten die Herren von der Secession, die halbe Nacktheit des Klinger'schen Beethoven ... überbieten zu müssen, indem sie die Nacktheit in's Krankhaft-Allegorische modernisirten ... Der Realismus, womit er die Wollust und die Unkeuschheit allegorisirt, ist künstlerische Selbstbefleckung im verwegensten Sinne des Wortes."

     "Die Nacktheiten sind vorherrschend, und zwar in einer Weise, wie sie bisher nicht gestattet waren ... Die Ausstellung wird ohne Zweifel Aufsehen erregen, sicher aber auch Anstoß und Entrüstung, denn ohne prüde zu sein, muß man offen sagen, daß die Künstler schon zu weit gehen ..." (S.67 f.)

     "Hier aber hört der Spaß auf, und ein brennender Zorn erfaßt jeden Menschen, der noch einen Rest von Anstandsgefühl hat. Was soll man denn zu dieser genalten Pornographie sagen? ... Für ein unterirdisches Local, in dem heidnische Orgien gefeiert werden, mögen diese Malereien passen, für Säle, zu deren Besichtigung die Künstler ehrbare Frauen und junge Mädchen einzuladen sich erkühnen, nicht ... Gibt es denn in Wien keine Männer mehr, die gegen solche Attentate protestieren?" (S.70)

     "Dagegen muß auf das Enttschiedenste Stellung genommen werden, daß unter dem Vorwande künstlerischer Lizenz dem Anstößigen Tür und Tor geöffnet wird. Ich möchte den Vater, Bruder, Ehemann kennen, der seine Tochter, Schwester, Frau in die derzeitige Sezession-Ausstellung führt und nicht in hellster Entrüstung die Ausstellungsräume verläßt!" (S.71)

Mit dieser "von apokalyptischer Phantasie erträumten Lasterhaftigkeit" (S.72), diesem Mangel an Moral wird zugleich eine rückgratlose Inkonsequenz und das Krankhafte assoziiert, was einem wirklich großen Künstler nicht entspreche.

Ein Publikum, das an die Harmlosigkeit von Allegorien, die das von ihnen jeweils Symbolisierte nicht wirklich darstellen, gewöhnt war, war nicht imstande, etwa die Darstellurig der Wollust ohne maskierenden Tand zu sehen. Nicht einer der Kritiker hat denn auch das ikonologische Programm des Beethovenfrieses besprochen, weil nicht die Thematik, sondern die Form skandalös erschien.

Erstmals bescherte die Ausstellung der Philosophie Wien den Kunst-Skandal, und zahlreiche Proteste, vor allem von seiten der Universität, ergossen sich über den Künstler, aber auch über die verantwortlichen Behörden. Im folgenden greife ich nur einige Stellungnahmen heraus, aus denen die Gründe für die Ablehnung deutlich werden.

Der bereits erwähnte Dialektdichter Eduard Pötzl hat die Philosophie einmal humoristisch karikiert und ein anderes Mal in einem Gedicht als Medizin-Allegorie scherzhaft umgedeutet:

      "Gerade dieser Maler, längst als ein genial veranlagter Stürmer geschätzt, bekundet durch einige kleinere Arbeiten in einem Saale daneben, was er eigentlich kann, wenn er ernst genommen werden will. Die 'Philosophie' hingegen hat er einfach von der humoristischen Seite aufgefaßt; entschieden das Vernünftigste, was man mit ihr tun kann. Wir sehen auf dem weitläufigen Gemälde den Urstoff dargestellt, wie
er sich durch eine geheimnisvolle Kraft zusammenballt und die Form eines verschwommenen Antlitzes annimmt. Das ist das Welträtsel.Welche verhängnisvolle Wirkung es übt, über dieses Rätsel lange nachzugrübeln, erkennen wir aus der Figurengruppe links. Da steht ein nackter Greis, der sich nicht zu helfen weiß und mit
den Ausdrucke der tiefsten Reue über sein offenbar durch eine Professur der Philosophie verpfuschtes Leben die Hände vor das Gesicht schlägt. Vielleicht soll
der traurige Mangel an Kleidungsstücken auch andeuten, daß dieser bedauernswerte Greis infolge seines beharrlichen Philosophierens schließlich einer kalten Abreibung ausgesetzt gewesen. Wir sehen ferner eine junge Dame, deren angenehmes Aeußeres uns ihre willkommener erscheinen läßt als die des alten Herrn, ebenfalls ihr Gesicht verbergen. Es ist klar: dieses Fräulein schämt und ärgert sich, daß es Schopenhauer
gelesen hat, insbesondere, was dieser ungalante Philosoph über die Weiber sagt. Ein drittes unangezogenes Mädchen hingegen ist zu einem höchst verständigen Entschluß gelangt. Sie ordnet ihre Frisur mit einen Blick gegen das Welträtsel, der unverhohlen besagt: ich pfeif auf dich! Schön muß man sein, dann gehört einem ohnehin die ganze Welt, oder doch die halbe! Dieses Benehmen veranlaßt einen sorglichen Vater, der
fürchtet, sein Knäblein könnte in solcher leichtsinniger Gesellschaft verdorben werden, zur schleunigen Flucht mit dem Kinde auf dem Arme. Wenn wir noch erwähnen, daß eine nicht näher erkennbare Person ihre rotblonde Perücke sozusagen um die Erde
haut, sicherlich aus Zorn über die schwierige Lösbarkeit des Welträtsels, so haben wir den launigen Inhalt des Bildes erschöpft. Ja, ganz rechts ist noch ein neugeborenes Kind zu sehen und am unteren Rande ein grell beleuchteter Kopf: 'Das Wissen'. Als solches wird es hoffentlich wissen, was es mit dem armen weggelegten Kinde oben für eine Bewandtnis hat. Das beruhigt uns beim Scheiden von dem Bilde; denn wir wissen es natürlich nicht." (S.15f.)

    "Der dürre Greis ist fertig zum Seciren,
Das blasse Weibervolk zum Auscuriren;
Der pralle Mann treibt Orthopädik -
Gott sei den Patienten gnädig!
Den Kindern winkt die Serumtherapie;
Dem Kleinsten d'rüben hat die Chirurgie
Die beiden Arme weggeschnitten,
Doch nichts hat es dabei gelitten
Besagt die kummerlose Pose:
Das war die Folge der Narkose.
Als diese ist dann dargestellt,
Was man für Weltenstaub jetzt hält.
In Wirklichkeit ist es der Aether,
Vermischt mit Chloroform, der später
Verdichtet sich in diesem Haupt
Und der Besinnung es beraubt.
Sobald es anästhetisch wird,
Wird es vermuthlich trepanirt.

Ganz unten ist ein zweiter Kopf,
Der ist beleuchtet bis zum Schopf;
Ja durch und durch geht ihm das Licht,
Der Laie, der begreift das nicht;
Er liest im Katalog: 'Das Wissen'
Und weiß doch nichts, denkt er verbissen.
Der Kopf nun, von dem fahlen Licht
Durchdrungen bis zur letzten Shiicht,
Zeigt uns des Röntgenstrahls Bedeutung:
Wir sehen dank der Lichtstromleitung,
Daß nichts in diesem Kopfe steckt
Ich meine: außer Intellekt.

So ist denn medicinisch aufzufassen
Das Klimt'sche Bild 'Philosophie';
Wollt ihr's als 'Heilkunst.' gelten lassen,
So gibt's kein Streiten, niemals nie! ..." (S.28f.)

Eduard Pötzl hat jenseits der Karikatur in seinen Argumenten recht, wenn er von der thematischen X-Beliebigkeit dieses Werkes spricht, auch all' die anderen, die in das gleiche Horn blasen. (2)

     "Welch ein großer Geist ward hier zerstört!' Klimt verfügt über die höchst pathetische Kraft, das hat er auch in der linken Philosophenecke nit der Darstellung des furchtbaren Seins gezeigt, aber was soll man zur Auffassung des Welträthsels sagen, das als grüner Menschenkopf aus einen Heuschober hervorlugt? Oder zum Wissen, das als beleuchtetes (nicht erleuchtetes) Mädchenantlitz mit einem Firmlingsausdruck so gar nichts Transcendentalallegorischgespenstisches bietet? Alles menschliche Wissen ist zwar Stückwerk. Hier aber ist es ein banales Kopfstüchwerk." (S.16)

Manch ein Kritiker wurde in der inhaltlichen Kritik konkret und vergleicht das Bild mit den Aufgaben der universitären Disziplin:
     "Ganz abgesehen davon, daß die philosophische Fakultät, deren allegorische Darstellung das Bild beabsichtigt, sich eigentlich mit recht realistischen und exakt wissenschaftlichen Fächern beschäftigt, als da sind: Geschichte, Sprachwissenschaft, Mathematik usw., ist auch die moderne Philosophie nichts weniger als mystisch-metaphysisches Dahinträumen unter ungelösten Rätseln. Im Gegenteil gewinnt der physiologische Teil dieser Disciplin immer mehr an Ausdehnung, während der rein spekulative immer mehr zusammenschrumpft. Der Maler soll das Rätsel darstellen, aber nicht selbst eines aufgeben. Das Unerforschliche sichtbar darzustellen mußte mißlingen, und was wir sehen, ist eine formlose unverständliche und Traumwelt, das gerade Gegenteil aller wahren Philosophie". (S.16f.)

Über die geistigen Fähigkeiten war man sich offensichtlich ziemlich einig: "Der Maler selber ist ein zu wenig tiefer Geist, um über dies Epigramm hinaus zu interessieren." (S.19)

Die Kritik erhoffte oder erwartete eine Allegorie mit klärenden Attributen, die die Aufgaben der philosophischen Fakultät deutlich zu machen hätten. Inwiefern konnte Bahr erwarten, daß sich dieses Vorurteil von selbst entlarvte? Heute, acht Jahrzehnte später, auf der Basis endloser Diskussionen über die abstrakte Kunst, nach den Erfahrungen mit politisch-ideologischen Rahmenbedingungen und thematischen Wünschen von Staatskünsten, fällt es nicht mehr leicht, das Problem der damaligen Diskussion überhaupt zu begreifen. Ich spare mir diese Frage etwas auf, weil sie mit Bahrs Idee der Moderne zu tun hat. Ein weiteres Argument betraf die 'Stilreinheit'.

      "Das Bild kann nur in einem secessionistischen Hause Platz finden, wo es sich in seiner Sonderbarkeit einen, ebenbürtigen Stile anpaßt, aber nicht in der geschmackvollen Renaissanceumrahmung der Wiener Universität, in diesem herrlichen Bau Ferstels". (S.18)

Dafür ist man, vor allen nach den denkmalpflegerischen Problemen nach dem II. Weltkrieg, noch hellhörig. Der Einwand ist deswegen berechtigt, weil es sich nicht um irgendwelche Tafelbilder handelte, sondern um Deckengemälde, die mit den anderen von Klimt selbst und jenen von Franz Matsch, zu harmonieren hatten. Klimt nahm auf die Situation überhaupt keine Rücksicht, sondern schuf vertikal angeordnete Bilder, deren Detailreichtum überdies von unten nicht gesehen werden konnte.

Während dieser Einwand heute noch gelten kann, ist jener der Stilreinheit vielschichtiger. Der Historismus legte Wert darauf, wobei es zu dieser Zeit nicht nur für bestimmte Aufgaben bestimmte Stile gab, sondern auch Verfallstile, die erst nach und nach zu entdeclzen waren. Mit dem Beginn der kunstgeschitlichen Methode im engeren Sinne waren alle Stile gleichwertig und nach dem bekannten Spruch Alois Riegls der Kunstlhstoriker der beste, der keinen persönlichen Geschmack hätte. Aus diesem Blickwinkel sind die Forderungen erst begreifbar. Die Forderung nach Stilreinheit war antiquiert wie die anderen Vorbehalte, wobei manche Aspekte durchaus die Situation in der Universitäts-Aula getroffen haben. Oder, um es auf eine Formel zu bringen: man verurteilte das Bild, weil es nicht an diesen Ort paßte. Diese Bedenken sind nicht von der Hand zu weisen. So bleibt neben den unwiderlegbaren Ablehnungen emotionaler Art (auf die Frage, warum er den Protest der Professoren mitunterschrieben habe, antwortete einer: "Ja wissen Sie, ich kenne Klimt nicht und ich kenne auch sein Bild nicht. Aber ich habe einen solchenHlaß gegen die moderne Kunst, daß ich ihr entgegentrete, wo und wie ich nur kann", S.24), die ihre Aversionen rationalisieren oder kaschieren, der thematische Vorwurf offen.

Bei der Präsentation der Medizin schlugen die Wogen noch einmal hoch. Pötzl deutelte erneut humoristisch an der Situation herurm.

      "Im Vordergrunde des Deckengemäldes steht eine weibliche Gestalt, die unzweifelhaft die Heilkunst beduiten soll. Diese hochmütig dreinschauende Dame mag soeben, nach ihrem Kostüme zu schließen, vom letzten hypermodernen Künstlerfeste 'Es ist erreicht' nach Hause gekommen sein und hat in ihrer Schlaftrunkenheit eine Vision, die den übrigen Raum des Bildes ausfüllt. Wir gehen wohl nicht fehl in der Annahme, daß die Göttin der Heilkunde als weiblicher Arzt verkörpert ist. Die Frau Doktorin sieht, während sie noch an ihrem secessionistischen Kostüme herumnestelt, im Geiste den schrecklichen Reigen ihrer Patienten. Während sie selbst die Nacht einem Mummenschanze geopfert hat und jetzt noch, beim bläulichen Morgenlichte, mit närrischem Flitter angetan ist, haben die Kranken vielleicht nach ihrer Hilfe geseufzt und verzweifelt die langen Stunden bis zur nächsten Visite gezählt.
Da ist gleich rechts hinter ihr ein Fräulein, das sich zusammengekrümmt vor Krämpfen. Die gesunde Farbe des üppigen Körpers läßt uns zwar hoffen, daß es nur ein ungewöhnlicher Grad von Grimmen ist, der das Fräulein plagt. Doch ist es jedenfalls grausam, die Arme unnötig leiden zu lassen, da ihr doch mit ein paar Tropfen Opiumtinktur und Anlegung einer wollenen Bauchbinde so leicht zu helfen wäre. Es ist ja ein höchst erquicklicher Anblick, den der wunderbar modellirte Leib des schönen Mädchens gerade bei der schmerzstillenden Kniebeuge darbietet. Nichtsdestoweniger will selbst uns Laien die ärztliche Verordnung von der Zunge fliegen: 'Meine Liebe, ziehen Sie sich doch einmal an, sonst holen Sie sich noch einen dauerhaften Damkatarrh!'
Ganz in der dieses mit ihrer Gesundheit mutwillig Scherz treibenden Fräuleins steht eine blasse, hagere Jungfrau, wahrscheinlich ein beliebtes modernes Malermodell. Diagnose: hochgradige Anämie.
Diese Patientin täte schon aus rein ästhetischen Grunde besser, sich warm anzukleiden und Somatose zu essen. Die Frau Doktorin hätte alle Ursache, sich Vorwürfe zu machen, daß sie einer so schlecht genährten nervösen Person nicht längst eine ausgiebige Mastkur verordnet hat." etc. (S.42)

Abgesehen davon bemühte sich der Chor der Ablehnung bei der Medizin nicht mehr um eine thematische Auseinandersetzung, wie in der Philosophie. Es wurde nur henmungslos geschimpft, man sprach von: künstlerischer Unverfrorenheit, Popanzerie, Roheit der Auffassung, Mangel an Ästhetik, Absonderlichkeit und Ungeheuerlichkeit, gemaltem Racheakt, Salon-Tritsch-Tratsch, Jourschwefel, Apotheose der Verkrüppelung und Militär-Untauglichkeit, unehrlichen Verlogenheitsorgien, großem Ulk, Verstößen gegen die perspektivischen Figurengrößen, Gliedmaßen wie aus einem entleerten Wurstkessel, künstlerischen Freveltaten, einer ruft "Himmel, wo ist der Notausgang" und in der Medizinischen Wochenschrift klagt ein Arzt als einziger die thenatisciien Lücken, weil die zwei wichtigsten Funktionen, das Heilen und die Prophylaxe nicht dargestellt seien.

Ich wiederhole die Frage, warum die thematische Unangemessenheit die Secessionisten und iiir Gesamtlzunstwerk-Ideal nicht gestört hat.

Liest man Bahrs Die Moderne und andere, programmatische Aufsätze durch, wird man vergeblich nach einer Orientierung suchen. Was schon damals auffiel, war die formale Komponente: "die Art der Darbietung war ungewohnt." (3) Im Zentrum steht der Satz: "wir haben kein anderes Gesetz als die Wahrheit, wie jeder sie empfindet".

Bahr verkündet hier eine von objektiven Inhalten in Sinne des "Naturalismus" unabhängige "Empfindungskunst", man sprach auch von "Nervenkunst". Mit dieser "modernen" Wendung in einen subjektiven Relativismus beginnt das Wertungsproblem
im 20. Jahrhundert. Bahr war hier nicht allein mit den Künstlern, sondern hat mit der Verlagerung des Schwergewichts auf die Empfindung auch z.B. in der Wahrnehmungstheorie Ernst Machs analoge Bemühungen finden können. Die Quintessenz lag für ihn in Das unrettbare Ich in der Einsicht: "Das Ding ist nichts außer dem Zusammenhange der Farben, Töne, Waärmen. " (4) Jenen, die bis heute in der Aufgabe von vorausgesetzter Objektivität einen Verlust sehen, war und ist die selbstherrliche Unbekümmertheit Bahrs, die sich in Sprüchen wie "Für mich gilt, nicht was wahr ist, sondern was ich brauche, und so geht die Sonne dennoch auf, die Erde ist wirklich und Ich bin Ich", (5) ein Dorn in Auge.

Übrigens ist es nicht fehl am Platz, daran zu erinnern, daß sich in Die Überwindung des Naturalismus Bahr auf Sandor Petöfi (1823-49) beruft: "Die Träume, üitter, lügen nimmer".

Bahrs Gegen Klimt ist nicht einfach eine selbstentlarvende Sammlung von kunstkritischen Anachronismen. Es kommt dabei auf den Standort und die Art der Vorurteile an. Die Kunstkritik hat längst das hier noch lesbare Engagement verloren, sie ist durch den Wunsch nach Objektivität und wertfreier "Geschmacklosigkeit" (6) (Riegl) zur Unkritik geworden. Auch wenn wir für einen Augenblick die positive Kritik von damals vergessen (Hevesi u.a.), (7) ist es doch gewiß, daß ästhetische Urteile einer Zeit irrelevant sind, weil sie gegenwartsblind und in jedem Fall zukunftsblind sind - die Ästhetik der Nachwelt folgt anderen Gesetzen. Die Konsequenz, die hier zum Abschluß nur anzudeuten ist, möchte ich auf eine vielleicht auch in der Literaturgeschichte diskutable Gleichung bringen.

Die moderne Kunstgeschichte begann auf der Basis positivistischer Objektivität (alle Stile sind gleich) mit einer Absage an den Fortschrittsglatiben, sie ist gegenwartslos. Zugleich beginnt die moderne Kunstkritik mit einer nicht an der Vergangenheit orientierten, aber rein gegenwartsbezogenen Ästhetik. Bahr: "Sie hat nicht ihnen Lehren zu geben, sondern von ihnen Lehren zu empfangen." (8)

Die gleichzeitige Kunst, erstmals die "moderne", will neu, anders sein.

Heute gibt es unter dem Schlagwort der "Postmoderne" eine Umkehr. Die Kunst will nicht mehr um jeden Preis innovativ, avantgardistisch sein. Deshalb bedarf die Kunstkritik einer historischen Reflexion, sie kann sich nicht mehr auf die gegenwärtige Ästhetik beschränken (und wird dadurch "wissenschaftlicher").

Schließlich muß die Kunstgeschichte sozusagen wieder "geschmackvoll" werden, d.h. den eigenen Standort präzisieren, äußern, anstatt objektiv sein zu wollen, sich zur gegenwärtigen eigenen Subjektivität bekennen (wodurch sie "kritischer" wird). Allerdings verliert sie, wie Bahr um die Jahrhundertwende als Künstler und Kritiker, die "Wahrheit" - wahrscheinlicher ist aber, daß sie sie so, wie sie sich das gewünscht hätte, ohnehin nie besessen hat.

 

Anmerkungen:

1) Gegen Klimt. Vorwort und hrsg. von Hermann Bahr. Historisches, Philosophie, Medizin, Goldfische, Fries (Wien 1903).
2) Auf die inhaltliche Inkompatibilität zwischen Klimts Auffassung und dem Selbstverständnis der Professoren wurde mehrfach hingewiesen. Zuletzt von Carl Emil Schorske: Wien - Geist und Gesellschaft im Fin de Siècle, 1980, Frankfurt a.M. 1982, Kap.V.
3) Die Wiener Moderne - Literatur und Musik zwischen 1890 und 1910, Hrsg. v. Gotthart Wunberg, S.29
4) Hermann Bahr: Das unrettbare Ich. In: Wunberg, a. a. O., S.147
5) ebda., S.148
6) Zur Kategorie des "Geschmacks" vgl.: T. Z.: Gustav Klimt: M. Stonborough-Wittgenstein - Ein österreichisches Schicksal, Frankfurt a. M. 1987, S.74 ff.
7) Ludwig Hevesis Aufsatzsammlung "Acht Jahre Secession" (1905) ist in einem Reprint erschienen. Klagenfurt 1984
8) Günter Dankl: Die "Moderne" in Österreich. Zur Genese und Bestimmung eines Begriffes in der österreichischen Kunst um 1900. Wien-Köln-Graz 1986 (Dissertationen zur Kunstgeschichte Bd. 22), S.50

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