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Der Preis des Bourdalou
Eine Reliquie des Kunstkapitals Wie bei allen anderen vergleichbaren Objekten handelt es sich bei Bourdalou nicht um ein gekauftes Objekt, das durch Signatur und einen Sockel im Galerienbereich oder im Museum zu Kunst wurde. Das Original, das einer Familien-Tradition zufolge gar nicht von Duchamp stammte, das er sich aber im Laufe der Jahrzehnte einverleibt haben soll, einfach dadurch, dass er weitere Reliquien produzierte, ist verschollen. Neuerdings wird seine Entstehung Elsa von Freytag-Loringhoven zugeschrieben.(1) Die exzentrische Deutsche hat ihre Beteiligung nie an die große Glocke gehängt und das Ganze wohl als dadaistischen Scherz gesehen.
Ein Bourdalou würde auch eher zu einer Frau passen. Darunter verstand man seit dem 18. Jahrhundert ein Gefäß, das den Damen als „pot de chambre“ wie ein „Stechbecken“ der Blasenentleerung diente. Boucher führt uns in seinem Bild Une Femme qui pisse den Gebrauch des Bourdalou vor.
Etymologisch geht der Ausdruck Bourdalou vermutlich auf „bour“ (Quelle, Wasserstrahl) und „dalou“ (zum Verrichten) zurück (und hat nichts mit Jules Dalou, dem französischen Bildhauer zu tun). Das ursprüngliche Objekt ist verloren gegangen und wurde nur durch eine Fotografie überliefert, auf die man sich bei allen späteren Rekonstruktionen bezogen hat. Welche Umstände verhelfen diesen Gegenständen zu einer nahezu religiösen Aura und worin unterscheiden sich diese zu verschiedenen Zeitpunkten entstandenen Phänomene voneinander? Über den Preis der nach wie vor kaum bekannten Reliquien nachzudenken, ist demnach eigentlich überflüssig. Aber wie bei allen Devotionalien entscheiden keine historischen Gründe, sondern die Gläubigen über den Wert. Die Pilger schreiben aus einer nicht durchschaubaren Tradition heraus den Reliquien Bedeutsamkeit zu. Im Lateinischen ist eine Reliquie ein Relikt, etwas „Zurückgelassenes“, ein „Überbleibsel“. Wirkt ein Objekt, z.B. die Kappe eines Heiligen in einer Vitrine einer Kapelle im Nordosten Spaniens Wunder, indem Blinde wieder sehen können, dann steigert es die Popularität. Man erinnert sich auch gerne an den Flaschentrockner der weinenden Heiligen Lacrimosa, mit dem das Wunder der erstaunlichen Vermehrung von Wein einherging. Im Laufe der Jahrhunderte werden solche heiligen Orte auch wieder vergessen, manche aber bleiben berühmt, Kathedralen werden dort errichtet, Bücher über die religiösen Erfahrungen geschrieben, für die Pilger Hotels in seiner Umgebung gebaut. Ganz ungewiss ist das Schicksal eines Objekts, wenn es aus einer Abtei in die Weltliche Schatzkammer (Wien) transferiert wird, wie die „Sandalen Jesu“ aus der Abtei Prüm (Eifel). In den Kunst- und Wunderkammern verfließen die Grenzen zwischen sonderbaren Naturformen, historischen Artefakten und Kunstwerken. Irgendwann verliert sich der Glaube daran, dass ein Tuchreliquiar ein Stück vom Tischtuch des letzten Abendmahls gewesen sein kann. Es verliert dann den Wert für die Frömmigen, die sich naturgemäß von keinen Märchen rühren lassen wollen. Der Staub der Geschichte macht die Dinge nicht heilig. Es müssen auch die Umstände einleuchten. Dem Stift Heiligenkreuz in Niederösterreich hat der „tugendreiche“ Babenberger Herzog Leopold V. eine Kreuzreliquie geschenkt, die er immerhin 1188 in Jerusalem erworben hatte. Er war also vor Ort. Schon Erasmus von Rotterdam spottete, dass das Material aller Splitter des Kreuzes in den europäischen Kirchen ausreichten, ein Schiff daraus zu bauen. Der Glaube ist die wichtigste Voraussetzung für den Reliquienkult. Die heidnische Antike kannte ihn nicht. Das Mittelalter ist ohne den Wunderglauben nicht denkbar. Die Reformatoren kritisierten die Auswüchse des „Reliquienkrams“ (Martin Luther). Im folgenden Bildersturm wurden die bedeutenden Reliquien (und Kunstwerke) vernichtet. Das Konzil von Trient hat im 16. Jahrhundert die Reliquienverehrung wieder zugelassen. Interessant ist, dass nach kanonischem Recht Katholiken Reliquien kaufen, besitzen und verehren, allerdings nicht wiederverkaufen dürfen. Der Handel mit Reliquien wurde immer wieder verboten. Der Kunstmarkt hat sich darum nicht gekümmert. Bis heute ist der Bedarf groß, er will befriedigt werden. Einen Ausweg aus dieser Zwangslage bietet die neue Produktion der Reliquien. Auch wenn der Handel damit prinzipiell verboten sein mag, kann aus heutigem Blickwinkel mit folgenden, sehr unterschiedlichen Preisen gerechnet werden.
Schätzen wir einfach den Versicherungswert von Lindes Stück aus dem Stockholmer Moderne Museet auf 10.000.- €. Der schwedische Schriftsteller und Komponist Ulf Harald Linde (1929-2013) baute auch das erste Hauptwerk Duchamps, das Große Glas nach, sowie eine Anzahl weiterer Devotionalien, wie das Fahrradrad, Fountain, In advance of the Broken Arm, Underwood, Fresh Widow.
Elaine Sturtevant (1924-2014) baute ebenfalls viele Werke von Duchamp nach. Ihre in den letzten Jahren oft ausgestellte Replik taxieren wir (ohne Gewähr) auf 100.000.-. Im Gegensatz zum wissenschaftlichen Ansatz des Schweden war Sturtevant eine Vertreterin der Appropriation, einer wichtigen Kunstform der 1980er Jahre. Sie wiederholte nicht nur die Reliquien und Installationen von Duchamp, sondern widmete sich auch anderen bedeutenden Künstlern, von Joseph Beuys bis Andy Warhol. Sie ruft nicht nur kunstwissenschaftliches Interesse hervor, sondern ist ei
Duchamps neu konstruierte Serie von 1964 (8er Auflage) erreicht auf Auktionen pro Stück mehr als 1.000.000.-(3). Auf Einladung des Mailander Galeristen Arturo Schwarz rekonstruierte Duchamp seine Multiples für den Kunstmarkt. Sie erzielten astronomische Preise, wenn man bedenkt, dass es sich um keine gekauften Objekte handelte, sondern eigentlich um Skulpturen von käuflichen Dingen.
Die Rekonstruktion des Autors aus Anlass des 100. „Geburtstages“ von Bourdalou hat keinen Sammlerwert und kostet bei einer 100er Auflage je Exemplar 36.- € (plus Versand). Der neue Titel Brunzel ist eine Abkürzung von Brunnen (also „bour“) + Zelle. Er erlaubt einen weiteren Assoziationsraum und löst die Reliquie aus dem falschen anekdotischen Zusammenhang mit dem Jesuitenpriester Louis Bourdalou. Seine Predigten am Hof Ludwigs XIV. um 1700 sollen so spannend gewesen sein, dass die Damen die Kirchen nicht verlassen wollten, um auszutreten. Deshalb nahmen sie zunächst eine Saucière mit und benützten diese – man hört fast das Pritscheln unter den Röcken in der Kirche. Diese oft bemalten Porzellangefäße wurden dann zum Bourdalou weiterentwickelt.(4) Bei den Reliquien geht es jedoch um eine Entfunktionalisierung. Schon der Gedanke an ihren funktionellen Einsatz widerspricht der Andacht. Aus diesem Grund ist das Brunzel um 90 Grad gekippt, um es aus seiner hierarchischen Präsentation zu lösen. Die in der Kunstwirtschaft erreichbaren Handelspreise sind eine Sache. Die andere, wichtigere Frage betrifft den Ursprung der Anbetung, womit die hohen Preise erklärt werden können. Es gibt viele Künstler, die nach dieser Kraft gesucht haben und ihr ganze Zyklen gewidmet haben. Hier steht die Forschung noch ganz am Anfang. Thomas Zaunschirm Wien, Mai 2015 1) Julian Spalding and Glyn Thompson: Did Marcel Duchamp steal Elsa’s urinal? The founding object of conceptualism was probably “by a German baroness”, but this debate is rarely aired. http://www.theartnewspaper.com/articles/Did-Marcel-Duchamp-steal-Elsas-urinal/36155 Published online: 03 November 2014 Der kanadische Keramiker Paul Mathieu hat den von Künstlern und Künstlerinnen ausgeloteten thematischen Bereich zwischen Duchamps Urinoir und Bourdalou untersucht. http://www.paulmathieu.ca/theartofthefuture/Chapter%2010/Chapterpages/Chapter10contents8.html
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