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Methoden der Kunstgeschichte - Zu drei Vorträgen
von H. Sedlmayr
In: Salzburger Museumsblätter Jg. 36, Nr. 2, Juni 1975, S.15 f.
Auf Einladung Professor Franz Fuhrmanns hielt Professor Hans Sedlmayr
am 10., 12. und 14. März im Rahmen der Gastvorträge der Salzburger
Universität "Drei Vorträge über Methoden der Kunstgeschichte".
Diese Vorlesungen boten einen großen Überblick der von Hans
Sedlmayr erarbeitenden kunsthistorischen Problemstellungen, durch welche
auch die jeweiligen Methoden determiniert sind. Wird man mit dem Werk
dieses schulbildenden Lehrers an drei Universitäten und unermüdlichen
Forschers in nahezu allen Kunstepochen und -bereichen konfrontiert,
so tritt ein durchgehendes, immer wieder bestimmendes Ziel seiner Arbeit
klar hervor. Allgemein kann dieses als Streben nach "Ganzheit"
und "Einheit" formuliert werden, als Bemühung um Integration
von durch Geschichte oder Forschung zersprengten und isolierten Elementen.
Fünf Bereiche sind feststellbar:
1. Einheit der immanenten Entwicklung.
Die "Methode der kritischen Formen" orientiert sich an "radikal
neuen", "verräterischen" Formen, die als Extreme
charakteristische Tendenzen anschaulich werden lassen. Symbolisch können
sie sein, sofern sie auch kulturhistorische Situationen veranschaulichen;
d. h. von diesen "außerhistorischen Formen" her können
allgemeine Phänomene aufgerollt werden. Drei Beispiele dienten
zur Erhellung dieser Methode. Das Kugelhaus der Flurwächter
von N. Ledoux, jene kritische Form, die in Sedlmayrs kulturhistorischem
Werk Verlust der Mitte einen Ausgangspunkt seiner Betrachtungen
gebildet hat; die Entstehung der Einansichtigkeit in der Entwicklung
des antiken Tempels, wobei die Auflösung des Körperhaften
durch eine Einbindung des Tempels in einen Architekturverband stattfindet;
und die "Nobilitierung niederer Formen" im Régence
und Rokoko. Mit Hilfe der kritischen Formen lassen sich weitverzweigte
Phänomene aus einem Quellpunkt entwickeln, welcher das einheitsstiftende
Zentrum von sonst nur als unzusammenhängenden, hinzunehmenden Faktoren
aus Kunst- und Kulturgeschichte ist. Kunst wird hier als "Instrument
einer Tiefendeutung von Epochen" benützt.
2. Einheit einer Gruppe von Werken.
Während Ausgrabungs-, Rekonstruktionsmethoden und ähnliche
"Verfahren" eher als Hilfsmittel dienen, sind die klassischen
Methoden der Stilkritik mit ihrem, im Laufe der Entwicklung immer mehr
verfeinerten Instrumentarium fähig, Ähnlichkeitsbeziehungen
in geradezu naturwissenschaftlicher Exaktheit aufzuzeigen. Der große
methodische Schritt war durch die Unterscheidung von Stilmerkmalen,
den Attributen großer Stile, wie z. B. in der Gleichsetzung von
Spitzbogen und Kreuzrippe = Gotik, und determinierenden Stilprinzipien
erfolgt, mit deren Formulierung die "Heroen" der Kunstwissenschaft
A. Riegl, H. Wölfflin, A. Schmarsow u. a. befaßt waren. Das
Unbefriedigende an diesen Methoden liege darin, daß die geschlossen
Einheit der Einzelwerke in der jeweiligen Frage nach dem "Wann",
"Wo", "Von Wem", in Merkmalbündel zersprengt
werde, wobei man jeweils andere Eigentümlichkeiten hervorhebe.
Tritt das Interesse an Unterscheidungsmerkmalen zurück und das
Einzelwerk in den Blickpunkt, wird eine Umformulierung des Stilbegriffes
notwendig. "Denn während früher das Kunstwollen' "
(die Rieglsche Stilerklärung) "Sich sozusagen nur in den Pausen
zwischen den Schaffensakten wandelte, wandelt es sich jetzt durch das
Schaffen selbst", schreibt er schon 1928/29 (Kritische Berichte,
S. 191). Mit anderen Worten, nicht der Stil wandle die Werke, sondern
die Werke den Stil.
Am Beispiel des "Weichen Stils" demonstrierte Sedlmayr, in
Erinnerung an W. Pinder (Die Kunst der ersten Bürgerzeit,
1937), daß die Qualität "weich" in mehreren "Etagen"
gleicherweise wirksam ist, d. h. Material, Technik, formale Eigenheiten
und Bedeutungsnuancen charakterisieren kann. Diese "intermodalen
Qualitäten" bzw. Entsprechungen nennt Sedlmayr den "anschaulichen
Charakter", welcher den Sinnzusammenliaiig zwischen den verschiedenen
Schichten, dem Sichtbaren und Unsichtbaren herstellt.
3. Einheit eines Werkes.
Der nächste Schritt in der methodischen Konzentration von Kulturgeschichte
über Stilgeschichte betrifft folgerichtig die Einzelkunstwerke,
an denen sich die "Strukturanalyse" entwickelt hat. Als Beispiele
erinnerte Sedlmayr an Pieter Bruegels Sturz der Blinden (Hefte
2, München 1963), deren Deutung er durch Verweis auf die Interpretation
M. Alpatows u. a. und die Abgrenzung gegenüber den Repliken befestigte
und verfeinerte, und die Wiener Karlskirche Fischers von Erlach
(Wiederabdruck in Epochen und Werke II). Hier liegt einer von
Sedlmayrs großen Verdiensten für das Fach "Kunstgeschichte"
im engeren Sinn. Durch die neue Stilinterpretation, in welcher er die
Einzelwerke als Stilträger deutet, werden diese dynamisiert. Aus
der punktuellen Begrenztheit innerhalb des historischen Ablaufs wachsen
die Werke zu Mikrokosmen. Die stilistischen polaren Grundbegriffe wandeln
sich zu werkimmanenten Strukturbeziehungen.
4. Einheit eines Gesamtkunstwerkes oder einer Werksymbiose.
Ein Resultat der musealen Betrachtungsweise des 19. Jahrhunderts - nämlich
das Aufsplittern der Werkverbände in einzelne Bildgattungen und
das Zerreißen ursprünglich vorhandener Ganzheiten - müsse
in einer Re-Integration wieder aufgehoben werden. Da etwa eine Kathedrale
erst in langen Bauphasen entstand, ist die Rekonstruierung ihrer zahllosen
Teilaspekte historisch nicht auf einen bestimmten Zeitpunkt festzulegen,
sondern müsse von einer Leitvorstellung bestimmt sein. Im Zentrum
eines sakralen Gesamtkunstwerkes liege die kultische Handlung, an der
Peripherie die ordnende Architektur, dazwischen die bildenden Künste,
zwischen denen das Ornament vermittle, und dieser Kosmos werde von der
Musik und dem Wort durchtönt. (vgl.: Entstehung der Kathedrale,
1950)
5. "Aufgabe" als Einheit in der historischen Vielfalt.
Ist die Stilanalyse nicht imstande, das Einzelwerk als Ganzheit zu interpretieren,
so reicht die Postulierung stilistischer Gesamtansichten historischer
Epochen desgleichen nicht aus, innerhalb dieser Epochen zu differenzieren,
weil sie dazu tendiert, diese falsch zu harmonisieren. Die "Ästhetisierung
der Geschichte" setze voraus, daß es eine Einheit des Stils
für eine Epoche gebe, als wäre diese ein einzelnes Kunstwerk.
Unter der Oberfläche streiten aber die verchiedensten Gegensätze.
Einen Ausweg aus dieser Ästhetisierung der Geschichte weise die
Betrachtung der Aufgaben. Sedlmayr stellte einen ganzen Katalog solcher
Fragen auf, die alle ihrer Erforschung und Klärung harrten und
für die es auch neue Methoden zu entwickeln gelte. Gerade hier
habe z. B. die soziologische Analyse ihre legitime Berechtigung, weil
sich in der Person des Auftraggebers Real- und Kunstgeschichte begegnen.
Die Betrachtung der Aufgaben vermittelt das einheitsstiftende Moment
in der komplizierten Entwicklung sich auch gegenseitig bekämpfender
Tendenzen.
Da diese Betrachtung nur für eine "mittlere" Epoche der
Kunstgeschichte gelte, weil es diese Aufgaben weder für die "Vor-"
noch für die "Nachgeschichte der Kunst" gebe - im 19.
Jahrhundert kommt es zur Ablösung der traditionellen Aufgaben durch
neue (Landschaftstgarten, Museum etc.) -, folgte die Skizzierung dieser
Abgrenzung.
Die an verschiedenen Aufgabenbereichen ausgerichteten Methoden Sedlmayrs
spiegeln die große Paradoxie der Kunstgeschichte.
Die Kunstwerke, deren Grenzen bei Gesamtkunstwerken im engeren Sinn
(wo die Künste einem "Dirigenten" unterstehen) und bei
Kunstverbänden nicht immer klar definiert werden können, sind
einerseits kleine geschlossene Welten für sich, Mikrokosmen, andererseits
Glieder einer Entwicklungskette. Heute widmen sich zahlreiche theoretische
Bemühungen der Auflösung dieses Konflikts. Sedlmayr hat den
Gegensatz in seinen Forschungen durch modifizierte Anwendung einer im
Grunde immer gleichen Methode überwunden. So kann man die "Methode
der kritischen Formen" als "Strukturanalyse", die sich
auf einen historischen Zusammenhang richtet, verstehen, wobei die "kritische"
oder "symbolische" Form dem "anschaulichen Charakter"
entspricht.
"Nach Nietzsche enthält keine Wissenschaft mehr Wissenschaft
als Methode in ihr enthalten ist", begann Sedlmayr seine erste
Vorlesung. Jedoch beschränkt sich sein eigenes Werk nicht auf ein
variationsreiches Durchspielen von Methoden, sondern ist gegründet
im Auftrag, die "Botschaft" der Kunstwerke zu entschlüsseln,
im Sinne der "Auferweckung der Väter" russischer Religionsphilosophen.
Diese Auffassung hat ihn stets vor dem im stereotypen Wissenschaftsbetrieb
des "Immer-mehr-von-immer-weniger-Wissens" (J. Meurers) bewahrt.
Das zahlreiche Auditorium dankte dem Vortragenden nicht zuletzt dafür.
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