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„Der Zeit ihre Kunst“ Über Max Klinger
In: Kunstpresse. Kunstforum Wien, Nr. 1, Februar 1992, S.29-33


DER MESSIAS DER WIENER SECESSION

Charisma ist keine brauchbare Kategorie der Kunstgeschichte. Wäre es eine, bliebe vom Werk eines Joseph Beuys nur der Glaube seiner Gemeinde. Wenn aus Kunst Religion wird, degeneriert sie nach dem Tod ihres Stifters zur Sektiererei. Doch weniger unser Jahrhundert fühlte sich derart gezwungen, die Kunst zu heiligen, als das vergangene, in welchem die Museen mit allem Pomp zu Kirchen und Musentempeln geweiht wurden. Noch heute legt man aus Gewohnheit an der Garderobe den Alltag ab, um sich mit gefalteten Händen dem ästhetischen Tremendum vergangener Jahrhunderte zu überantworten und in der Stille das Schöne zu verinnerlichen. In der Gegenwelt des Reichs der Kunst sammelt man so die Sinne und schöpft Kraft für draußen.

Kunst hatte im 19. Jahrhundert eine erlösende, glückverheißende Kraqft. Der Histonismus entdeckte den Sinn der Geschichte in der Folgerichtigkeit ihrer vergangenen Stile. Diese Zeit versuchte sogar, die allen gleichberechtigten Epochen entsprechenden Formen und Stile idealtypisch gefiltert zu wiederholen. Dadurch endete der Stafettenlauf der Stile. Eine Menschheit, die sich als Endpunkt einer erst von ihr verstanstenden Geschichte wähnte, war anfällig für die Pflege des Genie-Kults und prophetisches Pathos.

Doch wovon hätte ein Messias die Menschheit erlösen sollen? Gegen Ende des das Religiöse in die Kunst projizierenden Jahrhunderts wurden die Künstler selbst zu Gläubigen eines derartigen säkularisierten Heilsplans. Sie erwarteten nicht weniger als die Aufhebung der Vergangenheit, den Verzicht auf leere Stilhülsen zugunsten einer sich der Gegenwart öffnenden Kunst. Das war der Gehalt der Inschrift über dem Eingang der Secession: „Der Zeit ihre Kunst - der Kunst ihre Freiheit."

Christus im Olymp
Öl/Lw, um 1893-96
Leipzig, Museum der bildenden Künste

 

 

 

 

 

 


Der Autor dieses Spruches, Ludwig Hevesi, war als Verkünder der neuen Epoche der Moderne auch der Chronist jener Umstände, die Max Klinger ins Zentrum dieses Tempels hoben. Schon anläßlich der altarhaften Präsentation von Klingers Christus im Olymp in der dritten Ausstellung der Secession 1899 stellte er eine sakrale Atmosphäre fest: „Es liegt ein großer, weihevoller Ernst in dieser ganzen Luft. Ein weltlicher Tempel voll der tiefen Menschenwerke.“

Beethoven, 1902
Leipzig, Museum der bildenden Künste

 

 

"An der Schwelle des Jahrhunderts hat Beethoven dem Ohre gesagt, was Max Klinger heute dem Auge zeigt. Der eine Sinn löst den anderen ab, die Jahrhunderte hindurch. Heutge malt man Eroica und meißelt Neunte Symphonie."
Ludwig Hevesi, 1902

 

 

 



Die Fakten der Beethoven-Ausstellung von 1902 sind nicht zuletzt wegen des dafür geschaffenen Frieses von Gustav Klimt bekannt. Die Lobpreisung galt vordergründig dem ein Jahrhundert davor in Wien wirkenden Beethoven, der synästhetisch als das Idol eigener, auf Richard Wagner zurückgehender Gesamtkunstwerks-Träume gefeiert wurde, vor allem aber in seinem genialen Schöpfer Klinger eine Reinkarnation gefunden haben sollte. Von ihm als „Seher und Künder", „König", „Riesen", „Genie", „Sondermenschen", ja „Gottmenschen" schrieb Hevesi deshalb: „An der Schwelle des Jahrhunderts hat Beethoven dem Ohre gesagt, was Max Klinger heute dem Auge zeigt. Der eine Sinn löst den anderen ab, die Jahrhunderte hindurch. Heute malt man Eroica und meißelt Neunte Symphonie."

Das fanfarenhafte Pathos einer imaginierten Vision erklang gerade da, wo das Unvereinbare zusammengezwungen wurde. Die Sehnsucht nach der Synthese der Weltgeschichte, aller widerstreitenden Künste, nicht weniger als der Religion mit dem Mythos, von Mann und Frau, das berauschende Gefühl, an einem Endpunkt der das vorangegangene Jahrhundert bestimmenden Polaritäten angekommen zu sein, reizte die Sinne und vernebelte den klaren Blick. Die Phantasie wurde für ihre Vewirklichung genommen. Hevesis Sprachlust war das adäquate Mittel, den eklektizistischen Vereinigungstrieb dort zur höchsten Geistigkeit zu verklären, wo im Rückblick ein peinlicher Absturz des Heroischen in die erträumten Freuden der Spießer festzustellen ist. Dort, wo Klinger das Höchste anstrebte, Architektur, Plastik und Malerei zu vereinen, begann nicht die Moderne, sondern kollabierte die Tradition. Klinger war, angesichts der dürftigen Vergleichsbeispiele, vielleicht „der größte deutsche Bildhauer", aber wahrlich kein „geistiger Führer der Zeit geworden, der als einer ihrer Gipfel in die Zukunft ragt."

Warum sich Hevesis Einschätzung als Fehlurteil erweisen sollte, hat viele Gründe. Die Geschichte hat seither gezeigt, daß eine neue Sicht der Gegenwart und die daraus resultierende Bedeutung für die Zukunft nur durch den Verzicht auf die Vergangenheit und nicht durch den Versuch einer welthistorischen Zusammenfassung gelingen konnte. Unser Jahrhundert hat seine Eigenständigkeit (ob im Rückblick wünschenswert oder nicht) durch Abkoppelung, Beschleunigung und folgerichtig in der Illusion der Schwerelosigkeit erreicht. Die maßstablose Aufhebung von Grenzen bei Max Klinger schuf Probleme und keine Lösungen. Giorgio de Chirico war, befangen in der eigenen Antiken-Sehnsucht, mit seinem Diktum „Klinger war der moderne Künstler schlechthin" (1920), nicht der kompetenteste Zeitzeuge.

TORSO

Die Entdeckung Rodins, daß der Torso nicht nur das Relikt einer historischen Zerstörung, sondern auch ein ästhetisches Phänomen sein kann, wurde zu einer der wichtigsten Voraussetzungen moderner Plastik. Nicht nur reduzierte Rodin das Naturvorbild, sondern er verhalf auch durch Wiederholbarkeit und Größenvariationen dazu, den Torso sowohl als eigenständiges Werk wie als Teil eines größeren Zusammenhanges zu verstehen. Der Denker kann, wie andere Figuren von Rodin, ebenso als Teil des Geamtkunstwerkes (des Höllentores) wie auch als autonome Skulptur gesehen werden.

Klinger gelang weniger, weil er mehr wollte. Das Dreidimensionale der
Rahmen-Teile seiner Gemälde sollte in den Raum des Betrachters ausgreifen; zudem sollte die Buntheit der Skulptur eine zusätzliche malerische Qualität verleihen. Hevesi genoß diese Verwirrung: „Ist es Fleisch, das in Marmor erinnert, oder Marmor, bei dem man an Fleisch denken muß?" Der Reichtum farbiger Materialien erhöht nicht nur den prunkenden Reiz, sondern verlebendigt vor allem illustonistisch die Körper.

Klinger gelang damit die Herstellung ungeahnter Beziehungen zwischen den einzelnen Teilen seiner Werke. Doch zugleich verhindern die gattungsüberschreitenden Verweise die Emanzipation einzelner Partien, wie sie Rodin vornahm. Dieser belässt den Torso als Torso, Klinger ergänzt den Torso durch den Material-Illusionismus oder bemalt ihn sogar. Die Wahrnehmung expandiert nicht, sondern wird durch den Kontrast von haptischem Nachvollzug der Skulptur und Erblicken der Farboberflächen irritiert. Ein weiblicher Körper wirkt zugleich lebendig und zerstückelt, wenn Klinger die seitlichen Grenzen zum Beispiel des Gips-Modells für Die neue Salome (Abb. rechts) mit roter Farbe einläßt. Dadurch wird das Fehlende sichtbar, wie vom Fleischer abgetrennt, und der mögliche Gewinn des Torso-Prinzips zum makabren Verlust. Mehr oder weniger unkritisch hat man Klinger geglaubt, als er selbst die Grenze des verfügbaren Materialblocks als Erklärung für seine Torsi anführte: Dort wo der Marmorblock ende, höre auch die Gestaltung auf. Doch das beweist nur, daß er dieses ästhetische Prinzip anders als Rodin verstanden hat. Zwar kein Marmor-, aber gewiß ein Gipsblock könnte nach Belieben größer gewählt werden - wenn der Künstler schon nicht die Ausführung kleiner proportioniert.

ANTIKE UND CHRISTENTUM

Was die Skulptur an Buntheit gewann, verlor die Malerei an Kolorit. Wo ein neues Formenvokabular nötig gewesen wäre, um die ambitionierte Synthese aus Christentum und antiker Mythologie in seinem Christus im Olymp zu schaffen, fällt Klinger in verräterische Pathosformeln zurück, die ihn zu einem ikonographischen Desaster verführen. Das monumentale Bildwerk Christus im Olymp wurde 1901 der Österreichischen Galerie günstig überlassen, aber von österreichischen Kulturbeamten 1938 (aus Platzgründen!) gegen ein kleines Landschaftsbild von Carl Schuch nach Leipzig an das Museum der bildenden Künste als Dauerleihgabe praktisch verschenkt.


Das prunkvoll aufbereitete, hybride Konstrukt berichtet von der fiktiven Erscheinung Christi im Olymp. Nicht weniger als die Synthese von Antike und Christentum strebte Klinger in seinem Welthistorienbild an. Dabei ging es ihm nicht um die Konfrontation oder Vereinigung zweier Schönheitsideale, sondern um die Versöhnung von Religion und Mythos. Auch wenn man nicht auf den komplizierten Aufbau und die Vielfalt der motivischen Vorbilder, vor allem für die vor Christus kniende Psyche („Noli me tangere", Eva, „Christus und die Ehebrecherin",...), genauer eingeht, muß man am inhaltlichen Sinn verzweifeln. Im Bildzentrum berühren einander die Hände des Auferstandenen und der von ihm zum Ehebruch verführten Sünderin, deren Gemahl Amor entsetzt zurückfährt. Der Heiland bekehrt hier niemanden, sondern nimmt sich eine Braut. Nichts verweist darauf, wie aus der nackten Psyche des Apuleius, mit dessen platonischem Märchen sich Klinger 1880 in einem Radier-Zyklus auseinandergesetzt hatte, eine auferstandene, unsterbliche Seele werden soll und kann. Die zeitgenössischen Betrachter waren von dem Mangel an Sublimierung schockiert oder genossen den angedeuteten sinnlichen Gehalt. Erst der Dichterfreund Richard Dehmel hat die Begegnung blasphemisch aus der Sicht Christi zu Ende phantasiert: „Dann wird sein (des Zeus') Adler sich erheben, still spannt er über uns die Fittiche und lauscht herab auf uns, wie wir erschauern. Du, meine Psyche, und dein Jesus, Ich, in unserer hellgestirnten Hochzeitsnacht."

Auf der Rückseite des bronzenen Beethoven-Thrones (Abb. rechts) rückt die Kreuzigung Christi in den Hintergrund, während die von einem scheinbar entrüsteten Johannes vertriebene, schaumgeborene Venus im Vordergrund die Hälfte der Höhe einnimmt. Dem nackten Körper gilt Klingers ganzes Interesse.

Wenn er mit der Kreuzigung wagemutig durch die Nacktheit und auch räumliche Erniedrigung die Menschwerdung des Heilands zeigen möchte, bietet er (heute) weniger den Skandal eines voyeuristischen Effekts, als einen verwirrenden Inhalt. In seiner Schrift Malerei und Zeichnung (1891) beklagte Klinger den Verlust der Nacktheit als Auseinanderklaffen von unbekleideter Antike und bekleidetem Christentum.


Heikel sind nicht die fünf nackten Männerkörper der rechten Bildhälfte, sondern die gekünstelten Kompositionsmittel, mit denen der Betrachter in das Geschehen einbezogen werden soll: Die Repoussoir-Figur des vom rechten Bildrand überschnittenen Schächers lenkt die Aufmerksamkeit zum Gekreuzigten in der Bildmitte hin. Erst dessen gewendeter Kopf macht richtig deutlich, daß Christus in perspektivischer Verkürzung am schiefen Kreuz steht und nicht frontal in der Bildmitte. Diesen Nackten, einschließlich den beiden im Gleichschritt Tätigen, stehen bis ins kleinste Detail ihrer Körpersprache erstarrte Gewandfiguren gegenüber. Sie schreiben in historistischer Weise fest, was Klinger nicht in den gemalten Akten, sondern in der Zeichnung virtuos zu leisten vermochte.

GRIFFELKUNST

Klingers eigene ästhetische Theorie verdeutlicht die qualitative Divergenz zwischen seiner bemühten Raumkunst einerseits und der Graphik andererseits. Der Anspruch, die Künste miteinander zu vereinen, hatte keine Synthese hervorgebracht, sondern den beklagten Verlust früheren Zusammenklangs verstärkt. Es ist nicht klar, warum Klinger die von ihm sogenannte „Griffelkunst", Zeichnung und Druckgraphik, davon ausnahm: „Die neuen Techniken erschlossen Quellen der Poesie, der Leidenschaft, der geistigen Vertiefung, die der Malerei und deren Schwesterkünsten nur selten, teilweise gar nicht zugänglich sind." Klinger selbst beschränkte die Malerei und Skulptur objektivierend auf Naturalismus und eine heute weniger abgeklärt als synkretistisch-langweilig empfundene „plastische Ruhe". Der Graphik wies er die Lebendigkeit der Empfindung, die Integration auch des Unschönen und Widerwärtigen, das poetisierende Ausbreiten von ungeheuerlichen Phantasiebildern in subjektiver Expressivität und kritischer Ironie gleicherweise zu.

Im formal reichen Medium der wiedergeborenen Radierkunst - in dieser materialarmen Nische am Rande hypertropher Anstrengungen, mit denen er zeitlos-gültig die Weltgeschichte zusammenzufassen suchte - hat er größten Enifluß auf Käthe Kollwitz, Alfred Kubin, Edward Munch und Max Ernst ausgeübt. Weniger die Monumentalität der die Zeitgenossen verschreckenden Akte als die gesellschaftlichen Tabuzonen vor allem der unglücklich endenden Frauenschicksale, die Randbereiche sozialen Elends und die den Symbolismus zu eigenem phantastischen Leben erweckenden Evokationen aus dem Unbewußten der Träume, sichern weiterhin Klingers Rang.

Entführung des Prometheus
Blatt 24 aus der Folge Brahmsphantasie, Opus XII,
Radierung, Stich und Aquatinta, 1894

 


Die den sicheren Boden aufgebenden Bildfindungen mit schwankend-balancierenden oder sich dynamisch fortbewegenden Gestalten, geflügelt-gewalttätigen Wesen, entschwebenden Liebespaaren beschwören weniger die verehrten Vorbilder Dürer, Rembrandt und Goya als sie eigenständig ins Unbekannte der Moderne aufbrechen.

Neue Träume vom Glück
Blatt 7 aus der  Folge Eine Liebe, Opus X,
Radierung und Stich,1887

Max Klinger ist nicht wiederzuentdecken. An Ausstellungen war eigentlich kein Mangel. Immer, wenn ein neues Interesse für Realismus sich gegen die internationalistischen Tendenzen der Avantgarde behauptet hat, in den dreißiger, nach den sechziger und wieder in den achtziger Jahren, erinnerte man sich seiner, wenn auch nicht gleichermaßen euphorisch. Bereits in seinem Todesjahr formulierte Julius Meyer-Graefe die brutalste Ablehnung: „Die einzige Ehre, die wir solchen Leuten antun können, ist: sie endgültig zu begraben."

Nie mehr wurde er so in den Olymp gehoben wie im Wien der Jahrhundertwende. Die begonnene Fin de Siècle-Revision mit ihren müßigen Reflexionen über die wichtigsten Leistungen des 20. Jahrhunderts sucht nach absichernden Vergleichsbeispielen vom Beginn der Moderne um 1900. Lehrreich ist die Rezeption „des originalsten Künstlers, den Deutschland zu besitzen die Ehre hat" (Hugo von Hofmannsthal, 1886) vor allem im Hinblick auf den seinen Werken zugrundeliegenden ideellen Anspruch, der sich in einer ganz anderen Dimension, der von Sünde, Laster und morbider Todesnähe durchsetzten Erotik der Graphiken erfüllt hat. Diese Grenze seines Talents haben schon damals jene Kritiker geahnt, die nicht nur für einen Michelangelo, Goethe, Beethoven oder Wagner ihrer Zeit schwärmen wollten.

Max Klinger wiederentdecken? Wegweisend war er da, wo sich seine eigenen Ansprüche nicht erfüllt haben. Weder er selbst, noch seine Zeitgenossen konnten das ahnen. Nur wenn es gelingt (wie jüngst von Werner Hofmann in der Neuauflage seines Buches Das Irdische Paradies angeregt), das 20. Jahrhundert in einen neuen, zugleich das 19. Jahrhundert mit allen vermeintlichen Widersprüchen umfassenden Epochenbegriff einzubinden, wird die Frage vielleicht an Interesse gewinnen.

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