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(Abb. und Text in Arbeit)
ZUR IKONOLOGIE DES INDISCHEN TEMPELS
Von der Ikonographie zum tantrischen Gehalt
In: Kunsthistorisches Jahrbuch Graz 18, 1982, S.1-48
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Ikonographie und lkonologie
Tantra-Kult und Kunst
Der Tempel als Mahapurusha
Form und Nichtform
Ayadi-Shadvarga
Mahapurusha und Vastupurusha
Yantras
Chakras und Nadis
Ausblick
Anmerkungen
VORWORT
Der vorliegende Aufsatz ist der Versuch, die Methode der Architekturikonologie
für den hinduistischen Tempel fruchtbar zu machen. Auch wenn in
den letzten Jahren von verschiedenen Seiten darin ein Ausweg aus einer
positivistischen Kunstgeschichtsschreibung gesehen wurde, (1) ist dieser
Ansatz nicht so neu.
Im Unterschied zu den vor Jahrzehnten entstandenen Deutungen im Sinne
einer Kunstgeschichte als Geistesgeschichte (2) liegen die
Wurzeln für die folgenden Gedanken in einer längeren Auseinandersetzung
mit dem Problem der Beziehung Tantrismus und Kunst und setzen
am Konzept der Großform an. (3)
Ein weiterer Antrieb, den ich nicht verschweigen möchte, liegt
in den manchmal irrationalen Reaktionen von Forschern, wenn das Thema
einer Tantra-Kunst zur Sprache kommt. Weniger die unreflektierte
Annahme einer solchen hypothetischen Kunst als die emotionale Abwehr
dagegen war ein Ansporn, sich als Nicht-Indologe in diesen Dschungel
vorzuwagen.
Auch wenn der Begriff Tantra-Kunst als unhaltbar abzulehnen
ist, erscheint es mir fruchtbar, für die Blütezeit des Tantrismus
in den Jahrhunderten um die Jahrtausendwende nach dessen Umsetzbarkeit
zu fragen.
Dabei können verschiedene mehr oder weniger bekannte Untersuchungen
herangezogen werden, die zusammengefaßt klar machen - das ist
die zentrale These -, daß sich nur einer ikonologischen Betrachtungsweise
auch die tantrische Bedeutungsschicht offenbaren kann.
IKONOGRAPHIE UND IKONOLOGIE
Die Bedeutung der Tantras für die ikonographische
Forschung ist unbezweifelt.
Die großen indischen Forscher der Ikonographie, Gopinath Rao,
Shukla, Banerjea, Bhattasali, Gupte u. a. (4) haben die Tantras als
Quellen herangezogen. Doch so eindeutig der einleitende Satz auch klingen
mag, der Sinn dieser Feststellung ist nicht so klar. Zum einen wird
unter Ikonographie ganz allgemein die Beschreibung von Bildern
verstanden und nicht nur die Identifizierung der dargestellten Inhalte.
Zum andern ist der Begriff Tantra so mehrdeutig, da€ sich
die Bedeutungen bei ein und demselben Autor ausschließen können.
Das soll eingangs an einem Beispiel aufgezeigt werden. D. N. Shukla
bringt im 2. Kapitel seiner Vastu Shastra (5) eine Identifizierung
der Sekten und vermeintlich ihnen zugehöriger Schriften: Puranas-Vaishnavism,
Agamas-Shaivism, Tantras-Shaktism. Darin erscheint die tantrische Ikonographie
als jene der Shaktas. Dieser unzureichenden Klassifizierung folgt Shukla
selbst nicht. Shaktismus in mehr oder weniger ausgeprägter Form
hat es in Indien seit jeher gegeben. Die Tantras als letzte Phase des
Hinduismus korrelieren damit schon zeitlich nicht.
Später schränkt Shukla ein, indem er nur die letzte Phase
der Tantras mit dem Shakti-Kult assoziiert.(6) Dagegen those propounding
the tenets of Shaivism are called Agamas, others of Vaisnavism and Shaktism
the Pancharatras and Saptaratras respectively.(7) Daraus geht
hervor, daß Tantras nicht sektenspezifisch sind. Aber es entsteht
die Unklarheit, daß die Agamas einerseits generell dem Shaktismus
zugehören sollen, andererseits nur dem tantrischen Shivaismus.
Tatsache ist, daß die Schriften inhaltlich kaum je sektenspezifisch
sind, die Grenzen verschwimmen, nur die 18 Puranas als mythologische
Geschichten in metrischer Form als eigene Klasse leichter abzugrenzen
sind. Wie verwirrend das Bild ist, geht auch daraus hervor, daß
Shukla bei der Behandlung des Shaktismus als Tantrismus sich in erster
Linie auf die Markanjeya-Purana und nicht auf tantrische Quellen bezieht.(8)
Viele Tantras werden als Agamas bezeichnet, man hat die Agamas aber
auch die Puranas Südindiens genannt. Nach der Überlieferung
soll es 108 vishnuitische Sanhitas, 28 shivaitische Agamas und 77 shaktistische
Tantras geben, doch ist die Gesamtzahl der Texte jeder dieser Abteilungen
wesentlich größer, auch werden die Bezeichnungen Agama, Sanhita
und Tantra bei den verschiedenen Gruppen als gleichwertig bezeichnet.
(9)
Daher ist es kein Wunder, daß man klare Abgrenzungen und eindeutige
Definitionen nicht erwarten darf. Daraus resultieren die meisten Probleme.
Wenn nicht die Bezeichnungen eine Einteilung ermöglichen, müßten
die Inhalte das erbringen helfen. Aber welche Inhalte? Es gibt keine
nur einer Schriftenklasse völlig vorbehaltenen Inhalte. Es muß
auch daran erinnert werden, daß ein und derselbe Autor durchaus
puranische wie tantrische Schriften verfaßt haben kann - das Unterscheidungskriterium
liegt dann einfach in der äußeren Form. So haben der Shaiva
Nilakantha aus Maharastra oder Shivanandanatha aus Benares Tantras und
Puranas gleichermaßen verfaßt. (10)
Der zweite Punkt betrifft den Begriff Ikonographie. Shukla u. a. verstehen
darunter auch die möglichen Klassifizierungen von Bildwerken, ihre
Ordnung nach verschiedenen Gesichtspunkten. We can classify images
from the point of view of centres of art (11), aber das sei unwissenschaftlich,
weil in verschiedenen Kunstzentren derselbe Stil herrschen mag. Oder
die religiöse Basis, vedisch, puranisch und tantrisch könnte
als Grundlage dienen. What about the Buddhist and Jain images?
Denn auch diese Religionen hätten ihre eigene Mythologie, d. h.
Puranas und Tantras, aber ihre Bildwerke seien ziemlich anders als die
der orthodoxen Hindu-Gottheiten. Nach einer Diskussion der Standpunkte
schlägt Shukla folgende Einteilung vor:
1. Brahmanische Bildwerke (i) Pauranische (ii) Tantrische
2. Buddhistische Bildwerke (i) Pauranische (ii) Tantrische
3. Jaina-Bildwerke
Shukla folgt dieser eigenen Auffassung nicht, sondern geht auf die Klassifizierung
des klassischen Ikonographie-Forschers G. Rao ein. Dieser unterschied
in größerer Annäherung an die Texte nach: Bewegungsfähigkeit,
Gebrauch (für die Andacht, für festliche Gelegenheiten, für
das tägliche Ritual, zum Baden), Stellung (stehend, sitzend, liegend),
Erscheinung (abstrakt, figürlich oder gemischt, wie z. B. Mukha-Lingam),
Gattung (Plastik, Relief, Gemälde), Stimmung (die Rasas von raudra
= schrecklich bis shanta = friedlich). Auch nach dem Material wären
die Bildwerke zu ordnen.
Diese Ikonographie im weitesten Sinn kann hier nicht interessieren.
Shukla selbst geht nach der sonst gebräuchlichen Einteilung in
Trimurti, Vaishava, Shaiva, Ganapatya, Shaktismus, Saura, andere Gottheiten,
Jaina und buddhistische Ikonographie vor. Jede andere Klassifizierung
ist nur ein Kategorienspiel ohne praktische Bedeutung.
Was für eine Rolle spielen hierbei die Tantras? Unterscheiden sich
tantrische Werke so von puranischen, daß man sie voneinander abgrenzen
müßte, wie Shukla vorschlägt? Wenn nur die äußere
Form in manchen Fällen eine Unterscheidung der Schriften ermöglicht,
ist das schwer denkbar. Kompliziert wird der Sachverhalt durch die Klasse
der Upapuranas, von denen manche wie die Devi-Purana oder
Kalik·-Purana rein tantrisch sind.(12) Puranas als mythologische
Geschichten helfen in der Ikonographie ganz allgemein die Eigenschaften
der Gottheiten zu erklären. Die Tantras als Enzyclopädien
sind für die ikonographische Forschung nur von Interesse, was die
Dhyanas anlangt und nicht in ihrer Gesamtheit. Die Tatsache, daß
eine bestimmte Gottheit in einem tantrischen Kompendium beschrieben
wird, verleiht ihr nicht einen besonderen Akzent, der sie gegenüber
einer puranischen Beschreibung auszeichnet. Dasselbe gilt auch für
die Architekturtraktate.(13)
Bei der unüberschaubaren Fülle von Gottheiten und ihren verschiedensten
Erscheinungsweisen ist die lkonographie und Ikonologie auf Textvorlagen
in ganz anderer Weise angewiesen als bei abendländischer Kunst.
Ikonographisch hat der indische Shilpin kaum Freiheit, jedes Detail
ist streng nach Vorschrift (von Attributen bis zu den Proportionen)
auszuführen. Die ikonographische Forschung sucht daher bei unidentifizierten
Gottheiten nach Texten, in welchen sie beschrieben sind. Diese sind
nicht immer auffindbar, wie auch umgekehrt viele Dhyanas aus Texten
bekannt sind, für die es keine plastischen Entsprechungen mehr
gibt. Der Ikonograph ist wie der Künstler an diesen Modus gebunden,
und die einzige Freiheit, die ihm bleibt, ist, Näherungswerte anzunehmen,
wo keine sicheren Zuweisungen erreichbar sind. Aus diesem Grund werden
unterschiedslos alle Schriften herangezogen. Für die ikonographische
Analyse kommt es darauf an, daß the attributes of the hand,
which are the principal indexes of identifying an image, agree with
the Dhyana.(14)
Auch wenn es gelingen mag, eine Skulptur aufgrund einer tantrischen
Quelle zu identifizieren, ist damit zwar eine eindeutige Benennung der
Gottheit möglich, aber die ikonographische Lösung trägt
nichts zur Kenntnis ihrer Bedeutung bei.
Bestimmte Attribute, wie ein Fisch in der Hand einer Shakti, der auf
das tantrische Ritual der 5M verweisen mag, können in einer lexikalischen
Ikonographie Indizien für einen tantrischen Kontext sein, aber
zeigen ihn nicht auf. Besonders kraß zeigen das die zahllosen
Deutungsansätze (15) der erotisch-sexuellen Darstellungen, die
als solche für sich niemals deutbar sind, es sei denn, sie folgen
als Einzelszenen einem bekannten Text. (16) . D. Desai (17) hat die
Verbindung zwischen Tantra und Sex-Darstellungen als leere Behauptung
aufgewiesen und in ihrer tiefgehenden Analyse den Einfluß des
Tantrismus auf die Geschichte dieser schon seit Urzeiten gegebenen Thematik
untersucht. Danach kam durch den Einfluß des Tantrismus einerseits
ein magischer Aspekt dazu, andrerseits wandelten sich erotische Szenerien
in sexuelle Handlungen und Orgien, mithuna in maithuna.(18) Wiedergabe
von Sex-Szenen sind niemals religionsspezifisch, sie kommen in allen
indischen Hauptreligionen vor.(19)
Tantra gab zwar einen wichtigen Anstoß der Umwandlung, aber solche
Szenen sind später selbstverständlicher Bestandteil aller
auch nichttantrischen Tempel gewesen. Es bedarf also einer genauen historischen
Eingrenzung, um bestimmte Themen im jeweiligen Zusammenhang als mögliche
tantrische bezeichnen zu können. Dasselbe Thema war nur einmal
Indikator tantrischen Einflusses, danach aber nicht mehr.(20)
Der historisch-soziologische Entwicklungsgang des Tantrismus ist mit
formalen Entwicklungen der Kunst nicht zur Deckung zu bringen. Lediglich
ikonographische Reflexe sind nachweisbar. Desai zählt eine ganze
Reihe davon auf. Diese Motive, die auf das tantrische Ritual der 5M,
auf Yogapositionen bei Maithuna, u. a. m. (21) verweisen, machen nur
einen Bruchteil aller erotischen Darstellungen aus und sind nicht essentiell
für den Tantrismus. Es gibt tantrische Tempel, die völlig
frei davon sind.(22)
Und es gibt Shilpi-Texte, aus denen gar hervorgeht, daß Yantras,
deren Bedeutung geheim bleiben sollten, durch erotische Darstellungen
überlagert und damit verschleiert werden mußten.(23) Das
verweist darauf, daß letztlich der vermeintliche Höhepunkt
tantrischen Einflusses auf die Plastik der Jahrhunderte vor 1000 nur
die gesellschaftliche Reaktion, die Auseinandersetzung damit gewesen
ist und nicht zu tantrischer Kunst geführt hat. Mag man auch von
einer tantrischen Periode gesprochen haben,(24) so war diese in erster
Linie religionshistorisch bedeutungsvoll und nur sehr bedingt kunsthistorisch.
Das Verborgensein der religiösen Seite des Tantrismus, die essentielle
Geheimhaltung und willentliche Verschleierung konnte keinen direkten
Einfluß auf offizielle Kunst haben. Die Künstler hatten zwar
die Möglichkeit, thematische Hinweise einfließen zu lassen,
aber von außen, ohne selbst Tantrikas zu sein (oder
sein zu müssen).
Die sich den Zusammenhängen widmende lkonologie gewinnt damit für
die indische Kunst eine besondere Relevanz. Sie stellt nicht die Frage
nach der ikonographischen Identifizierung einer bestimmten Plastik an
einem Tempel, sondern versucht nach ihrer Rolle im Ganzen zu fragen.
Sehr oft krankt die Frage nach der Bedeutung des indischen
Tempels an der ahistorischen Idealisierung, dem Verhaftetsein an spekulativen
Metaphern und mythischen Systemen, wobei die konkrete Erscheinung als
sekundäres Epiphänomen vernachlässigt wird.
Darin liegt aber das eigentliche Problem. Grundsätzlich unterliegt
jeder Form eine Bedeutung. Aus den Texten wird sichtbar, daß jedes
Detail der heute als dekorativer Dschungel erscheinenden Tempeloberflächen
sich auf einen Inhalt bezieht. Einer Multiplikation der Ornamente wird
vermutlich eine in analoger Weise stattfindende Komplizierung der Kategorien
im jeweiligen System entsprechen. Die unüberschaubare Menge von
Tempeln sollte dies nicht verschleiern - jeder Tempel ist für seinen
gesellschaftlichen Umraum ein kosmisches Abbild und bedarf immer eines
theoretischen Apparates, um überhaupt entstehen zu können.
Je weniger dafür konkrete Anhaltspunkte zu finden sind, um so wilder
wuchert die Fantasie, so daß die Forschung notwendigerweise vorsichtig
nur allgemeine Schlüsse zu ziehen wagt.
Schon Bandmann hat das zur Stilgeschichte unterschiedliche Gefüge
einer Bedeutungsgeschichte erkannt, die nicht viel über die
individuelle Beschaffenheit auszusagen scheint.(25) Aber wir erhalten
doch erstrangige Anweisungen zum Verstehen, warum diese oder jene
Form in ihrer typischen nicht-individuellen Prägung überhaupt
da ist . . .(26)
Weiters hat Bandmann die Schwäche einer einseitigen lkonologie
darin erkannt, daß der Rang der Form zunehmend in dem Maße
(ist), wie die durch die Form umschriebene Aussage, der Inhalt, an Gewalt,
Macht und lebendiger Unbestimmbarkeit abnimmt.(27) Diese These
von einer umgekehrten Proportionalität von Form und Inhalt ist
in dieser strikten Weise aus der damaligen geistigen Situation zu verstehen,(28)
beleuchtet aber treffend eine Tendenz: nämlich die Polyvalenz der
Inhalte einfacher (archaischer) Formen. Das Numinose eines Lingam oder
Shalagrama-Steines ist ikonologisch, begrifflich schwer faßbar.
Es leuchtet ein, daß deswegen die auf Formenreichtum gerichtete
lkonologie methodisch einer historischen Differenzierung von formalen
Motiven schwer gerecht wird und in solchen Fällen auf eine synchron
in Texten sichtbare Entwicklung angewiesen ist: Wenn die literarischen
Zeugnisse fehlen stehen wir vor Rätseln. (29)
Gerade das ikonologische Interesse und Verständnis für
das durch alle Metamorphosen Gleichbleibende (30) begründet
die Skepsis der durch die Stilanalyse für geringste Veränderungen
wachen Forscher. Die Änderung von Bedeutungen läuft nicht
den Stilbrüchen parallel. Ja, manchmal verleitet diese Tatsache
dazu, zu sprachlichen Metaphern Zuflucht zu nehmen, womit völlig
verschiedene Phänomene dann unterschiedslos erfaßt werden
sollen.
Dieser Gefahr entgeht auch Sedlmayr nicht, für den ansonsten das
Einzelwerk im Mittelpunkt des Interesses steht. In seiner Arbeit Architektur
als abbildende Kunst (31) , die übrigens mit einem Rückblick
auf einen Aufsatz H. Zimmers über den indischen Tempel (32) ansetzt,
wird völlig Verschiedenes zusammengefaßt: einmal prägt
die antike Stadtvorstellung das Innere des Kirchengebäudes, dann
die mittelalterliche Stadtvorstellung das Äußere des Kirchengebäudes
oder die Leuchter als Himmlisches Jerusalem; schließlich die dichterische
Vision die Erscheinung der gotischen Kathedrale und die Kathedrale umgekehrt
die Paradiesesvorstellung bei Jan van Eyck. Hier wird die "Architektur
als abbildende Kunst" zur Abbildung der Architektur in der Kunst.
Auf eine genaue Definition des Begriffes Architekturikonologie
muß ich hier verzichten. Wie die Diskussion der letzten Jahre
zeigt, ist das Drei-Schichten-Konzept von Panofsky schwer aufrechtzuhalten.
(33) Eine Architekturikonologie führt weniger in den Dokumentsinn
(oder Wesenssinn), sondern erstellt aus einzelikonographischen Erklärungen
ein Gesamtprogramm.
Beim indischen Tempel kommt eine Dimension hinzu, die der wissenschaftlichen
Annäherung Schwierigkeiten bereitet. Ein Tempel bildet nicht nur
ab (den Kosmos, den Gott), sondern wird das Abgebildete im kultischen
Vollzug. Gerade darin hat Heinrich Zimmer das spezifisch Tantrische
gesehen.
TANTRA-KULT UND KUNST
Lange bevor man Mitte der sechziger Jahre von einer Tantra-Kunst sprach,
hat Heinrich Zimmer (1890-1943) die tantrisch-kultische Dimension von
Kunstwerken entdeckt und beschrieben. Der Akt der Meditation ist für
ihn der tantrische Ansatzpunkt. In späteren Jahren, als die historische
Entwicklung der indischen Kunst sein eigentliches Thema wird, verschwindet
die Rolle des Tantrismus fast.
Für J. H. Pott stellt sich zwei Jahrzehnte später erneut die
Frage, wie sich Tantra als Kult zu Kunst verhält. Bei ihm verliert
dabei das künstlerische Moment seine eigenständige Bedeutung.
Zimmer findet das Ziel des zur Identität mit dem Urgrund Brahman
führenden Meditationsweges in der literarischen Flut der
Tantras, die er die letzte große Weltvision
und ein Labyrinth zugleich nennt. (34) In der Identifikation mit dem
Meditationsgegenstand (Gottheit als Bild oder abstrakte Struktur) schwindet
der Subjekt-Objekt-Gegensatz; die kunsthistorische Fragestellung tritt
zurück. Für Zimmer bestehen konsequenterweise zwischen allen,
diesem Ziel dienenden Kultgebilden keine wesentlichen Unterschiede.
Formal völlig Verschiedenes, Pratimas (figurale Kultbilder), Chakras
(Kreiszeichnungen) und Mandalas (Ringzeichnungen), wird in seiner Yantra
(wörtlich Werkzeug, Instrument)-Eigenschaft als wesenhaft identisch
bestimmt. (35)
Das figurale Kultbild (Pratima) ist also nur ein besonderer Typus
einer Gattung von bildhaften Kultapparaten (Yantras). (36) Und
das Figurale ist überhaupt kein notwendiger Bestandteil dieser
Gebilde. (35)
Ein Bildwerk erlangt erst durch das Pranapratistha (= Atemeinsetzung,
Belebung) in der Meditation seine Sinnhaftigkeit. Ansonsten ist es im
materialen Vorhandensein ... bloßes Gerät, das als
solches nach Gebrauch der Vernichtung anheimfallen darf (37),
nur das der Projektion des inneren Schaubildes der göttlichen
Wesenheit (38) dienende Werkzeug.
Für Zimmer, der dem Meditationsvorgang geistig nachspürt,
erlischt das Bildwerk in seiner spezifischen Form in einem ahistorischen,
dem kunsthistorischen Zugriff entzogenen psychischen Aktionsraum. Es
ist folgerichtig, wenn von dieser Position aus geschichtliche Aufgaben
und Bezüge als irrelevant beurteilt werden, durch deren Berücksichtigung
man im Peripheren steckenbleiben muß. (39)
In den frühen, brillant formulierten Aufsätzen verlöschen
im Verhältnis von Tantra und Kunst die Kunstwerke als Rudimente
kultischen Geschehens. Hier gibt es nur Tantra, und Kunst ist ein Ausgangspunkt
dazu. Die Ideologie, daß Bewußtsein und Welt nur zwei Namen
für die selbe Sache,(40) daß Erscheinung und Schein nicht
wesenhaft seien, (41) daß Mantra, Dhyana und Yantra sich ideell
deckten und daher sich auch formal zur Deckung bringen lassen
(42) läßt Zimmer schließlich zum Gläubigen werden.
In seiner intensiven Einfühlung, die die Schwelle zum Gegenstand
zu überwinden trachtet, geht der Fragenkomplex nach der Eigenart
indischer Kunst im tantrisch definierten Umfeld des Objektbereiches
auf.
Die indische Plastik war nur zu einem geringen Teil für die kultische
Meditation vorgesehen. Die stilistische Einheitlichkeit dieser Kultbilder
mit anderen Werken bleibt aber bestehen, so daß die tantrische
Visualisierung als Interpretationsmittel nicht als allgemein gültige
hermeneutische Basis anwendbar ist.
Zimmers Thema ist auch gar nicht die Ableitung formaler Eigenschaften
aus der Funktion der Bildwerke. Vielmehr wird das innere Schauen
als Quelle ikonographischer Eigenschaften einer bestimmten Haltung und
der allgemeinen Erscheinung einer Gottheit ausgegeben. Der nach innen
gerichtete Blick empfange aus der zeitlos-idealen Sphäre die Offenbarung
ewiger Gestalten. Diese stellte der Künstler dar und er (oder andere)
belebten sie wiederum in der Meditation.
Der anfangs (im Rezeptions-Prozeß) ästhetisch-ikonographisch
bedeutsame Aspekt wird verinnerlicht, buchstäblich in das Innere,
Psychische verlegt, aus welchem die Verlebendigung der Bildwerke erfolgt
und in welches das Wesen wieder zurückkehrt, in das Dunkel des
Archetypischen eintaucht, um im nächsten Ritual wieder erweckt
zu werden.
Tantra als religionshistorisches Medium psychologisierender Kunst-Deutung
raubt den Werken zwar die anschauliche Dimension, gibt aber der Rezeption
Tiefe. Mag in der Beschreibung dieser Distanz der phänomenale Bereich
entrückt sein, so überschreitet das Verständnis zugleich
die Schranken dorthin, wobei allerdings die Gefahr der Indien-Schwärmerei
auch bei Zimmer besteht. Man darf nie vergessen, daß man
es großenteils nicht mit indischer, sondern mit zimmerscher Geisteswelt
zu tun hat, urteilt einmal Frauwallner. (43)
Nach dem ersten Zugang durch den Tantrismus hat sich Zimmer Indien durch
seine Mythen erschlossen. (44) Zugleich haben sich in diesen seinen
letzten in den USA verbrachten Jahren seine Augen den Kunstwerken geöffnet.
Waren zuvor aus den Tantras erschließbare kultische Prozesse Grundlage
der Rezeption, eröffnen sich nun die Werke ikonographisch als mythische
Brennpunkte.
Es besteht ein entscheidender Unterschied zur frühen Tantra-Auffassung.
Dort wurde Tantra als Technik der Weltauflösung gesehen. Nun anerkennt
Zimmer die dem Wesen der Tantras entsprechende Hinwendung zur Wirklichkeit.
Der Tantra in seiner theistischen Haltung entwertet praktisch
das abstrakte Ideal des Gestaltlosen Brahman (nirguna brahman)
zugunsten des Brahman-in-den-Gunas (saguna brahman), das heißt
zugunsten des Herrn (Ishvara) des persönlichen Gottes.
(45)
Wenn zu Beginn für Zimmer Tantra sich inhaltlich mit einem Verlust
des Anschaulichen und einem abstrakt-idealen Funktionalismus (alle Pratimas
seien Yantras) verband, so dient ihm in seinen letzten Analysen der
Verweis auf den Tantrismus, um besonders sinnliche Erscheinungsformen
in der Plastik auf einen religiösen Nenner zu bringen.
Solange der Kult im Vordergrund des Interesses von Zimmer stand, war
Tantra generell wirksame Essenz indischer Kultur und auch der Kunst.
Als sich Zimmer der Wirklichkeit, nicht als Illusion, sondern in ihrer
Vielfalt stellte, konnte ein allgemeiner kultischer Prozeß als
Erklärung nicht mehr ausreichen. Die ikonographische Fülle
wurde vom Mythos her entschlüsselt. Das universell wirksam scheinende
Gewebe Tantra (Tantra wörtlich Gewebe) zerreißt
Zimmer schließlich in einzelne voneinander unabhängige Fäden.
In seiner Kritik an Mookerjees Buch Tantra Kunst, in dem 1966 der Terminus
als Leitgedanke das erste Mal selbständig auftritt, verweist v.
Kooij auf das methodisch richtigere Buch von Pott Yoga
and Yantra. (46)
Als Grundanliegen dieser Untersuchung klingt schon im Titel Yoga
and Yantra, their interrelation and their significance for Indian archeology
die Beziehung zwischen Kunst und Yoga an. Yoga wird von ihm dabei nicht
im klassischen Sinn Patanjalis, sondern als das Herz des Tantrismus
aufgefaßt.
Potts Anspruch ist zwiespältig. Einerseits will er herausfinden,
inwiefern a knowledge of the concepts of yoga may prepare the
way to a better understanding of Indian archeology. (47) Andererseits
spricht er davon, daß man diese esoterisch verschlüsselten
Systeme oftmals durch Kunst besser verstehen könne. (48) Schließlich
will er sich auch um eine Aufklärung buddhistischer Ikonographie
auf der Basis grundlegender, aus Texten entnommener Ideen bemühen.
(49) Die Ambivalenz dieses Vorhabens trägt sich in der Untersuchung
weiter. Vor allem eine Frage interessiert in unserem Zusammenhang. Von
welcher Kunst handelt Pott?
Das Problem besteht darin, daß durch die Tatsache, daß im
Tantrismus Yoga als ein Mittel genannt wird, nicht umgekehrt Yoga als
Klärung des Tantrimsus geeignet ist - genausowenig wie andere Mittel,
die im tantrischen System aufgenommen sind.
Darüber hinaus ist es Pott clear enough that no conclusive
results are to be obtained by textual research alone. (50) Er
greift daher auf Kunst nämlich die in der Meditation
benützten Yantras, zurück. These Yantras, as Zimmer
has clearly shown, form the core of Indian art. (51) Diese allerdings
möchte er wiederum aus den Texten verstanden haben - ein hermeneutischer
circulus vitiosus.
Pott arbeitet am Yoga die tantrische Komponente nicht heraus. Er stellt
lediglich den astanga-yoga (d. h. achtgliedrigen) Patanjalis in seiner
hieratischen Abfolge von Yama, Niyama, ¡sana, Pranayama, Pratyahara,
Dhyana und Samadhi, dem in den 7 Chakras Muladhara bis Sahasrara formulierten
mikrokosmologischen System des Kundalini-Yoga gegenüber.
Die Bildwerke entsprechen nach Pott dem geistigen Standort des Sadhakas.
As the worshipper progresses, this image, which is in essence
an object of meditation, becomes simpler and simpler. Linear figures
and suchlike come to serve the purpose.(51)
Schließlich reiche nur noch ein imaginärer Punkt. Hier wird
der Kern der Problematik sichtbar. Wenn sich die normale
Betrachtung eines Bildes von tantrischer Visualisierung durch das Faktum
des meditativen Einsatzes unterscheidet, dann ist dies eine Perzeptions-Kennzeichnung
und keine Qualität der Bildwerke. Wenn weiters die Erscheinungsvielfalt
der Bilder sich bei höher erreichtem Niveau vereinfacht, dann wäre
das beste tantrische Kunstwerk eigenschaftslos, damit nicht
existent.
Darin unterscheidet sich Potts Ansatz von Zimmers: für (den frühen)
Zimmer sind alle Bildwerke, ob figürlich oder geometrisch, Yantras.
Für Pott liegt dazwischen ein qualitativer Sprung. Dieser aber
ist praxisfern postuliert und auch nicht belegbar. Die Höhe,
das Stadium einer Meditation richtet sich in keiner Weise nach der formalen
Beschaffenheit ihres Gegenstandes, sondern hängt von der zunächst
äußeren, dann inneren Beziehung zu diesem den Ishtadevata
vertretenden Bildwerk ab. Dieser Weg, der durchaus in der Terminologie
Patanjalis bezeichnet werden kann, hat mit den Methoden des Kundalini-Yoga
nichts zu tun. Überdies könnte man dem Sublimationsprozeß
auf der objektiven-gegenständlichen Seite das klassische fünffältige
Pancharatra-Konzept von Para, Vyuhu, Vibhava, Antaryamin und Arca zugrunde
legen. Nur Arca ist das Kultbild, während die anderen Stufen bis
zu Para, der höchsten unmanifestierten Form, bedeuten.
Auch wenn Pott darauf pocht, daß die von ihm aufgezeigte maha-yoga-Einheit
one of the highest forms of mysticism ... has found expression
in the most forceful and beautiful way in art (52) , bleibt diese
Kunst genauso unangesprochen und unanschaulich wie beim
frühen Zimmer, von dem er ausgeht.
Als Kunst erscheint jedes Yantra im Sinn von
Meditationsinstrument, sowohl Yantras irn engeren Sinn, Chakra-Symbole,
aber auch die steigende Schlange bei einer mit Kundalini analog zu setzenden
Beschwörung, die Partnerin im Maithuna-Ritual, der beiwohnende
Guru. Solange eine Schlange nur als solche, eine Frau nicht als Shakti
gesehen werden, sind sie keine Yantras und damit keine Kunstwerke.
Daneben erwähnt Pott in diesem Kapitel noch tibetische Mandalas,
Amulette und Lingamkonstellationen, die in ihrer Struktur ebenfalls
Yantras gleichen.
Pott bleibt die angekündigte Antwort auf die Frage der Bedeutung
des tantrischen Yoga für die indische Kunst schuldig. Weder erfährt
die Interpretation indischer Kunst neue Akzente, noch wird nachgewiesen,
daß Tantra zu einer eigenen Kunst-Kategorie geführt hat.
(53)
Die Interpretation indischer Kunst im kultischen Licht tantrischer Konzepte
scheint in dieser Weise keine Deutung der Bildwerke liefern zu können.
Sie führt von den Werken weg in die gestaltlose Sphäre höchster
Meditation. Ein Einzelwerk wie ein Kultbild vermag in seinen formalen
Eigenschaften nicht den Meditationsprozeß in seinen Stadien vom
Grobstofflichen bis zur Auflösung der Identifikation mit dem Urgrund
zu veranschaulichen. Eine Plastik ist lediglich in bezug auf den Betrachter
auf verschiedenen Meditationsebenen wirksam. In der isolierten Analyse
von Werken führt die geistesgeschichtliche Interpretation daher
leicht in subjektivistische Vorstellungen.
Allerdings hat die überraschende Entdeckung einer eigenen Klasse
von Yantras durch Alice Boner (54) eine Brücke geschlagen. Es gibt
nicht nur Yantras als magische Grundrisse, auf denen Pratimas
stehen oder die sie ersetzen, sondern auch Aufriß-Yantras,
die je nach Kult in verschiedenen Kompositionsprinzipien die Erscheinungsweise
der Gottheiten determinieren. Die Brennpunkte (Bindu) könnten dabei
mit den einzelnen Chakras korrespondieren, deren damit angezeigten Bija-Silben
die jeweiligen Gottheiten im Kult bedeuten. (55)
Nur ein kleiner Teil der erhaltenen Skulpturen ist als Kultbilder anzusehen.
Die Unzahl anderer Bildwerke schmückt die Tempel außen. Bei
diesen ist eine kultische Idealisierung durch ihren jeweils spezifischen,
eingenommenen Ort schwieriger.
Das an einem Einzelwerk nicht darstellbare Verhältnis zwischen
Form und Formlosigkeit ist als Bedeutung eines Programmes denkbar, in
der Weise, daß es eine Hierarchie von Fülle des Dargestellten
bis zur höchsten Leere gibt.
Voraussetzung dafür ist die Vorstellung vom Tempel als einheitlichem,
in sich differenziertem Organismus.
DER TEMPEL ALS MAHAPURUSHA
Form und Nichtform
In den indischen Traktaten zur Architektur (Vastu-Vidya, Manasara u.
a.) werden drei Stilgruppen unterschieden: der nördliche Nagara
oder Vishvakarman, der südliche Dravida und der Mischstil Vesara.
Weder diese nach Grundrißtypen vorgenommene Unterscheidung (Nagara:
rechteckig, Vesara: oktogonal, Dravida: rund) noch andere Versuche der
Klassifizierung haben die Forschung befriedigt. Historische, geographische,
ethnische, religiöse oder formale Kriterien vermögen nicht
der Mannigfaltigkeit der Hindu-Tempelarchitektur gerecht zu werden.
Mit dieser Schwierigkeit hat auch die Architektur-Ikonologie, das Deuten
symbolischer Zusammenhänge, zu kämpfen.
Was stellt der Tempel dar?
Diese Frage
ist im Laufe der letzten Jahrzehnte recht verschieden beantwortet worden.
Noch Diez (56) vertrat die These, Tempeltürme seien Götterwägen.
Warum hätte man sonst auch die betürmte Cella vimana
genannt, das in den hl. Büchern mit ratha mehr oder weniger
synonym ist? Die Grundbedeutung von Vimana ist so etwas wie ein Zeppelin
der Alten Welt sagt S. Krishnaswami Ayengar. (57) Der Turm
bezeichne die Herabkunft der Götter zur Erde mittels des fliegenden
Wagens und er bedeute ferner, daß der Gläubige durch Erbauung
des Tempels mittels des Shikhara die himmlischen Regionen erreichen
werde. (58) Ebenso wie für das Shikhara müßte
auch für den Cellaturm der südindischen Tempel, das Vimana,
die Herleitung vom Götterwagen angenommen werden. . . (59)
Nach dieser religiös-funktionalistischen Auffassung haben sich
zwei weitere Interpretationen durchgesetzt. Der Tempelturm (im Norden)
und die Tempelstadt (im Süden) seien Abbilder des Kosmos, worin
auch die Zimmersche Deutung des Tempels als Mandala eingeschlossen werden
kann. (60) Wie aus den Texten sichtbar wird, ist der Tempel darüber
hinaus nicht nur Wohnstatt der Gottheit, auch als Berg Meru oder Kailasha
angesprochen, sondern die Gottheit selbst, deren Leib. Seit den sechziger
Jahren besteht zunehmend die Tendenz einer esoterischen Deutung, die
sich auf das Verhältnis von Grundrissen und Yantras und auf die
Veranschaulichung des Kundalini-Yoga stützen. Voraussetzung dafür
bilden die beiden anderen Deutungen, die sich nicht widersprechen, sondern
gegenseitig ergänzen.
Bei der Besprechung der süd- oder nordindischen Tradition tendieren
die Forscher dazu, die Gleichsetzung des Tempels mit dem Kosmos bzw.
dem Leib der Gottheit nur jeweils für eine (ihre) Tradition
anzunehmen. Die Identität des Shikhara, des Cellaturmes im Norden,
mit dem kosmischen Menschen, dem Purusha oder Prajapati, wurde bereits
in den zwanziger Jahren gesehen. Daß die südindische Tempelstadt
nicht nur Abbild des Kosmos ist, sondern ebenso Abbild des Maha-Purusha,
scheint erst in jüngster Zeit bekannt geworden zu sein (s. u.).
Wenn auch die stilistische Ordnung der Vielzahl indischer Tempeltypen
ein schwieriges Problem darstellt, so läßt sich doch in der
Anwendung der Symbolik mit dem Nord-Süd-Kontrast eine polare Auffassung
aufstellen. Diese wird sichtbar im Verhältnis von Baugliedern und
Brahman. Dieses ist vor anderen Erklärungen zumindest anzudeuten.
Die indischen Religionen der Buddhisten, Hindus und Jainas sind in ihrer
Wirklichkeitsfeindlichkeit und dem letzten Ziel der Weltflucht vergleichbar,
wenn nicht identisch. Der Weg führt aus der Realität der Dinge
zurück über viele Stufen an einen eigenschaftslosen Ursprung.
Umgekehrt wird dieser Ursprung, bei den Hindus Brahman genannt, als
Ausgangspunkt der Schöpfung des Kosmos verstanden. Brahman selbst
ist die Leere, das Nichts. Alle Gottheiten bis zu den Dämonen sind
aus diesem entstanden und sind darstellbar. Brahman selbst, durch seine
unbeschreibbare Eigenschaftslosigkeit, ist wohl der philosophischen
Spekulation zugänglich, wird aber nicht dargestellt oder verehrt.
Es ist der Grund, vor welchem auch die höchsten Götter sichtbar
werden.
Das, was die Wirklichkeit konstituiert, was durch die Sinne wahrgenommen
werden kann, verlischt dort, und so wird das höchste Bewußtsein,
Nirvikalpa-Samadhi, als formloses Aufgehen im Nichts, in welchem sich
der Mensch mit dem Unendlichen trifft, beschrieben. Im Vishnudharmottaram
heißt es: The best position of the (supreme) soul is to
be imagined without form. (61)
Das Zentrum eines Tempels, Garbhagrha (= Schoß-Raum), entspricht
diesem Ziel, es ist ein schmuckloser, meist viereckiger Raum und birgt
das Kultbild, über welches der Gläubige den Weg
zum Grund finden mag. Erst durch den Ritus wird der Körper der
Gottheit, das Bild oder der phallusartige Lingam beseelt, und erst dann
findet der Kontakt statt.
Es kann im indischen Tempel als im Kern raumlosem Gebilde nicht um Um-,
Aus-, Auf- oder Überbau, ganz allgemein um Raumdarbietung für
etwas, das soziale Geschehen in profaner oder sakraler Weise, gehen,
wie in der westlichen Architektur, sondern genau um das Ausschließen
dieser Faktoren. Entscheidend ist das Eindringen des Einzelnen durch
das sich massiv-abgrenzend und beherrschend gebende Erscheinen der geheiligten
Welt im Auflösen und Numinos-Dunklem.
Im Bild der Gottheit tritt man im Zentrum, die Stufen äußerer
Wirklichkeit hinter sich lassend, mit dem Göttlichen in Kontakt.
Hier beginnt der eigentliche Weg über die Stufen zum Höchsten.
Die Cella kann beides sein, Zentrum sie umgebender, im Grundriß
sichtbarer Welten und Basis einer Aufwärtsentwicklung.
Dem
südindischen Tempel liegen Grundrißtypen zugrunde, die die
Hierarchie der Welten veranschaulichen. Im Sthandila-Mandala liegt im
Zentrum Brahma, und ringförmig darum liegen die Welten der Götter,
der Menschen, schließlich der Geister und Dämonen. In
einer typischen südindischen Anlage wird der Tempel nicht durch
eine Umfassungsmauer von dem Wohn- und Geschäftsbereich seiner
Umgebung getrennt, sondern es reihen sich mehrere Straßenringe
um die Cella. Die innerste Ringstraße wird an beiden Seiten von
Nebenschreinen und Gebetshallen gesäumt. Im zweiten Ring liegen
die Wohnungen der Priester ... Mit jedem weiteren Ring nimmt die Heiligkeit
des Bezirkes ab, in den äußeren Tempelstraßen herrscht
bereits ein normales Geschäftsleben. (62) Die den Eindruck
südindischer Tempel bestimmenden Tortürme (Gopuras) werden
nach dem 12. Jahrhundert in den äußeren Ringmauern immer
höher, je weiter sie vom kaum sichtbaren Zentrum entfernt sind.
Während im Nagara-Stil der Shikhara als Weltenberg den kosmologischen
Bezug in sich aufnimmt, ist im Süden die Gestaltungsabnahme gegen
Brahman hin wörtlich genommen. Der Turm über der Cella ist
klein, schmucklos, aber vergoldet. Die Gopuras außen sind am höchsten
und reichsten geschmückt.
Dem indischen Denken erscheint die Gestaltungsfülle der Wirklichkeit
als Emanation des Leeren. Die architektonisch-künstlerische Veranschaulichung
dieser Spannung erfordert den meisten Aufwand für das vom Göttlichen
am weitest Entfernte, für das im religiösen Sinn Unwirkliche,
für die durch ihren Reichtum überwältigende Maya.
Das Zentrum mag auch ein kruder Monolith, ein Lingam, sein oder auch
buchstäblich nichts, wie die fünf Jyotir-Lingams in Südindien,von
denen jeder eines der Elemente vertritt. (63) Die Tatsache, daß
für den geistig höchsten Bereich am wenigsten Aufwand und
für das Scheinhafte am meisten investiert wird, erscheint nur dem
Abendländer als paradox: What are we to think of ... the
apparently anticlimatic way in which successive gopuras invariably grows
smaller as one approaches the centre of the temple? (64)
Daß diese Auffassung grundsätzlich nicht nur für Hindus,
sondern auch für Buddhisten selbstverständlich ist, sei nur
anhand eines berühmten Beispieles aufgezeigt.
Das
größte und bedeutendste Bauwerk Indonesiens, der Borobudur,
ist ebenso nach der typischen kosmogonischen Dreiteilung angelegt. Im
Umschreiten und im Aufstieg auf den stupahaften Riesenbau sollte man
nach und nach dem völligen Nicht-Sein, dem Nirvana, das dem Brahman
der Hindus in seiner Eigenschaftslosigkeit gleicht, näherkommen,
über Kamadhatu (Welt der Begierden) und Rupadhatu (Welt der Namen
und Formen) liegt Arupadhatu (formfreie Welt). Arupadhatu entbehrt aller
Verzierungen und ist damit der Leere des Absoluten näher, wenn
auch in diesem Fall räumlich höher. Analoges werden wir im
nördlichen Tempel betrachten.
Durch die vergleichsweise geringe Formdifferenzierung hat die ikonologische
Forschung bei Stupas konkrete Ansatzpunkte von den einfachen Symbolen
des krönenden Ehrenschirmes, der dem Buddha als Chakravartin (Weltenherrscher)
zukommt, und den ebenfalls Herrschern gebührenden, aus der Palastarchitektur
transponierten Toranas (Toren) bis zu zahlenmäßig fixierten
nachweisbaren Kategorien im Weltsystem. (65)
Es wird hier schon sichtbar, wie Architektur die Spannung zwischen Form
(Sakara) und Nichtform (Nirakara) zu umfassen imstande ist, jenes Paradoxon,
das angesichts von Kultbildern unlösbar ist. Die Erbauung eines
Gebäudes und vor allem des Tempels vollzieht sich als Analogie
der Erschaffung der Welt aus dem Nichts. The erection of a house
is ... an imitation of the creation of the world. (66)
Um diese Schöpfung analog durchführen zu können, wird
nicht nur die Weltachse errichtet, sondern alle nötigen Bestandteile
dem jeweiligen, für die Bauherren gültigen System eingebildet.
Ayadi Shadvarga
Es sind nicht nur astrologische Rhythmen, sondern auch unmittelbare
Umstände zu berücksichtigen. So verheißt das Bhubanapradipa
(67) Glück bei zunehmenden Mond, Mittwoch bis Freitag, in den Sternzeichen
Stier, Löwe, Skorpion und Wassermann. Daneben sollte kein Wind
wehen, keine Kuh im Norden zu sehen oder zu hören sein; quakt ein
Frosch, dann wird das Haus nicht fertig gedeckt werden können usw.
Bei der Beurteilung des Baugrundes werden die Form des Platzes, die
Farbe, der Geruch, die Beschaffenheit, der Geschmack des Bodens berücksichtigt
und nach den vier Kasten eingeteilt. Das Erdreich des Brahmanen ist
weiß, es riecht nach geklärter Butter, das des Kshatriya
rot und bitter, das des Vaishya gelb und sauer, das des Shudra schwarz,
und es schmeckt nach Wein. (68)
Der eigentliche Konstruktionsvorgang setzt die Abstimmung der Maße
im weitesten Sinn und den Grundplan voraus. In der Berechnung der Proportionen
und Maße mit Hilfe von sechs Formeln (Ayadishadvarga) wird sowohl
die Irrationalität der systematischen Kategorien als auch die magische
Beziehungsfreude sichtbar. Die Inhalte der sechs Maße wechseln
in den verschiedenen Traditionen, immer handelt es sich um räumliche
und zeitliche Parameter. Allen Texten gemeinsam sind Yoni, (Bandha),
Aya, Rksha (Nakshatra), Vara und Tithi. (69)
Ausgangspunkt für die Berechnungen ist meist die geplante Grundfläche,
die mit einer nicht begründbaren Zahl multipliziert und durch einen
auf die gesuchte Eigenschaft beziehbaren Divisor geteilt wird. Da acht
Himmelsrichtungen angenommen werden, wird die Grundfläche bei der
Berechnung der Ausrichtung des Gebäudes (Yoni), vor allem in bezug
auf das Portal, durch acht dividiert; bei Aya (Tierkreis) ist der Divisor
12, bei Rksha bzw. Nakshatra (Planetenkonstellationen) 27, bei Vara
(Wochentage) 7, bei Tithi (Mondtage) 30. Darüber hinaus gibt es
Formeln für die Kaste des Bauherrn, das Alter (!) des Bauwerkes
und den Grund für dessen Zerstörung. Die Formeln müssen
alle aufeinander abgestimmt sein, wobei der entscheidende Faktor in
der Irrationalität des gewünschten Resultates liegt; es kommt
nämlich auf den Rest einer Rechenoperation an.
Dazu ein Beispiel:
Gegeben sei die sich aus der Grundfläche (G) ergebende Zahl 11
(R = Rest).
Yoni: G x 3/ 8 - R = 11 x 3/8 -R 33 :
8 = 4 1 REST
Yoni Nummer 1 ist Dhvaja, d. h. die beste östliche Ausrichtung
des Portals.
Aya: G x 8/ 12 - R = 11 x 8 / 12 - R 88
: 12 = 7 4 REST
Für Aya ergibt sich das vierte Tierkreiszeichen. Nach derselben
Methode gilt für Rksha 7, Vara 4, Tithi 28.
Eine Begründung für die in ihrer Gesamtheit schwierig aufeinander
abstimmbaren Rechenoperationen wird nie gegeben. Mit dergleichen schwer
einsehbaren Klassifizierungen hat man immer wieder zu rechnen. So leiten
sich etwa die 21 Pfosten bestimmter Stupas von der 21-Zahl der Sonne
ab: 12 Monate + 5 Jahreszeiten + 3 Welten (Erde, Luft, Himmel) + 1 Sonne
am Himmel. (70)
Entscheidend ist die Einsicht, daß auch für den Kunsthistoriker
unwesentliche, da nicht sichtbare Eigenschaften, wie der Baubeginn,
die Kaste des Bauherrn und das errechnete Alter des Tempels in die Maße
eingehen, aber eben nicht direkt durch klare Zahlenverhältnisse,
sondern unsichtbar durch nie rekonstruierbare Divisionsreste. Analoges
gilt auch für die Mauern, die nicht den idealen Linien des Grundrisses
folgen dürfen, sondern leicht versetzt sind. Alle klare, perfekt
erscheinende Proportionierung wurzelt in einer mythischen Infragestellung
der Realität.
Mahapurusha und Vastupurusha
Im Shad-Varga-Prinzip unterscheiden sich die verschiedenen Stile nicht,
mögen sich auch die Formeln der Berechnung wandeln. In der architektonischen
Verbildlichung des Brahman ist der Unterschied offenkundig. In den (späteren)
südindischen Tempelstädten ist Brahman das unscheinbare, niedere
Zentrum. Beim nordindischen Shikhara liegen die Welten übereinander,
dem Brahman entspricht der höchste Punkt. The temple is a
hierarchical structure in the likeness of the Universe which contains
in its vertical elevation an image of the three worlds, bhu, bhuvar,
svar. The foundation anchored in the ground is bhu, the Earth, the vertical
body of the temple is bhuvar, the Ether or Middle Space, and the towering
Shikhara represents svar or Heaven ... Thus the temple is an image,
not only of the spiritual worlds, but of all manifestations, from the
dark underworlds of subconscious life through the twilight world of
man to the bright heavenly worlds of the devas. (71)
Die Hierarchie
der Welten, die im südindischen Tempel (Abb. links) sich um das
Zentum legt, baut sich im Shikhara vertikal auf. Beide Typen besitzen
eine zentrale Achse, den Merudanda, die axis mundi, der Shikhara im
Zentrum, der Tempelbezirk im Grundriß vom Opferaltar bis zum Kultbild.
Einer in allen Kulturkreisen nachweisbaren Tradition zufolge wird der
Kosmos als Mikrokosmos entsprechender Makrokosmos verstanden. Die Struktur
des Tempels wird als Großer Mensch (= Mahupurusha)
aufgefaßt. Die zentrale Tempelachse entspricht der Wirbelsäule.
Das zugrundeliegende Darstellungsprinzip ist die Großform.
(72)
Die bereits im Rigveda (X/90) erwähnte Vorstellung des Kosmos als
Mahapurusha ist ausgeprägt erst in die Architektur-Symbolik des
Hinduismus übernommen worden.
In den Architekturtexten wird der Tempel in seinen Teilen mit Begriffen
der menschlichen Anatomie und seines Organismus benannt. Es ist zu vermuten,
daß auch dort, wo dies nicht ausdrücklich der Fall ist, dieselbe
Symbolik zugrunde liegt. (73) Es mag auch sein, daß wie im Agni-Purana
(10 2/17 ff.) ein Shiva-Tempel mit verschiedenen, mit Shiva in einem
Zusammenhang stehenden Gegenständen identifiziert wird. Weiters
besteht die Möglichkeit, daß verschiedene Tempel als Körperteile
einer Gottheit angesehen werden, wie bei den Shakta-Pithas. (74) Umgekehrt
wird der Körper als Tempel aufgefaßt. Die Schöpfung
als eine Desintegration der ursprünglichen Einheit wird im System
der Chakras ausgeführt. Nur im Sahasrara-Padma wohnt Gott bei sich
selbst, in der Diktion der Mantra-Vidya sind dort alle Mantras potentiell
(bzw. 20mal) versammelt. Die Schöpfung wird daher oft als Zerstückelung
der Gottheit formuliert. Als Prajapati die Welt schuf, lösten
sich seine Glieder voneinander und die Götter setzten sie wieder
zusammen ... Durch das Opfer stellt man Prajapati wieder her . . .
(71) Deshalb kann im Opfer eine Gleichsetzung physiologischer Funktionen
und Organe mit rituellen Gegenständen stattfinden. (76) Diese
Homologisierung der physiologischen Organe und Funktionen mit den kosmischen
Regionen und Rhythmen ist eine panindische Erscheinung. Ihre Spur findet
man schon in den Veden, doch erst im Tantrismus vermochte sie die Kohärenz
eines Systems zu erreichen. (77) Wie das jedoch im Tempelbau anschaulich
wird, ist die zentrale Frage.
Jedenfalls folgt die tantrische Díksha (Einweihung) derselben
Struktur wie die Errichtung eines Tempels, nämlich auf der Basis
eines Vastu-Mandala, das dem Vastu-Purusha-Mandala gleicht. (78)
In allen Variationen herrscht der Anthropomorphismus vor. Seit den zwanziger
Jahren hat man begonnen, sich für die diesbezüglichen Texte
zu interessieren. (79) Zu den schon bekannten, wie dem erwähnten
Agni Purana, dem Ishanashivagurudevapaddhati, Hayashirsha Pancharatra,
Shilparatna u. a., werden sicher weitere Texte entdeckt werden, die
die allgemeine Gültigkeit dieser Vorstellung immer selbstverständlicher
werden lassen. Ein in der südindischen Tradition stehender Text
ist von H. v. Stietencron 1972 veröffentlicht worden. Hier folgen
einige wichtige Auszüge. (80)
Die Füße sind das Gopuram, der Anus ist die Plattform für
die Opferspeisen, das Scrotum ist das Reittier Nandin, Shivas Stier,
der Penis ist die Fahnenstange, der Bauch ist das Glockenhaus, der Nabel
ist die Glocke, die Brust ist die Tempelhalle, der Hals ist der Vorraum
zur Cella, die Schultern sind die inneren Umfassungsmauern, die Hände
sind die äußeren Umfassungsmauern, die Ohren sind die Dachregion,
der Mund (Gesicht) ist die Cella, die Augen sind die beiden Türpfosten
zur Cella, die Schädeldecke ist die Kuppel des Tempelturmes, die
Seele (Atman) ist das Kultbild, die Knochen sind das Mauerwerk, die
Nadis sind die Pfeiler, das Fleisch ist der Verputz usw.
Zunächst ist der Tempel Wohnstatt des Gottes. Dies ist zugleich
der Kosmos, der wiederum den Leib der Gottheit bildet. Die verschiedenen
Bedeutungen ergänzen einander. Schließlich ist der Tempel
dann weniger architektonisches Bauwerk als Bild, Abbild, Plastik. Darauf
wird immer wiederhingewiesen. Es sind Gebilde ohne Innenräume.
Wie in der Großform sind die Plastiken (einschließlich
der Ornamente) nicht dem Bau hinzugefügt und angeheftet, sondern
sie konstituieren ihn.
Dem Eingeweihten wird der Tempel ein Bild der Gottheit, eine Überhöhung
des Kultbildes in der Cella, das ja die Seele ist. (81) Damit dieses
Abbild wirken kann, damit es beseelt wird, muß auch dieser Aufbau
einen entsprechenden Grundriß haben.
Städte, Wohnhäuser, Tempel, Stupas, Altäre, Bühnen,
jede Art des Bauens bedarf des ihr angemessenen Grundrisses. Die Gestalt
des Grundrisses gibt Auskunft über die Bedeutung der jeweiligen
Anlage. Ein Abgehen von der perfekten Form des Quadrates läßt
Rückschlüsse auf die Bewohner zu. Z. B. im Grundriß
einer Kheta-Stadt an einem Fluß konvergieren die Straßen
in einem Platz am südlichen Ausgang. (82) In dieser Stadt dürfen
keine Angehörigen der höheren Kasten oder Fürsten wohnen,
sie ist den Shudras vorbehalten.
Demselben Prinzip folgen auch die Grundrisse des altindischen Stadthauses.
Das Haus eines Shudras soll auf einem Rechteck stehen, dessen Länge
1 1/4 der Breite ausmacht; das eines Vaishya l/6, das eines Kshatriya
l 1/8. Je höher die Kaste, desto näher kommt sie dem Quadrat,
das in seiner Vollkommenheit den Brahmanen entspricht. Nur selten werden
Garbhagirhas nicht über einem Quadrat angelegt, wie bei Shakta-Pithas
(s. u.).
Wird ein Bau errichtet, muß zunächst dieses Quadrat auf dem
ausgewählten Bauplatz nach den Kardinalpunkten ausgerichtet, abgesteckt
werden. Jedem Pada, jedem Teil des Quadrates entspricht ein Teil des
Purusha, das von einer Gottheit beherrscht, besetzt wird. Brahma bildet
immer die Mitte.
Das Verhältnis
des Tempels als Mahapurusha, als kosmischer Leib, und des Grundes als
Vastupurusha wird in den Texten nicht besprochen. In Interpretationen
werden die beiden oft miteinander identifiziert, Vastupurusha als den
Bau vorwegnehmender Plan gedeutet. (83) Dabei wird die Bedeutung des
Vastupurusha durch den Vergleich mit anderen Möglichkeiten, eine
Basis für den Bau zu schaffen, klar.
In den Shilpa-Shastras aus Orissa wird der Grund anstatt vom Vastupurusha
von der den Bau umkreisenden großen Schlange (Naga) gebildet.
Die Schlange bewegt sich im Jahreskreis jeden Tag um einen Grad im Uhrzeigersinn,
und ihr Kopf ist jeweils drei Monate einer Himmelsrichtung zugewendet
(84). Der Glückspfosten (Subhastambha) soll dann dieser Schlange
auf Herz oder Magen gesetzt werden - danach richtet sich auch die Orientierung
des Einganges.
Diese Schlange Ananta oder Shesha liegt in ihrer ewigen Bewegung dem
Kosmos zugrunde und bildet die Ruhestatt Vishnus zwischen den Kalpas,
wenn nichts mehr und noch nichts existiert. Kramrisch vergleicht damit
den Caravastu, den ebenfalls als kreisend gedachten Vastupurusha, der
allerdings keinem Tempel zugrunde liegen darf.
Der Grundplan bedeutet daher den Bereich des Ungeordneten, das auch
den Mythen entsprechend asura- (dämonischen-) Charakter hat und
von den Göttern gebannt wird. Neben der Naga-Tradition gibt es
zwei andere, so die südindische, in der der Vastupurusha ein ziegenköpfiger,
buckliger Mann mit dem Kopf nach unten ist (was auf Opferriten zurückgeht,
85) und der nordindische, wo der Purusha gebannt am Rücken liegt.
(86)
Im Grundplan findet sich die Voraussetzung einer Reintegration für
den Mahapurusha, den zerstückelten Prajapati des Weltbeginnes,
und keineswegs wird diese hier bereits vorweggenommen. Der Tempelleib
ist nicht der erhobene Purusha des Grundplanes, sondern die auf der
Basis einer Bannung des Chthonischen vollzogene Reintegration und -
das ist das Paradoxe - Rückführung in das Geordnet-Formlose
am Beginn in der Spitze des Tempels.
Die Schöpfung der Welt der Formen aus dem Zentrum der Spitze des
Turmes führt über die verschiedenen Manifestations-(zugleich
Bewußtseins-)Ebenen bis zur Mannigfaltigkeit aller Erscheinungen
herunter, die ihrerseits auf der Unterwelt des gebannten
Chaos ruht, auf welcher nun umgekehrt der Architekt im Tempelbau aufbaut,
um die Schöpfung an ihren Beginn zurückzuverfolgen. Die Gegenläufigkeit
der Schöpfungen (von oben und von unten) findet ihre Analogie in
der symbolischen Befruchtung der Erde (Garbhadhana) vor der Grundsteinlegung
(Adharashila) durch einen geweihten, mit Edelsteinen und anderen Beigaben
gefüllten Korb, dem ein anderer in der Spitze des Shikhara entspricht.
Würde der Tempelleib nur der aufgerichtete Grundplan sein, wie
durchgehend behauptet wird, wäre die Ikonographie des Vastupurusha
unverständlich. Hier liegt das Zentrum mit Brahma in der Körpermitte
und nimmt keinen Bezug auf die symbolische Hierarchie der menschlichen
Gestalt - d. h., der Kopf ist nicht mit einer höheren Gottheit
besetzt. Im Tempel aber liegt der Kopf selbstverständlich am höchsten,
und er wird niemals mit (dem im hinduistischen Pantheon untergeordneten
Schöpfergott) Brahma , sondern mit dem Brahman vertretenden spezifischen
Gott des Tempels identifiziert. Desgleichen erscheinen die Pada-devatas
in der lkonographie des Tempels kaum je.
So wichtig die Errichtung des Vastupurusha im magischen Sinn ist, für
die eigentlich architektonische Gestaltung des Tempels hat sie kaum
Bedeutung, wenn man von der kultischen Orientierung des Cellaportals
absieht, ja, die eigentliche Wirksamkeit oder Wirkkraft des Tempels
hängt vom Vastupurusha gar nicht ab, sondern wird durch die Yantras
erzielt.
Das Vastupurusha-Mandala erfährt seine Differenzierung mit Hilfe
des Zeit-Kreises. Volwahsen hat verschiedene Möglichkeiten der
Grundrißentwicklung vorgeführt. (87) Es gibt Beispiele, in
denen das Ausgangs-Quadrat völlig überwuchert wird, wie im
Keshava-Tempel von Somnathpur. Hier wird das Quadrat um 45 Grad gedreht
und einem Kreis eingeschrieben, der wiederum den Rahmen für das
nächstkleinere Quadrat umreißt. Die Sternform der Plattformen
und des äußeren Umrisses entsteht durch Drehung von Quadraten
um jeweils 22 Grad 30 Minuten.
Yantras
Otto Fischer hat 1928 einen Zusammenhang zwischen geometrisch-mathematischer
Plangestaltung und einer magisch-symbolischen Bedeutung vermutet. Sie
steht im engsten Zusammenhang mit der als Tantrismus bezeichneten Richtung
der indischen Religiosität ... so wurde nun neben der graphischen
und malerischen Darstellung jener Mantras (er meint damit Yantras)
die Baukunst selber in den Dienst ihrer Heilswirkung gestellt
und im symbolischen Bauwerk das Geheimnis und die Kraft der geistigen
Segenswelten architektonisch-plastisch gestaltet, um eine zauberhafte
Verbindung des Diesseitigen mit dem Jenseitigen sinnlich-übersinnlich
zu vollziehen und ewig zu machen. (88)
Obwohl Fischer hellsichtig die Rolle des Tantrismus sieht, der im
sichtbaren Bilde den unsichtbaren Sinn zu ahnen gibt, (89) hält
er offenbar schon die geometrische Grundlegung für tantrisch. Zu
diesem Zeitpunkt wußte man noch nicht, daß jeder Tempel
in prinzipiell ähnlicher Weise seinen Grundriß erhält.
Dem Grundrißraster vergleichbar ist der Raster für den Aufriß.
Die Maßeinheiten mögen differieren und die Padas nicht von
Gottheiten bewohnt sein, aber in der formalen Anschauung ergeben sich
damit keine prinzipiellen Unterschiede. (90) Aus dem Shilpa Prakasha
ist ersichtlich, daß Analoges auch für Plastiken gilt. (91)
Wie aus den verschiedenen Palmblatt-Manuskripten zu sehen ist, werden
als Grund der Tempelkörper nicht das Vastupurusha-Mandala und nicht
der darin eingesetzte Proportionskanon angenommen, sondern Yantras.
In deren Aufbau werden wiederum neue Gesichtspunkte einbezogen, und
formal entfernen sie sich noch weiter vom Vastupurusha-Mandala. Vor
allem die Forschungen Alice Boners, die wichtige Manuskripte, das Shilpa
Prakasha und mehrere Texte zum Surya-Tempel in Konarak, ediert und übersetzt
hat, haben neue Einsichten gebracht.
Auf den vieldeutigen Begriff des Yantra muß dabei für unseren
Zusammenhang noch einmal hingewiesen werden. Im Shilpa Prakasha (I,
158-160) wird ein Bhairava-Yantra erklärt, das die Proportionen
definiert. Im zweiten Prakasha (II, 69-72) findet sich ein anderes Bhairava-Yantra,
das als Grundriß eines Tempels dienen soll. This best temple
has to be built in accordance with the form of this yantra. (92)
Die Form dieses Yantra bezieht sich jedoch nicht auf eine
formale Erscheinung des Tempels, sondern auf die Form, aufgrund deren
er wirken kann. Yantra als Form des Mantra ist das sichtbare
Zauberwort, der Gehalt, durch den es wirkt. Yantra als letzte Schicht
nach Purusha-Mandala und raumzeitlicher Proportion (Quadrat + Kreis)
ist nur in diesem Sinn zu verstehen.
Nicht immer wird klar, wie ein Grundriß mit einem Yantra zusammenhängt.
Unmittelbar nach der Beschreibung eines bestimmten Tempeltypus (I, 68-69)
setzt der Autor des Shilpa Prakasha mit der Konstruktion des Yogini-Yantra
fort (I, 90-100). Dieses established in the central shrine (garbhagriha)
is of great power. This yantra is made in the middle of the Devi temple
according to (the dimension of) the shrine. (I, 99-100) Das Yantra
betrifft manchmal eine Plastik, dann ein Kultbild, hier die Cella, oder
einen ganzen Tempel.
Der Grundriß zeigt eine Besonderheit (A) auf. Wie schon gezeigt
wurde, ist das Abgehen
vom Quadrat für eine niedere Kaste charakteristisch.
Wird die Cella eines Tempels nicht quadratisch angelegt, müssen
besondere Gründe maßgebend sein. Schon Debala Mitra hat darauf
hingewiesen, daß rechteckige Anlagen Shakti-Tempel seien. (93)
Boner zitiert einen weiterführenden Hinweis: The Shilpasarini,
in its chapter on the Vastu-purusha offers the following information.
Shaivas, Vaishnavas, Sauras, Ganapatyas, consider the Vastu-purusha
as the Lord of the building site, but the Shaktas do not consider him
as such. (94)
Worin besteht der Unterschied zwischen der Konzeption Vastupurusha und
jener eines Shakti-Tempels? Der Shakti als dynamischem Prinzip der kosmischen
Evolution entspricht nicht der quadratische Grundriß. Aus dem
Quadrat entsteht in mehreren
Schritten ein Rechteck mit zwei zentralen Quadraten, die das Garbhagriha
ausmachen, während das andere die Mauern bis außen ausfüllt:
In the middle of this new unit (D) lies a core of two squares.
Two represents the female principle, which now works from within . .
. (95) The reason why all Devi temples should be based on
a rectangular groundplan, if we understand the matter rightly, is because
they represent the creative expanding forces, and therefore could not
logically be represented by a square, which is an eminently static form.
(95)
Nachdem im Shakti-Tempel eine Dynamik im Grundriß angelegt ist,
ist die der Kundalini angeglichene vertikale Bevrußtseinsrichtung
(s. u.) undenkbar. Dem Khakara-Shakti-Tempel fehlt der Amalaka. Statt
dessen findet sich der Yupa, ein aufgerichteter Stein, oder der Amritkalasha
(s. u.) allein.
Seit den Veden ist der Purusha mit der Idee des Yupa, des Opferpfahles,
assoziiert worden. Bedeutet das, daß aus dem Yupa, dem Purusha,
die Shakti als Prakriti im Tempel Wirklichkeit schafft? Oder sollte
die Aufstellung von Yupa oder Amritkalasha trotz der unperfekten rechteckigen
Cella-Form den Anspruch der höchsten Gottheit, als die die Göttin
den Shaktas natürlich galt, aufrechterhalten? Hängt der rechteckige
Grundriß auch hier mit einer niederen Stufe der sozialen Hierarchie
zusammen? Das tantrische System stand ja ausdrücklich allen sozialen
Schichten offen, und Tantrikas verehrten demonstrativ Frauen niederer
Kasten, wie die Wäschermädchen, als ihre Shaktis.
Zu bedenken ist ferner, daß die Shakta-Pithas als Teile der zerstückelten,
zur Erde gefallenen Shakti Shivas galten. Der Yoni in Kamarupa (= Lustform,
Assam) bzw. im Mount Nila (nach der Kalikapurana, 96), kam dabei eine
besondere Rolle zu. Beane sieht diesen Mythos als Analogie zur Purusha-Prajapati-Symbolik
der Selbstopferung. (97) Ob diese Auffassung mit den rechteckigen Cellen
zusammenhängt - die vielen Sekundär-Rechtecke bilden zusammen
das Urquadrat -, ist schwer nachzuprüfen. Die in den Texten angeführten
Orte sind oft nicht identifizierbar und wechseln auch.
Rechteckige Garbhagrihas finden sich auch bei Tempeln mit einem liegenden
Kultbild (shayana) oder bei mehreren Kultbildern nebeneinander. Wie
die rechteckige Cella im Kailashanatha-Tempel in Kanci mit dem kleinen
Linga zu deuten ist, muß der Spekulation offenbleiben - vielleicht
hängt dies mit der noch nicht beobachteten Tatsache der 64-Zahl
der Kapellen zusammen. (98)
Weitere von Boner und Sharma veröffentlichte Texte haben gezeigt,
daß nicht nur Shakti-Tempel in ihrer Wirksamkeit auf Yantras gründen.
Die Pläne des berühmten Sonnentempels von Konarak offenbaren
die entscheidende Rolle der Yantras weniger eingeschränkt.
Das Wissen um ein spezifisches Yantra bei einem bestimmten Bau befähigt
wohl, den Bau geistig zu transponieren. Wo dieses Wissen aber nicht
gegeben ist, kann darüber gar kein Urteil gefällt werden,
aus dem material-formalen Bestand ist nicht zu ersehen, ob ein Yantra
damit verknüpft worden ist.
Die Manuskripte für den Surya-Tempel von Konarak zeigen, daß
grundsätzlich jedem Bauteil ein Yantra zugrunde gelegt wurde. Das
Yantra für die Cella ist räumlich genau auf sie bezogen. Dieses
Saurabhadramandala wird auf 6 x 6 Quadraten gezeichnet. In der Halbierung
der äußeren Quadrate werden die Proportionen für das
Bhupura gefunden. Im Zentrum liegt der Saura-Bindu, im achtblättrigen
Lotoskranz werden die Adityas, im zwölfblättrigen die Raviganas
(Monatsgottheiten) angerufen. In den Hexagrammen regieren Aruna (Osten),
Pushan (Westen), Mitra (Süden) und Haritpati (Norden). Dieses Surya-Mandala
wird mit Reis in fünf Farben gezeichnet. Der äußere
Lotoskranz berührt die Innenwände der Cella.
Das Saurapanchabia-Mandala
für den Jagamohan wird über 5 x 5 Quadraten angelegt. Damit
ist es weniger wichtig als das 36 Felder umfassende vorherige, auch
wenn es größer ist. In ihm wird der Sonnengott mit vier weiteren
Gottheiten verehrt: Ganesha und Rudra an der Südseite, Ambika und
Vishnu im Norden in den kleinen Lotossen. In den kleinen Eckkreisen
werden jeweils drei Surya-Shaktis verehrt. In den paarweisen Hexagrammen
werden die Dikpalas eingesetzt.
Dieses Yantra paßt genau in den Mukhashala, nur die vier Portale
ragen heraus. Die vier Lotosse sitzen genau an den Stellen der das Dach
tragenden Pfeiler.
In beiden Yantras ist Surya die zentrale Gottheit. Wird aber Surya allein
verehrt, so ist ein weiteres Yantra nötig, in welchem sich auch
die Planetensymbole
finden. Unter dem Sockel des Kultbildes muß wiederum ein anderes
Yantra gezeichnet werden. Dieses Pindi-Yantra ist dem Saurabhadra-mandala
sehr ähnlich. Anstatt der Schutzgottheiten in den vier Himmelsrichtungen
wird Mahabhaskara von den Shaktis Maya und Chaya flankiert.
Die einzelnen Räder des Surya-Tempels sind paarweise jeweils einem
Tierkreiszeichen zugewiesen, von Mesha (Widder) bis Mína (Fische).
Der diesbezügliche Text (99) beginnt allerdings bei Makara (Steinbock)
und endet bei Dhanu (Schütze). Das hängt wahrscheinlich mit
dem Lichtfest am Medium Coeli des Tierkreiszeichens zusammen. An diesem
höchsten Punkt im Tierkreis (Wintersolstizie) überwindet das
Licht nach der längsten Nacht die Dunkelheit, und die Tage werden
wieder länger.
At the junction of the signs of Dhanu and Makara he is Bhaskara
Parameshvara (the highest divinity). Who worships Ravi at this time
will undoubtedly obtain liberation. (100)
Neben diese jahreszeitlichen tritt der tageszeitliche Rhythmus. Die
Sonne verbringt in einem Tierkreiszeichen nur ein Zwölftel des
Jahres. Die Namen, die die Sonne dafür annimmt, bedeuten einen
geringeren Aspekt als die sich täglich wiederholende Wandlung.
Im Rahmen des Sonnekultes werden alle Götter des indischen Pantheons
als verschiedene Erscheinungen des einen Urgottes Surya, der damit die
Rolle des Brahman übernimmt, angenommen - eine Tendenz, die wir
immer wieder als allgemein selbstverständlich auch bei anderen
Kulten beobachten können.
Surya is the visible manifestation of Parabrahman and the very
Self of all the Devas. On rising he is in the form of Brahma, at midday
in the form of Maheshvara. On setting he is the Self of Vishnu. . .
(101) Auch in den Puranas schließt Surya die drei Götter
in sich. (102) Den Shaktis dieser drei Sonnen-Formen, die im Hauptschrein
selbst offenbar nicht sichtbar werden, ist ein eigener Tempel in Konarak
geweiht: der Mahagayatrí-Tempel. (103) Diesem unterliegen drei
verschiedene, in ihren Flächenausmaßen aber gleiche Yantras.
Das kreisförmige
der Cella gehört zu Mahagayatrí, das quadratische des Mukhashala
zu Savitri, das rechteckige zwischen Mukhashala und dem Treppenaufgang
zu Sarasvati. Übrigens ein Beispiel eines (tantrischen) Shakti-Tempels
in Orissa auf einem quadratischen Garbhagriha.
Daß neben Garbhagriha und Mukhashala noch ein weiterer rituell
unerklärter Bauteil gebaut wurde, hängt wahrscheinlich von
der erwähnten dreifachen Erscheinung der Surya-Shakti ab. Daß
sich diese Drei-Form auf verschiedene Bauteile erstreckt, ist ungewöhnlich,
da der Göttin in der Cella auf jeden Fall die erste Rolle zukommen
müßte. Nur durch die aus dem Manuskript bekannt gewordenen
Yantras ist eine gewisse Gleichberechtigung der Bauteile anschaulich
geworden. Boners Frage nach dem geheimen Zusammenhang der gleichen Flächengröße
der drei Yantras dürfte in diesem Sinn zu beantworten sein.
Hier wird die grundlegende Bedeutung der Yantras und der dazugehörigen
Texte besonders deutlich. Erst durch sie wird eine architekturikonologische
Annäherung möglich. Ohne diesen Einblick bleibt der Sarasvati-Bauteil
eine kuriose Eigenart. Auch dem Natamandir (Tanzpavillon), der nicht
dem Haupttempel angebaut ist, unterliegt ein Yantra. Dieser Grundriß
der neun Planeten wird auch als Bühne für Vorstellungen
benützt, wobei der hieratische Charakter deutlich wird.
Im Zentrum der 3 x 3 quadratischen Felder wird wieder die Sonne als
Bhaskara im achtblättrigen Lotos dargestellt. Saturn erscheint
als schwarzer Mann, Jupiter als roter Kreis, der Mond als Halbmond,
Mars als rotes Dreieck, Venus als weißes Quadrat, Merkur als gelber
Bogen, Ketu (absteigender Mondknoten) als gefleckte Schlange, Rahu (aufsteigender
Mondknoten) als Schwert.
Auf Bühnen über diesem Yantra saß der Raja im Zentrum
auf dem Platz der Sonne, die Brahmanen auf dem Jupiterfeld, die Kshatriyas
zur Rechten und Linken des Raja (Mars und Rahu), die Vaishyas auf Saturn
und Mond. Das Orchester und die Darsteller nahmen die drei nördlichen
Felder ein. Das Volk stand um die Bühne herum.
Der Tempel von Konarak steht am Ende einer jahrhundertelangen Entwicklung.
In den Texten wird die erste Schicht sonst üblicher Grundrisse,
das Vastupurusha-Mandala nicht mehr erwähnt. Man beginnt sofort
mit der Aufteilung des Grundes nach der Maßeinheit und der Orientierung
mit Hilfe des Shanku und setzt dann die Yantras ein. Doch kann daraus
nur geschlossen werden, daß die hier angedeutete Ikonologie sich
in den vielfältigen, auch zeitrhythmischen Zusammenhängen
einer einfachen Symbolik entzogen hat.
Können wir aus dem Zufall, daß die bisherigen Texte mit Yantras
jeweils tantrische Zusammenhänge aufweisen (und sich die Autoren
Tantrikas nennen), ableiten, die Verwendung von Yantras sei immer tantrisch?
Yantras und tantrische Dhyanas sublimieren, wenn sie uns zufälligerweise
gegeben sind, den Bau, verinnerlichen ihn oder machen ihn zu einem Yantra
(Werkzeug) der Verinnerlichung. Jedes mögliche tantrische Element
ist eine Bereicherung der Erkenntnis kultischer Liturgie, die eine Wandlung
des Betrachters fordert und der kunsthistorischen Erscheinung nicht
isomorph ist.
Chakras und Nadis
Dem Tempel als Leib Gottes entspricht die Vorstellung des
Leibes als Tempel Gottes. Wie der Tempel durch physiologische
Begriffe als dem Menschen vergleichbarer Organismus gekennzeichnet ist,
so wird der Mensch von den Hatha-Yogis und Tantrikas als kosmologische
Struktur einer möglichen Bewußtseinsentfaltung aufgefaßt.
Hathayoga und Tantra verwandeln den Körper, indem sie ihm
makranthropische Dimensionen schufen und ihn den verschiedenen mystischen
Körpern (den klanglichen, architektonischen, ikonographischen
usw.) anglichen. (104)
Diese Struktur der sieben an der Wirbelsäule übereinander
angeordneten Lotosse (Padmas) erfüllt in grandioser Weise verschiedene
Aufgaben: Sie ist Struktur des Kosmos, der Entstehung und Zerstörung
der Wirklichkeit, der Bewußtseinswandlungen und Zustände;
schließlich läßt sich an ihr das erkenntnistheoretische
Verhältnis von Bewußtsein und Realität erklären.
Dies gelingt mit wenigen Grundbegriffen, die miteinander in den verschiedenen
Texten unendlich variiert werden: Chakra, Nadi, Kundaliní, Mantra.
Ein Chakra oder Padma (Kreis oder Lotos) ist ein Zentrum, in welchem
sich die anderen Elemente treffen. Nadi (Kanal) ist der mögliche
Weg für Bewegungen der Lebensenergie (Prana) oder des damit koordinierten
Bewußtseins. Kundaliní (Schlangenkraft) ist die als aufsteigende
energetische Kraft erlebbare Bewußtseinssammlung, sie ruht im
untersten Muladhara-Chakra und wird schrittweise nach oben geführt.
Mantras sind die (kombinierten) Buchstaben des Sanskrit-Alphabets. Alle
50 Buchstaben werden auf die verschiedenen Chakras verteilt und ergeben
in ihrer Zusammenstellung die jeweilige Bewußtseinsstruktur eines
Chakra-Bereiches. Die Gesamtheit aller Mantras ist im obersten Lotos,
dem 1000blättrigen, 20mal vorhanden.
Gelingt es, die alternierende Öffnung der beiden Hauptnadis zu
einen, dann wird der zentrale Hauptnadi Sushuma für den Aufstieg
der Kundaliní frei. Normalerweise wechseln die beiden Nadis Ida
und Pingala einander ab. Mit diesem Wechsel sind viele Polaritäts-Auffassungen
symbolisch verbunden (Tag - Nacht, aktiv - passiv, Weiß - Rot).
Das Steigen der Kundaliní bedeutet ein Steigen des Bewußtseins;
d. h., es werden die jeweiligen Bereiche, in die die Kundaliní
gelangt, bewußt, zugleich werden die darunter liegenden verlassen.
Bewußtseinsemanzipation zum Ursprung hin ist zugleich Vernichtung,
Zerstörung des Kosmos. Umgekehrt entsteht die Welt wieder in ihrer
Gesamtheit, wenn die Kundaliní sinkt.
Diese Struktur, die den groben Leib transzendiert, indem
sie ihn mit dem Göttlichen konfrontiert und eint, ist nur dem Sadhaka,
der diesen Weg beschreiten will, nützlich. Sie ist als Orientierungsrahmen
für den Yogi unerläßlich, aber inwiefern erscheint sie
als Metastruktur des Tempels symbolisch relevant?
Es ist genau dieser Punkt, an dem die Kritiker architekturikonologischer
Versuche berechtigterweise ansetzen. Soweit ihm bekannt sei, schreibt
G. Oberhammer, spielt für den Yogi der Tempel keine Yoga-immanente
Rolle für die Emanzipation, im Falle des Nicht-Yogi kann man aber
nicht recht sehen, wieso ein Tempel als prasadapurushah symbolisch vollzogener
Yogaweg (= Tempelbesuch?) heilbringend sein könnte, zumal er infolge
der Arkandisziplin von diesem Symbolismus nichts wissen sollte.
(105)
Aber zeigt uns nicht die Yantra-Symbolik, daß die Wirksamkeit
des Tempels vom Architekten ohne Rücksicht auf die Rezeption der
zugrundeliegenden Systematik durch den Betrachter zu garantieren
ist? Wir werden noch sehen, daß außerdem eine Bezugnahme
auf Teile des Tempels zumindest im Puja durch Mantras vorgenommen wurde.
Ein Wissen oder Nichtwissen der ikonologischen Bezüge im Tempel,
eine Kenntnis oder Unkenntnis der Funktionsfähigkeit des Kultbaues
auf seiten der Besucher begründet diese nicht, noch verhindert
sie sie.
An zwei architektonischen Stellen, ikonologisch in zweifacher Hinsicht
darf vermutet werden, daß sich die Sthapatis dieses Zusammenhanges
bewußt waren und ihn darstellen wollten. Gibt es Indizien, die
eine Interpretation des Tempels im Lichte des Kundaliní-Yoga
erlauben?
Ohne einschlägige Manuskripte hätte sich das kaum klären
lassen. Andeutungen findet man etwa im Agní-Purana. Dort wird
der Dhvaja (Pfosten für das Tempelbanner) als Kundaliní-Shakti
bezeichnet. Doch bleibt das eine isolierte Stelle ohne Hinweise auf
Chakras und Nadis.
Wird der Dhvaja als Kundaliní angesehen, muß der Tempelbezirk
der Leib der Gottheit sein. In dieser südindischen Tradition steht
der von Stietencron wiedergegebene Text. Dort allerdings ist die Kundaliní
nicht der Dhvaja. Dafür werden die Chakras einzeln angegeben. Das
Muladhara befindet sich, wo der Anus lokalisiert wird, bei der Plattform
für die Opferspeisen, das Svadhisthanam beim Penis, also beim Fahnenmast,
das Manipura beim Nabel (= Reittier des Gottes), das Anahatam im Herzen
in der Brust (= Tempelhalle), das Vishuddhih im Hals (= Vorraum zum
Allerheiligsten), das Ajna zwischen den Augenbrauen (= Standort des
Kultbildes in der Cella), das Sahasrara-Padma am Scheitel des Kopfes
(= Spitze des Turmes über der Cella).
Nach dieser Auffassung ist der Aufstieg vom Kultbild zur Turmspitze,
dem Absoluten, nur der Weg zwischen dem Ajna - und dem Sahasrara-Padma.
Die anderen Padmas liegen in einer horizontalen Ost-West-Achse im Tempelbezirk.
Dort,
wo nicht die Tempelstadt, sondern der Shikhara als Purusha verstanden
wird, müßten die Chakras in diesem angeordnet werden können.
Am leichtesten läßt sich dabei am Turm-Haupt ansetzen. Das
Amalaka ist im Laufe der Zeit mit verschiedenen Früchten identifiziert
worden: mit der Frucht der Wasserlilie (Nymphaea caerulea), mit dem
Phyllantus emblica,(106) oft mit einer flachen Melone, einem Kürbis
oder der Myrobalanenfrucht, womit eine Welten-Baum-Kosmologie verbunden
wird. (107) Fabri sieht phantasievoll den Ehrenschirm, analog dem Stupa.
(108) Auch wurde, wenig glaubhaft, die falsche Übertragung des
chinesischen 0-mo-lo-kia-ko als Beschreibung des großen Vihara
in Bodhgaya vermutet. (109) Boner greift die Lotossymbolik auf. And
since it is on top of the temple, it would not be far-fetched to see
in it the thousand-petalled lotus, the Sahasrara cakra, which, according
to yogic and tantric doctrines is at the top of the cranium ... When
in the daily puja Matrkanyasa is done, the Sahasrara cakra is clearly
identified with the amala-cakram. (110) Außerdem erscheinen
Amalakas never on the lower body of the temple, but only on the
spire, that means on the higher spiritual planes. (111) Diese,
meist fünf, Eck-Amalakas könnte man als Chakras auf dem Weg
zur Reinheit (= amala) ansehen.
Ungeachtet, ob die kleinen Amalakas Chakras anspielen (einer Vermehrung
müßten analog weitere Chakras angenommen werden), ist der
große den Shikhara abschließende Amalaka mit großer
Wahrscheinlichkeit als Sahasrara anzusehen. Dafür sprechen weitere
Gründe. Im zweiten Prakasha steht: The upper part of the
amalaki is in the shape of a skull (kharparakriti) (112) mit dem
Bindu im Zentrum. Der Bindu ist jene Stelle, wo im Tod nach indischer
Auffassung die Seele den Körper verläßt, bzw. wo im
Samadhi, dem Ziel des Sadhana, ein wasserblaues Licht einstrahlt. Dort
steht Amrita Kalasha (Gefäß des Nektars), dessen Fuß
in der zentralen Öffnung, Brahmarandhra, eingelassen ist.
The central axis of the temple between the foundation and the
amrtakalasha can thus be likened to the spinal column, the central axis
of the human being, called the Merudanda, through which Kundaliní
ascends towards the Brahmarandhra. The ideal axis of the temple thus
is identical with the Merudanda of the Mahapurusha, in whose likeness
the temple is built. (113) Auf dem Wassergefäß steht
dann noch das Symbol des Gottes: Chakra für Vishnu, Trigula für
Shiva, Padma für Surya.
So sehr die Ikonologie des Mahapurusha mit dem Kundaliníyoga
in dieser Region übereinstimmt, so ist doch zu fragen, ob die,
in ihrer Zahl wechselnden, kleinen Amalakas unterhalb für die anderen
Chakras angesehen werden können. Sie befinden sich an den vier
Konakas, den Kanten des Turmes. Gibt es eine weitere Möglichkeit,
die Chakras am äußeren Körper anzudeuten?
Wie schwierig dieses Problem ist, zeigt Boners Versuch, Architekturformen
mit den verschiedenen Elementen (die zugleich den Chakras zugeordnet
sind) in Zusammenhang zu bringen. Dieser Versuch setzt aber bei einem
ShaktiTempel mit nichtquadratischem Grundriß (s. o.) und ohne
Amalaka und Amritkalasha an.
Dieser
sogenannte Vimanamalini-Tempel hat in der Sockelzone über dem Pitha
oder Pada (= Fuß) die früher als Pancha-karma (= fünf
Werke) bezeichneten Streifen. Boner versucht, diese fünf, Khura,
Khumba, Damaru, Vasanta, Chulika aus ihrer symbolischen Form mit den
Elementen zu koordinieren. (114) Das niederste, Khura, wäre als
Kubus das Element Erde, das zweite runde, Khumba, Wasser, das dritte,
Damaru, als zwei Pyramiden oder Dreiecke aufeinander das Feuer, das
vierte, Vasanta, mit vegetabilen Formen die Luft. Diese zunächst
wenig einleuchtende Gleichsetzung entnimmt Boner der Shatcakra Nirupana,
wo das vierte Chakra Anahata, das mit dem Element Luft assoziiert wird,
mit dem Wunsch-Baum geschmückt ist and that the Ishta Deva
of this cakra is seated under trees laden with flower and fruit, and
also that the Ether whose seat ist the Vishuddha cakra is represented
as a blank circle. (115) Im Chulika vermutet Boner damit ein Anspielen
des fünften Elementes Äther.
Es muß jedoch Zweifel an der Identifizierung von Chakras und Elementen
in dieser Weise geäußert werden. Zwar werden im Kundaliní-Yoga
den fünf unteren Chakras die Elemente zugeordnet. Diese Chakras
aber reichen bis zum Hals. Die Pancakarma-Elemente ragen nicht über
den Sockel hinaus, erreichen kaum mehr als ein Sechstel der Tempelhöhe
- abgesehen davon, daß der Tempelleib hier nicht als Purusha anzusehen
ist, sondern durch den Opferpfosten am Dach erscheint. Es
liegt ein ganz anderer Zusammenhang nahe. In dem dem Grundriß
eingeschriebenen Yoginí-Yantra werden nämlich die drei Gunas
repräsentiert, und die Panchabhuta wären vielleicht als eine
weitere Stufe der Evolution anzusehen.
Die Schwierigkeit solcher Zuweisungen liegt in einer Eigenschaft indischer
Systematisierung. Einzelne Begriffe wie Guna, Panchabhuta, die der Samkhya-Tradition
entstammen können, haben keinesfalls für alle Systeme feststehende
Bedeutungen und Positionen in der Hierarchie der Konzeptionen. Entscheidend
für die Bedeutung ist immer der weitere Zusammenhang, in dem ein
Symbol oder Begriff eingebunden ist, jede Sekte hat etwa immer die Tendenz,
bestimmte Topoi, Klischees der Allmacht z. B., der eigenen Gottheit
zuzuweisen. Trennt man die Panchakarma-Streifen aus dem Tempelorganismus
und analogisiert sie mit dem Kundaliní-Yoga, gewinnen sie die
Bedeutung der Chakras. Dies ist aber sinnlos, weil die Panchakarma-Elemente
im Samkhya-System den grobstofflichen Leib, die niederste Schicht (im
Tempel eben den Sockel), bedeuten. Im Kundaliní-Yoga sind die
Elemente eine Hierarchie, die keinesfalls dem grobstofflichen Leib (Sthula-sharíra)
angehören. Deshalb muß eine Übertragung der Begriffe
zu falschen Schlüssen führen. Da im Kundaliní-System
nur sieben Plätze für Kategorien zur Verfügung
stehen, umfaßt jedes Chakra mehrere Komponenten. Die fünf
unteren Chakras werden deshalb mehrmals durchlaufen. Zunächst
sind es die fünf Mahabhutas, danach parallel dazu die fünf
Tanmatras, danach die fünf Karmendriyas und schließlich die
Jnanendriyas. Der Widerspruch, daß hierbei neben niederen
Kategorien hohe (in der vergleichbaren Hierarchie des Samkhya-Systems,
wo diese Tattvas übereinanderliegen) im selben Bereich aufgenommen
sind, bleibt offen. Das vom Begriff her jeweils identische
Element kann deswegen sehr verschieden aufzufassen sein. Ganz anders
leuchtet die Identifikation von Elementen und Chakras im Stupa ein,
weil sie den Gesamtaufbau einschließt. (116)
Daß Konzepte des Kundaliní-Yoga auch in ganz anderer, indirekter
Weise auf die Symbolik des Tempels Einfluß haben, zeigt der Sonnentempel
von Konarak. In den Puranas wird der Sonnengott personifiziert, und
er gewinnt Bezüge von astronomischer Bedeutung, womit zugleich
der Götterwagen eine symbolische Zeit-Ikonologie bis in kleinste
Detail erhält.
In den Tantras wird diese Götterwagen-Symbolik introspektiv umgedeutet,
indem die Sonne als Licht des inneren Selbst aufgefaßt wird: Surya
is the very Self of the Atman, travelling in the chariot of living beings,
heißt es im Surya-Tantra. (117)
Pandeys Ansicht, die Identifikation Suryas mit Shiva sei an sich schon
tantrisch, (118) ist nicht schlüssig, auch wenn sich dafür
Textbelege anführen lassen. Dagegen ist die Tatsache, daß
auch angesichts von Surya Anganyasa vorgenommen wird, ein wichtiger
Hinweis auf die tantrische Homologisierung des Gottes mit dem eigenen
Körper. (119)
Das Rad der Zeit wird zum Rad des Sadhana. Die einzelnen,
dem Tierkreis zugeordneten Räder des Sonnentempels werden zu Stationen
auf dem Meditationsweg: beginnend mit Widder-Bhakti bis zu den Fischen-Tathastha,
der Vereinigung mit dem höchsten Selbst. Dann heißt es weiter:
Where in the Ether the Sun ist worshipped in the form of the eight
Adityas, In the Yoga-ether (yogakasha) there are eight lights and eight
sanginís. Where in the Ether is the orbit of the Constellations,
The Yoga-path has eight nadis and eight sanginís. (120)
Diese acht Kanäle bzw. Kreuzungen werden im einzelnen als Chakras
beschrieben. Die Namen der Chakras unterscheiden sich von anderen, so
fehlt das Anahata-Chakra, und es sind acht statt sieben. In jedem dieser
Chakras nimmt Surya eine besondere Form an: im Muladhara heißt
er Bhaga, im Ajna erscheint er in der Form von Hamsa, und im achten
heißt er Mahavishnu-Bhaskara. Dieser Mahabhaskara wird als höchste
Form im Surya-Tantra angesehen und - das ist vom ikonologischen Gesichtspunkt
entscheidend -, seine Beschreibung (Dhyana) stimmt mit der im Garbhagriha
von Konarak aufgestellten Gottheit überein. There can be
little doubt that the worship for which the temple had been built was
inspired by this tantric school of thought. (121)
Noch bleibt die Frage offen, inwiefern sich diese Tatsache im Architektonischen
auszudrücken vermag, denn nicht die Chakras werden gezeigt, sondern
die Form der Gottheit im obersten Chakra. Auf dem Blatt 19B des wichtigsten
von Boner herausgegebenen Manuskriptes über den Konarak-Tempel
wird das Tor zum Kultbild kalaghata dvara genannt. Dies
bezeichnet das Zentrum des Sahasrara-Padma, dem nach dem Surya-Tantra
das achte Chakra mit Bhaskara folgt. Aber dieser Begriff wird formal
nicht sichtbar.
Es gibt eine andere, konkrete Schicht. Im Surya-Tantra heißt es,
das Surya-Mandala sei, gemäß den drei Gunas, dreigeteilt.
Die niederste Region umfaßt die Beine des Sonnengottes, die mittlere
reicht vom Muladhara bis zum Ajna, die oberste liegt um sein Sahasrara-Padma.
Das Verhältnis von Kultbild, rahmender Architektur und den vier
beigeordneten Parshva-Devatas bildet eine tantrische Struktur, die Verbindung
von Gunas und Chakras, den rasterhaften Hintergrund.
Es sind aber keine spezifischen Formen, die diese Bedeutungsschicht
anzeigen, sondern Proportionen, Maßverhältnisse, die ohne
den Texthinweis kaum lesbar wären. Gänzlich andere Surya-Darstellungen,
in denen der Sonnengott mit gekreuzten Beinen auf dem Lotus sitzt, sind
ebenso als tantrisch interpretiert worden,(122) weil sie in einem tantrischen
Kontext stehen. Auch hier wird wieder klar, daß die isolierte
lkonographie zu dieser Frage nichts beitragen kann und daß der
ikonologische Bezug in das Kulthafte hinausführt.
Wie aus den Bezeichnungen der einzelnen Teile hervorgebt, wird auch
der Shikhara des Sonnentempels in Konarak als Leib aufgefaßt.
Wie andernorts heißt der letzte Teil unter dem Haupt
Beki (= Nacken), und der schließende Stein hat eine schmale Öffnung,
die als Nihshvasa (= Luftröhre, Atemkanal) bezeichnet wird.
Ob der Shikhara eine Wiederholung des zentralen Gedankens, nämlich
der tantrischen Konzeption vom Sadhana bis zum höchsten Bhaskara,
ist, muß offengelassen werden, jedenfalls spricht das beim Schließen
des Shikhara zu rezitierende Mantra dafür. Während nämlich
Pushan die Fundamente, Mitra den Leib, Haridashva den Oberkörper
schützen sollen, wird Bhaskara als Beschützer des Amalaka
und Kalasha, also des Hauptes, angerufen. (123)
Es wird die Idee, die im Kultbild manifest ist, nämlich Verwirklichung
Suryas im höchsten lichthaften (Jyotish-)Chakra in der Form Bhaskaras,
auf die äußere Form des Leibes übertragen - es wäre
widersprüchlich, wenn Bhaskara einen der unteren Teile schützen
sollte.
Der tantrische Gehalt des Tempels von Konarak ist eine indirekt nur
mit Hilfe von Texten erschließbare Schicht, eine esoterische Interpretation,
die nur aus wenigen Indizien ableitbar ist und deren Gesamtheit dem
Einblick verwehrt bleibt.
Die Chakras sind durch die Nadis miteinander verbunden. Im Verständnis
der drei Hauptnadis Ida, Pingala, Sushumna liegt der Weg der Bewußtseinsemanzipation.
Stietencron hat der These, daß die Nadis (Kanäle, Nadí
= Fluß) am Tor zur Cella in Gestalt von Flußgöttinnen
erscheinen, eine großangelegte Untersuchung gewidmet. In der Analyse
der vielschichtigen Symbolik der beiden Flußgöttinnen Ganges
und Yamuna zählt er 314 Tempeln auf, wo sie als Torhüterinnen
erscheinen. (124)
Gerade die Erkenntnis, daß der Tempel ein ganzheitlicher Organismus
ist, hat ihn dazu geführt, den tantrischen Kern, die ihm als tiefste
Schicht erscheinende Bedeutung, aufzufinden. (125) Schon Bhattacharyya
widmet dem Tor ein eigenes Kapitel, (126) in dem er den tantrischen
Hintergrund von Ganga und Yamuna andeutet: The origin of these
figures cannot be traced to the regulations in the available treatises
on architecture but may be explained by the directions in the Tantras
... (127)
Verschiedene Deutungen für die beiden Flußgöttinnen,
die bis ins 12. und 13. Jahrhundert Tempeleingänge flankieren,
sind früher angeboten worden. Die politische Lösung, das Paar
symbolisiere den Reichsgedanken der Guptas, widerlegt Stietencron mit
kaum ablehnbaren Gründen. Anderen symbolischen Inhalten spricht
er eine gewisse Berechtigung zu: Erstens: Ganga und Yamuna erscheinen
am Eingang des Tempels, um dem dort wohnenden Gott als Erste Verehrung
zu erzeigen und ihm ihre Wasser als Gabe darzureichen. (128) Zweitens:
Ganga und Yamuna sind Symbole der Fruchtbarkeit, des Wachstums und der
Fülle (129) Drittens: Ganga und Yamuna sind Initiationsgöttinnen.
Sie vermitteln die rituelle Reinheit, welche den Zugang zur Gottheit
ermöglicht. (130)
Stietencron geht den Mythen und Assoziationen von Ganga
und Yamuna gründlich nach. Die Untersuchung der Mythen soll vor
allem den Polaritätscharakter, den die beiden Göttinnen im
Laufe der Zeit angenommen haben, erklären helfen. Diese Differenzierung
drückt sich in den unterschiedlichen Vahanas, Makara (Krokodil)
für Ganga und Kurma (Schildkröte) für Yamuna, aus, die
vom Ende des 5. Jahrhunderts bis zum Verschwinden der Göttinnen
im 12./13. Jahrhundert beibehalten werden.
Aus der Betrachtung verschiedenster Mythen ergibt sich folgendes Bild:
Ganga gilt allgemein als weißer Mond-Fluß, während
Yamuna für dunkel gehalten wird. Der Dual f. sitasite
(die Weiße und die Dunkle) wurde sogar zum festen Terminus für
diese beiden Ströme (131) Doch hat Yamuna Sonnencharakter.
Man nennt sie saurí, suryatanaya oder suryanadí,
denn sie ist die älteste Tochter des Sonnengottes Vivasvat und
daher immer wieder als Sonnenfluß betrachtet worden. (132)
Überdies ist die Schildkröte schon seit dem vedischen Feueraltar,
in den sie eingemauert wurde, Symbol der Sonne. (133) So flankieren
Sonne und Mond in der Gestalt der Flußgöttinnen den
Eingang zum Tempel. (134) Auch Ida und Pingala werden immer als
Mond und Sonne, in späteren Texten überhaupt mit den beiden
Flußnamen benannt.
Die beiden Flüsse strömen bei Allahabad zusammen. Dieser Ort
wird Trivení (= dreifach strömend) genannt, denn hier
vereinigen sich die drei heiligsten Ströme Indiens (135):
Ganga, Yamuna und Sarasvati, die unterirdisch fließt, also hier
nicht sichtbar ist. Sie wird mit dem Lotos dargestellt. Wenn Ida und
Pingala als die beiden seitlichen Nadis das Tor zum Tempel flankieren,
dann ist Sushumna, der zentrale Nadi, das Tor selbst. Darauf weist auch
die Ausgestaltung der Schwelle mit einem Lotos-Relief hin, das auch
durch eine Schlange (Kundaliní) ersetzt werden kann. Damit
stehen die drei Symbole Makara, Lotos und Kurma an der
Tempeltür sowohl für die drei heiligen Flüsse, als auch
für die drei wichtigsten nadis, die in trivení
= ajna-cakra = mulabera das zentrale Götterbild im garbhagrha)
zusammentreffen. (136)
Die Gültigkeit dieser Deutung, die grundsätzlich kaum bezweifelt
werden kann, hängt bei Stietencron von der südindischen Identifikation
des Tempelbezirkes als Purusha ab. Denn dort ist der Ausgangspunkt der
Kundaliní am Balípitham zu sehen (s. o.), und die Achse
zum Kultbild bezeichnet den Weg der Kundaliní durch die einzelnen
Chakras bis zum Ajna.
Dies ist aber nicht immer so; bei der Identifizierung des Shikharas
mit dem Purusha wird Stietencrons Interpretation zu modifizieren sein.
Ein Großteil der von ihm erwähnten 314 Standorte gehört
nicht in den Rahmen der von ihm als verbindlich angenommenen Vorstellung.
Die drei Nadis, Ida, Pingala, Sushumna (Ganga,Yamuna, Sarasvati), kommen
nicht nur in Trivení, d. h. dem Ajna-Chakra, zusammen. Sie haben
im Muladhara-Chakra ihren gemeinsamen Ausgangspunkt. Daher kann diese
Symbolik auch für die Tradition, in der der Turmbau selbst den
kosmischen Menschen darstellt, gelten.
Ein Aspekt tantrischer Symbolik ist hierbei noch zu korrigieren. Die
Nadis haben einerseits kosmologische Entsprechungen (Sonne, Mond), sind
andererseits Kanäle für Energie, sind aber nicht Prana (Lebenskraft)
als Atem. Diese Identifizierung ist falsch. Am Atem ist die Öffnung
eines Nadi zu erkennen, aber das jeweils offene Nasenloch ist nicht
dieses oder jenes Nadi, wie das oft behauptet wird. Der Atem ist für
den Sadhaka lediglich ein Vehikel für Bewußtseinsbewegungen.
Diese Koordinierungsmöglichkeiten im Yoga-Sadhana haben zu Verwechslungen
geführt. Das ist hier nicht näher auszuführen. (137)
Es ist daher nicht nötig, Ganga und Yamuna an der Nase zu lokalisieren.
In der von Stietencron zitierten südindischen Tradition sind, wie
erwähnt, die Nasenlöcher die Sockel der Türpfosten, die
beiden Augen die beiden Pfosten der Cella. Seine Behauptung, die
Nasenlöcher aber sind die Ausgänge von Ida und Pingala
(138) ist eine nicht notwendige Einschränkung seiner Interpretation.
Über 7 Jahrhunderte waren Ganga und Yamuna Symbol im Sinne des
Kundaliní-Yoga. Stietencron vermutet, daß die Tatsache,
ihre Bedeutung sei in tantrischen Schriften verraten worden zur
Aufgabe dieser Art der Verbildlichung gezwungen (hat) ... ein vor aller
Augen entschleiertes geheimes Wissen (ist) wertlos. (139)
In der späteren südindischen Tradition, wenn das Tor sich
zu riesenhaften Gopuras in den vier Kardinalrichtungen teilt und auswächst,
werden die symbolischen Beziehungen der drei Flußgöttinnen
auseinandergerissen. So findet man in den vier Gopuras von Chidambaram
außen symmetrisch Ganga und Yamuna, wenn auch durch zehn Nischen
voneinander getrennt, und Sarasvatí an den inneren Fassaden.
(140)
Sollte man überall dort, wo Ganga und Yamuna oder Amalakas den
Tempel schmücken, von Tantra-Architektur sprechen? Wohl kaum. Es
sind tantrische Komponenten, die sichtbar werden. Es zeigt sich an diesen
Beispielen, daß Tantra nicht im Gegensatz zur Orthodoxie zu sehen
ist, sondern selbst ein Bestandteil im vielschichtigen Hinduismus ist.
Bei Fehlen von Texten wäre die Transponierung von Ideen des Kundaliní-Yoga
auf den Tempel gänzlich unmöglich. Die formalen Anhaltspunkte
sind sekundärer Art oder verborgen. Ob ein Tempel von vornherein
in solcher Weise konzipiert war, ist nicht aus einer kunsthistorischen
Analyse ohne Bezug auf kultische Gegebenheiten erschließbar. Es
ist sehr zweifelhaft, ob und wie sich überhaupt der jeweilige Kult
im Architektonischen niederschlägt. Und es ist fast gewiß,
daß ein tantrischer Schrein sich in dieser Umsetzung nicht von
anderen unterscheidet.
AUSBLICK
Je mehr man sich bemüht, in den geistigen Gehalt einzudringen,
um so mehr scheint sich dieser unabhängig vom Bau als Architektur
mit bestimmten eindeutigen Formen zu entwickeln. Das gilt in besonderer
Weise für die esoterisch-tantrische Seite, die mit dem phänomenalen
Tatbestand kaum mehr verknüpft ist und nur von diesem ausgeht.
Diese Weise der Deutung führt nicht zum Bau, sondern von diesem
weg in eine Art Überbau, die Kunstgeschichte wandelt
sich in Kultgeschichte. Das Wesen des Kultes ist die Aufhebung der Realität
auf dem Weg und mit Hilfe der jeweiligen Gottheit, ist das Verlöschen
aller unterscheidenden Analyse in einem eigenschaftslosen Ursprung.
Der Wunsch, gültige Fakten vorzustellen, widerspricht damit dieser
ursprünglichen Intention.
Dem phänomenalen Bestand, dem materiell faßbaren Aufbau eines
Tempels als solchem ist nicht die Form der Deutung, die Möglichkeit
einer esoterischen Sicht anzusehen. Letztlich heißt das, daß
jedem beliebigen Tempel vieldeutend begegnet werden kann
und es von den Möglichkeiten des Rezipienten abhängt, das
zu tun. Darauf hat auch Stietencron in einem Exkurs über die Vielschichtigkeit
religiöser Symbolik hingewiesen: Immer wieder ist die Symbolik
vieldeutig. In der Position am Tempel, im Aussehen und Haltung, in Attributen
und Begleitern, Himmelsrichtung und Farbe (von Göttergestalten)
sind lauter Hinweise erhalten, hinter denen die mythische, philosophische
und rituelle Sicht der Wirklichkeit steht. Je nach dem Akzent, den man
setzt, tritt der eine oder andere Bereich in den Vordergrund und legt
eine bestimmte Deutung nahe. Es kommt noch erschwerend hinzu, daß
uns die Texte für jeden dieser Bereiche nur ein etwas verschleiertes
Bild geben, da sie manches nicht ausdrücken können, anderes,
nur für Eingeweihte bestimmtes, nicht aussagen wollen und wieder
anderes als selbstverständlich voraussetzen, was uns nicht mehr
geläufig ist. (141)
Der Tatbestand der Vieldeutigkeit bedeutet nicht beliebige Interpretationsmöglichkeit.
Da es in Südindien keine Amalakas gibt, kann die Chakra-Symbolik
dort nicht mit Turmtempeln verbunden werden. Sie wird erst einsetzbar,
wo ein Tempelbezirk die Purusha-Gestalt verkörpert.
Die Architekturikonologie ist nicht möglich, wenn der ursprüngliche
Bestand, sei das aus Gründen der Zerstörung oder der isolierenden
kunsthistorischen Methodik, zerrissen ist. Die Herauslösung bestimmter
Motive vernichtet die entscheidende Deutungsbasis. Wenn im Agni-Purana
davon die Rede ist, daß Maithuna nur am unteren Tempelkörper
dargestellt werden dürfe, (142) dann versagt jegliche modische
Tendenz einer Sexualspiritualisierung. Denn eine Vereinigung der Pole
im unteren Realitätsbereich kann keine geistige Rückführung
an den Ursprung in der oberen Turmspitze darstellen. Wird die Hamsa-Symbolik
untersucht, und verzichtet man auf die Frage nach dem jeweiligen Ort
der Darstellung, dann kann er nur als gewöhnlicher Vogel ohne geistigen
Hintergrund erscheinen. (143)
Ähnlich ist die Frage nach allen Teilen eines Tempels nur im Zusammenhang
zu stellen. Wenn es stimmt, daß Figuralplastik immer unter den
Kírtimukhas am Shikhara erscheint, wie Kramrisch beobachtet,
(144) dann bedeutet er eine Schwelle, den entscheidenden Aufstieg von
Form zu Nichtform. Mag hier der aufsteigende Mondknoten, der durch den
Genuß des göttlichen Nektars unsterbliche, aber von Vishnu
enthauptete Rahu oder Kala, die der Wandlung zugrundeliegende Zeit (145)
dargestellt sein, in jedem Fall ist mit diesem furchterregenden Haupt
der Doppelaspekt der Schöpfung (nach unten) und Zerstörung,
zugleich Befreiung von der Welt der Formen (nach oben), verbunden. Die
Tatsache, daß es oft mehrere Kírtimukhas gibt, widerspricht
dem nicht. Wie es verschiedene Zeitrhythmen gibt, so gibt es auch Stadien
der Wandlung, Teilschöpfungen und Teilzerstörungen.
Das Epitheton Tantra-Architektur bezieht sich auf kulturhistorisch
möglicherweise interessante Inhalte, bedeutet aber keine Kategorie
einer kunsthistorischen Einordnung. Es hätte auch keinen
Sinn, etwa jinistische und hinduistische oder gar shivaitische und vishnuitische
Tempel voneinander unterscheiden zu sollen, denn im Grunde gibt es nur
den Kultbau schlechthin, das Gehäuse ändert seine Form von
Region zu Region, und es bleiben nur wenige gemeinsame Grundzüge
innerhalb größerer, historisch getrennt wachsender Landschaften.
(146)
Entscheidend ist immer die Tatsache, daß die tantrische Ikonologie
sich nicht durch ein ihr gemeinsames inhaltliches oder formales Element
von nicht-tantrischer lkonologie unterscheidet. Nur im Rekurs auf einen
Text erfolgt die Zuweisung.
Der Versuch der Apologeten der Tantra-Kunst diese zu einem
besonders eigenen oder ganz anderen Bereich innerhalb der
indischen Kunst zu machen, ist eine willkürliche Konstruktion.
Alle diesbezüglich angeführten Eigenheiten einer vermeintlichen
Tantra-Kunst kommen der indischen Kunst in ihrer Gesamtheit in gleicher
Weise zu. Logischerweise hat Filliozat deshalb den Schluß gezogen,
daß sakrale Architektur notwendigerweise tantrisch ist, weil der
Tantrismus est seulement l'aspect rituel technique de la religion.
(147)
Geht dieser Schluß, der aus der kultischen Dimension der Architektur
diese für sich in ihrem Eigenwert auslöscht, zu weit? Sollte
der Kunsthistoriker verstummen, wenn im Chit-Sabha von Chidambaram ein
unsichtbarer Schrein Rahasya, als Shivas Arupa-Eigenschaft
verehrt wird? (148) Was ist mit der Erkenntnis anzufangen, daß
21.600 vergoldete Ziegel am selben Tempel das Dach decken und die 21.600
Atemzüge eines Menschen pro Tag, die 72.000 befestigenden Nägel
die 72.000 täglichen Pulsschläge bedeuten? (149)
Zumindest wird an solchen Beispielen klar, daß die Systematisierungsfreude,
die dem indischen Denken (und seinen Schriften) zu eigen ist, in der
Architektur nicht fehlt und daß sich darin ein durch unendliche
Bezüge zusammenhängendes Weltbild spiegelt, das sich an manchen
Stellen formal ausdrückt. Setzt der Kunsthistoriker an diesen Stellen
an, von denen hier nur einige herausgegriffen wurden, muß er sich
des unauslotbaren Hintergrundes bewußt sein. Die in den Anfängen
steckende Architektur-lkonologie indischer Kunst vermag eine Verbindung
zwischen diesen formalen und aformalen Welten zu schaffen.
Aus technischen Gründen
musste auf eine korrekte Transkription der Sanskrit-Terminologie verzichtet
werden. Sie finden sich in den Anmerkungen.
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