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(Abbildungen in Arbeit)
Raum, Zeit und Licht
bei Henry Moore
In: "Alte und moderne Kunst", 162. Innsbruck
1979, S.27-31.
Wolfgang Steinitz (1939-1979) gewidmet.
Vorbemerkung:
Der folgende Versuch ist eine Stilanalyse des Lebenswerkes von Henry
Moore. Über Henry Moore ist wahrscheinlich mehr als über jeden
anderen Künstler unseres Jahrhunderts geschrieben worden. Wozu
also ein neuer Anlauf noch dazu eine Stil-Analyse? Ist der Stilbegriff
nicht längst ad acta gelegt, hat er sich nicht immer mehr, vor
allem in Konfrontation mit dem 19. Jahrhundert, von der Moderne
gar nicht zu schreiben, als untaugliches Mittel kunsthistorischer Interpretation
erwiesen? Hat man nicht schon vor Jahrzehnten zu Recht geschrieben,
der Stilbegriff gehe am Einzelwerk vorbei und vermag uns darüber
wenig zu erklären? Ohne diese und andere Einwände entkräften
zu wollen, rechtfertigt die Tatsache, daß Werke als einer bestimmten
Zeit zugehörig erkannt werden können, von einem Stil zu sprechen.
Stil muß deshalb nicht mit der traditionellen Bedeutung
(und ihrem Anspruch) identifiziert werden - auch der Stil«
hat seine stilistische Entwicklung durchgemacht - noch muß die
klassische Methode der Stilanalyse als einzig gültige übernommen
werden. Ihre Klassiker folgten einem linearen Schema, das von einem
räumlich verstandenen (z. B. haptisch, kristallin etc.) zu einem
zeitlich umschriebenen (z. B. optisch, malerisch-bewegt) Grundbegriff
führte. Das machte gerade die Raum- und Zeitproblematik unsichtbar,
der Raumbegriff blieb vieldeutig verschwommen, der Zeitbegriff weitgehend
unberücksichtigt. Erst mit der neueren Kritik am Stilbegriff errang
auch die Zeit mehr Aufmerksamkeit. Die Entwicklung von Formen
ist Abfolge von raumzeitlichen Einheiten. Stil hat niemals vom Raum
zur Zeit geführt (wie sich das A. Riegl und H. Wölfflin implizit
vorstellten), sondern immer in jeder Phase Raum-Zeit vorausgesetzt.
Was heißt das konkret? Die Erkenntnis von Raum-Zeit ist heute
vom Weltbild der Naturwissenschaften geprägt. Von daher sind zu
Beginn einige axiomatische Bedingungen zu begründen.
Der Begriff Raum-Zeit umfaßt als Kontinuum die vierte Dimension
der gesamten Wirklichkeit und ist nicht vorstellbar. Der Mensch als
Teil dieser Wirklichkeit spaltet sie in Raum und Zeit auf, versucht
sie jedoch indirekt zu rekonstruieren, zu erschließen. Die Vorstellung
eines dieser Teile ist nicht von der des anderen zu trennen. Die Auseinandersetzung
der Interpretation ist Zeit von der formal-räumlichen
Komponente nicht zu trennen, d.h. manche Plastiken sind an beliebigen
Orten aufstellbar, andere verändern sich dadurch und damit auch
die Wahrnehmung des Betrachters. Diese Veränderungen
sind nicht materieller Natur, es entstehen nicht andere Formen, sondern
dieselben akzentuieren sich, und dabei spielt das Licht die entscheidende
Rolle. Strahlt eine Lichtquelle in gleicher Weise zwei Gebilde an, können
deren Erscheinungsweisen sehr verschieden sein, indem sie ihrer räumlichen
und zeitlichen Struktur gemäß reagieren, das Licht aufnehmen
bzw. reflektieren.
Um dergleichen zu untersuchen, ist es notwendig, das Problem der ästhetischen
Grenze zu vergessen. Dieses Scheinproblem setzt allgemeinen leeren
Raum gegen den Raum der Kunstwerke ab. Aber jede Form schafft ihren
eigenen Raum, wie zu zeigen ist, und der Raum einer Plastik hört
erst dort auf, wo sie nicht mehr sichtbar ist, und nicht dort, wo der
reale, empirische Raum, der eine idealisierte
Fata Morgana ist, beginnt. Zu den ausdrücklich als Kunstwerke geschaffenen
Dingen unserer Umwelt sehe ich keinen grundsätzlichen Unterschied
(die nicht gestaltete Umwelt aber nehmen wir gestaltend wahr, interpretieren
sie mittels unseres Vorverständnisses). Mit der Zeit verhält
es sich nicht grundsätzlich anders.
Jede Stilanalyse benützt Vergleiche, dabei kann es nicht um absolut
richtige Beschreibungen gehen. So sind auch die folgenden Darlegungen
derart zu relativieren.
Raum und Licht
Das Frühwerk Mutter und Kind (1925) ist vollplastisch geschaffen,
als autonome Einheit ohne Bruch und Unregelmäßigkeit im Material.
Eine Ansicht läßt die anderen Seiten erschließen, dabei
sind keine Überraschungen zu erwarten. Die Einheit des Themas ermöglicht
zugleich die räumliche Orientierung. Raum ist dabei das Werk selbst,
der von dessen
Oberfläche begrenzt ist. Man kann die Skulptur an einen beliebigen
Ort stellen, es wird sich an ihr selbst nichts ändern. Sowohl die
dabei auftretenden Veränderungen des Umraumes oder Hintergrundes
wie die Lichtverhältnisse sind irrelevant. Der Umraum kann als
Folie, Kontrast wirken, nicht als Ergänzung, Erweiterung, Teil
der Plastik. Das Licht vermag in seinen Wandlungen, vom indifferenten
Licht bei Bewölkung bis zu künstlicher Bestrahlung, lediglich
auf der Oberfläche als Glanz wirken, die Schattenzonen sind plastische
Modellierung und Erkenntnis- bzw. Wahrnehmungsstützen. Einer Grenze
zwischen Licht und Schatten entspricht eine formale Gegebenheit in plastischer
Weise. Der Raum-Körper ist für die visuelle Wahrnehmung identisch
mit Licht-Schatten. Ein Aufeinandertreffen von Licht und Schatten in
einer bestimmten Zone läBt z. B. einen Arm erkennen; das Dunkel
darüber oder darunter ist nicht das Unbekannte, es kann hier nichts
Unvorhersehbares, etwa eine Höhlung in den Leib dieser Plastik,
erwartet werden.
Das hat sich in der Saitenplastik (1933) geändert. Dies hängt
nicht nur von der Tatsache ab, daß es eine ungegenständliche
Plastik ist, daß eine nicht sichtbare Seite in ihrem formalen
Verlauf schwerer vorgestellt werden kann. Sicher gibt
es ein Spektrum von Möglichkeiten, und darüber hinaus ist
es unwahrscheinlich, daß beliebige Formen (etwa gegenständliche)
hier anzutreffen sind. Die entscheidende Neuerung betrifft das Aufgeben
kompakter materieller Körperlichkeiten. Der Körper ist als
einander zugeordnete Spannungsverhältnisse aufgefaBt, innerhalb
einer plastischen Hülle. Darüber ragt ein Teilstück flossenartig
empor, das mit dem Rumpf mittels Saiten verbunden ist, in ähnlicher
Weise wie die Ober- und die Unterseite des aufgebrochenen offenen Rumpfes
miteinander verspannt sind. Denkt man die Verspannung des oberen aufragenden
Teilstückes weg, entfällt die gerichtete Beziehung, der damit
verknüpfte Teilraum löst sich auf, das Stück bildet nur
noch sich selbst als Stückraum ab. Die parallelen Saiten, die in
dreifacher Weise den Innenhohlraum des Werkes gliedern, konstituleren
drei sich überlagernde Aspekte, Teilräume.
Nur wenig dringt von diesem Gebilde nach außen. Eine Licht-Schatten-Grenze
bedeutet bei der Saitenplastik nicht notwendigerweise einen körperlichen
Bruch wie bei der Mutter mit Kind. Sie ist j Antwort auf die
bestehende Lichtsituation. Wenn wir nach der Beschaffenheit der Rückwand
im Innern fragen, können wir das ohne Ausleuchtung, ohne einen
Blick hinein nicht beantworten. Ändert sich der Winkel der Beleuchtungsquelle,
verläuft die Licht-Schatten-Grenze entsprechend der Modellierung
stufenlos anders. Nicht so beim ersten Beispiel, wo eine Licht-Schatten-Grenze
organisch identifizert werden kann, dem tatsächlichen Verlauf einer
plastischen Form entspricht. Die Saiten nehmen in anderer Stofflichkeit,
transparent doch sichtbar, am Licht-Schatten-Spiel teil. Sie mögen
die Skulptur in den materiell nicht erfaBten, d. h. nicht ausgefüllten
Frei-Teil-Raum weiterführen (wie in der Abbildung des Werkes) oder
Licht- bzw. Schatteninseln bilden, die sich bei Drehung des Werkes oder
Veränderung einer Lichtquelle ständig wandeln. Durch den Mangel
an thematischer Erschließbarkeit erscheinen dem Betrachter im
Umschreiten der Plastik neue Ansichten. Durch die Konstruktion als Hohlgebilde,
den freien Verlauf der Konturen und die Saitenspannung erscheint das
Werk beim Wechsel des Lichtes, indem dieses verändert oder es selbst
bewegt wird, jeweils verschieden. Es ist vom Lichtumraum, aber nicht
von der Gestaltung der Umgebung abhängig. Insofern ist es wie das
erste Beispiel ebenso transferierbar und verlangt nicht nach einem bestimmten
Ort.
Das Saitenspiel ist auf abstrakte Bildwerke beschränkt und erweiterte
die Erfahrung auch anderer Künstler. Es formuliert einerseits Beziehung
von einander gegenüberliegenden Flächen und macht sie zu Innenflächen
der damit angegebenen Teilräume, andererseits schafft es auch Substanz
und Struktur von Zwischenräumen. In Ergänzung zum gemaserten
Holz (z. B. Vogelkorb) kann eine je nach Beleuchtung variable
"Schattenmaserung" entstehen. Die Antithese zu den Saiten
bildet das von Archipenko übernommene Loch, der Durchbruch einer
Fläche. Es verbindet Außenflächen, schafft hierbei eine
Beziehung zwischen vorne und hinten und stellt selbst eine sichtbare
(Negativ-)Form dar. Auch diese Löcher sind Zwischen- und Innenräume,
sie stehen neben Körperräumen und bilden mit diesen ein Kontinuum.
Sind die Saiten nur bei abstrakten Werken einsetzbar, gilt das nicht
für die Durchbrüche, Hohlräume und Ummantelungen.
Die Strukturierung von Innenräumen der Plastik, die damit zugleich
in die Tendenz verfällt, sich gegen das AuBen abzukapseln, findet
ihr Echo wieder in den berühmten Bunker- und Bergwerkszeichnungen,
wo auch von der Themenstellung her eine Verpuppung einzelner Gestalten,
eine Isolierung selbst bei Gruppen stattfindet. Dies wird in der Folgezeit
zu einer bipolaren Räumlichkeit, zu einem Wechselspiel von lnnen
und Außen (Titel einer Plastik) führen. Mit Recht
hat man festgestellt, daß in den 50er Jahren bei Moore sich arbeitstechnisch
vor allem zwei Dinge ändern. Zum einen löst die Plastik die
Skulptur ab, d. h. Moore gestaltet nicht mehr aus dem Block, sondern
fügt zusammen, womit auch die Technik des Bronzegusses an Interesse
gewinnt. Zum andern zeichnet Moore immer weniger, sondern verwendet
Maquetten als Vorbereitung. Auch wenn ein Bildhauer mehrere Ansichten
einer Plastik zeichnet, so bleibt sie jeweils einansichtig.
Bei Maquetten, von denen sich Moore ein kleines »Museum«
zusammengestellt hat, wird das plastische Gebilde mehrsinnig erfaBbar.
Es kann von mehreren Seiten zugleich umfaBt werden, es kann ständig,
in allen Zwischenstadien sichtbar, gedreht werden und das wird
in den nächsten Jahren immer wichtigeres wird in seinen Relationen
zur gesamten Umwelt kalkulierbar. Durch die Perspektive der Fotografie
kann ein Stück in jede gewünschte Landschaft hinein monumentalisiert
werden. Bevor es allerdings zu einem Aufbruch in die Landschaft kommt,
setzt Moore die gegenstandslos gewonnenen Teilräume figural um.
In der
Liegenden Figur Nr. 1 (1945) ist eine Synthese erreicht worden.
Bei Wiederaufnehmen eines gegenständlichen Themas sind die Teilräume
fließend aufgefaßt, es bilden sich lediglich begrenzte Binnenvolumen,
wie zwischen Brust und Schultern, aber keine inneren Hohlräume.
Das verhindern die Durchbrüche, die im Kontrast zu den früheren
Vollplastiken auf die skelettartigen Strukturen der 50er Jahre vorausweisen.
Das Licht gleitet die Formen leicht entlang und bildet je nach Ansicht
und Beleuchtungsrichtung verschiedene Kreisläufe. Die Lichtbahnen
sind bei manchen Formen stegartig begrenzt, manchmal schimmern sie unentschieden
in Grauwerten. Es gibt keine eindeutige Licht-Schatten-Grenze, sondern
Wahrscheinlichkeitsbereiche, welche zugleich Bewepungsrichtungen und
Formen (Arme, Beine) sind. Mit anderen Worten, es gibt keine eindeutig
begrenzten Formen, mit denen Licht und Schatten identisch sind (wie
in der Frühphase), aber auch keine Licht-Schatten-Grenze, die je
nach Beleuchtung kontinuierlich verschiedene Aspekte einer Form offenlegen
(wie bei der Saitenplastik).
Damit diese von "Lichtbügeln" getragene Figur wirken
kann, ist sie auf den Betrachter ausgerichtet.
In den 50er Jahren ist bei vielen Plastiken eine Tendenz zur Frontalität
festzustellen. Oft hinterfängt Moore Figuren mit Stellwänden
aus demseiben Material. Ebenso frei aufgestellte Großplastiken,
wie die Liegende vor dem Unesco-Gebäude in Paris (1957-58),
bedürfen einer Architekturfolie, auch wenn eine solche wie in diesem
Fall vom Künstler als negativer Faktor verstanden worden ist.
Es erscheint paradox, daß Moore zur gleichen Zeit, als er in den
Landschaftsraum vorstößt, eine immer größere Reduktion
in die Fläche in Kauf nimmt. 1955 heftet er nur noch amorphe Massenfragmente
an die Wand des Bouwcentrums in Rotterdam. Hier trifft er sich mit den
Strömungen der gleichzeitigen Malerei (etwa Asger Jorn), wiewohl
er nie die letzte, seinem Temperament widersprechende Konsequenz einer
informellen Zertrümmerung der Oberfläche zieht, wie wir sie
in diesen Jahren von so verschiedenen Künstlern wie J. Lipchitz,
E. Paolozzi und J. Dubuffet kennen.
Der Angriff der Umwelt auf Plastik, vor dem sie sich wie bei A. Giacometti
auf anthropomorphe Rest-Stelen zurückzieht, zwingt die Gestalten
in die Fläche oder raubt
ihnen ihre Leiblichkeit. In den kleinköpfigen, knorpelig-geknoteten
Konturen der Stehenden
Doppelfigur (1950), denen wie die Arbeiten von D. Smith oder J.
Miro totemhafte Züge eignen, gelingt keine räumlichformale
Identifizierung mehr. Die scheinbare Offenlegung durch Beschränkung
auf wenige Akzente innerhalb des Gerüstes täuscht, weshalb
Moore es auch einfallen konnte, zwei identische Abgüsse nebeneinanderzustellen,
deren verschränktes Raumgeflecht nicht mehr zu überblicken
ist, auch wenn man sie x-mal umschreitet.
Wenn das Licht auf den Oberflächen informeller Plastiken auseinanderbricht,
so hat es bei den Stehenden ebensowenig kontinuierlichen Charakter,
entweder es hellt auf oder es verschattet. Solche Formen wandeln sich
dadurch nicht, dennoch gibt es Wirkungsunterschiede. Erzwingen sie in
der Rezeption ein Umschreiten, so verändern sich dadurch die Hintergründe.
Die Silhouetten kommen am besten vor dem indifferenten Leuchtgrund des
leeren Himmels oder großer Plätze zur Geltung. Mögen
diese Folien nichts weiter als jeweilige Flächen sein, so ist doch
die Umwelt essentiell und nicht beliebig. Denn sie wird in der Plastik,
durch sie hindurch gesehen und kann mehr oder weniger stören. Von
nun an wird Moore gröBten Wert auf die Aufstellungssituation legen,
eine wechselseitige Gestaltung greift immer bewußter Platz. Moore
stellt nicht einfach autonome Plastik" ins Freie, sondern
das Verlangen danach verändert das formale Vorgehen. Eine Änderung
der Aufstellung bringt eine neue Licht-Umraum-Situation mit sich.
Da diese konstitutiver Teil und Bedingung für die Plastik ist,
kann sie dadurch in ihrer Wirkung verlieren. Den unruhigen 50er Jahren,
in denen Moore experimentierend die weiteste Spannweite seines Schaffens
erreicht, folgen die60er Jahre, in denen sich die Oberflächen wieder
glätten und die Monumentalität weder durch mythische Verweise
(Der König und die Königin, 1952-53, Aufrechte Motive)
noch durch Angst (Mutter und Kind, 1953) gestört wird und
die stützenden Wandfolien fallen.
Es ist ein wesentlicher Unterschied, ob man eine Plastik umfassen kann,
ob man sie verschiedenen Beleuchtungsrichtungen aussetzen soll, ob man
sie umschreitet oder ob sie sich schließlich in der freien Landschaft
dem menschlichen Maßstab zu entziehen sucht. Die zwei letzten
Jahrzehnte hat Moore Zeichen in »überragenden« Dimensionen
gesetzt. Die neuen Formen eignen sich zur Herstellung in verschiedenen
Größen, Moore hat z. B. ! die Atomplastik (1962-63)
in dieser Weise vom kleinen Bronzequß bis zur großen Freiplastik
(Universität von Chikaco) varliert. Die Drei Stehenden Figuren
(1947-48) war die erste bewußt für eine Ausstellung im Freien
(Battersea Park, London) geschaffene Plastik. Damals sind es lediglich
die zaghaften Blicke der drei Köpfe, die den Rahmen der aufeinander
bezogenen Leiber verlassen. Folgt ihnen der Betrachter, nimmt er, den
Raum der Plastik verlassend, Natur wahr.
In den 60er Jahren überragen die Werke den Betrachter, er empfindet
den eigenen perspektivischen Standort, auch wenn er ihn ständig
verändern kann, als Beschränkung, als ungenügenden Ansatz.
Das gilt in gleicher Weise für geschlossene wie für offene
Formen, die gleichzeitig nebeneinander entstehen. Es hätte nach
wie vor keinen Sinn, nach stilistisch-formalen Kriterien alles Disparate
unter einen Nenner zu bringen. Allein die Tatsache, daß (natürliche
oder städtische) Landschaft und nicht mehr Innenräume den
Werken Platz bieten, ist gemeinsames Kennzeichen. Werke wie Dreiweg-Stück
(1964), Geschlossene Plastik (1963-64), Zwei Große Formen
(1963 und 1969), die sich zugleich gegen ihre Umwelt behaupten wie sie
sich einfügen, werden aus großen Entfernungen wahrgenommen.
Der Bogen
(1963 und 1969) ist in seinen riesigen Dimensionen Relikt mythischer
Kulturen, jedoch nicht nur Zeichensetzung wie ein Menhir ohne Gestaltung.
Er ist ein organoides Megalith-Stück, eine ästhetische Umsetzung
von Stonehenge (das Moore gezeichnet hat). Der geworfene Schatten, die
Wiese, Bäume, der Himmel mit seinen Wolken gehören zu dem
Werk selbst und vervielfältigen, hinterlegen und ergänzen
das knöcherne Riesenwesen. Keine Ansicht wiederholt sich, da sich
der Umraum ständig wandelt. Es gibt kein Licht, das alle Formen
auszuleuchten vermöchte, Außen und Innen sind nicht abgrenzbar.
Eine bestimmte Beleuchtung oder gar ein Anstrahlen von allen Seiten
ergäbe keinen Sinn. Das Miteinander von scharfen Licht-Schatten-Grenzen
und graduellen Übergängen, die beide sich ständig verändern,
würde sich dabei verlieren.
Bei den früheren
Werken ist der Standort des Betrachters und der Lichtquelle grundsätzlich
austauschbar, der »Bogen« setzt die kontinuierliche Sonnenbahn
als Beleuchtung voraus. In ihr entfaltet er sich, gibt er sich preis
und verschließt er sich zugleich. Indem er dem Tagesrhythmus und
dem jahreszeitlichen Zyklus antwortet, unterliegt er raum-zeitlichen
Gesetzen wie er ihnen in seiner formalen Eigenheit trotzt. Man muß
sich daran erinnern, daß die Sonne zu jedem Zeitpunkt des Tages
und Jahres in bezug auf den Ort des Bogens anders steht. Erst in einem
anderen Jahr wiederholt sich dieses Verhältnis - dann allerdings
ist die Natur herum nicht gleich, die Bäume gestutzt oder gewachsen,
der Himmel bewölkt, Menschen darunter, die Oberfläche verändert
usw. Hier ist zwischen räumlicher und zeitlicher Beschreibung nicht
mehr zu trennen. In der unendlichen Variabilität des Sonnen-Licht-Schatten-Spiels,
die nur ein Film - wenn möglich von allen Seiten zugleich - wirklich
bannen könnte, ist der Bogen ein zeithaft-pflanzliches Naturwesen.
Indem es diese Verhältnisse nicht nur passiv aufnimmt oder projiziert,
wie die Steine tierkreisbezogener Kulturen, entzieht es sich zeitlos
als formal-aktive Umsetzung. Der Bogen ist ein Tor für den
Menschen, das in einen Bereich führt, in dem ewige Gesetze und
subjektives Erleben nahtlos ineinander übergehen, er ist eine Initiationsschwelle
in ein ästhetisches Paradies.
Die Verbindung zur Natur kann sich auch darin äußern, daß
Schafe das daher so genannte Sheep-Piece (Anfang der 70er Jahre)
umweiden oder Enten den Hügelbogen (1972, seit 1978 vor
der Karlskirchein Wien) umschwimmen. Im Hügebogen setzt
sich Moore noch einmal mit dem Gegenspiel von Innen und Außen
auseinander. Nun sind es nicht mehr umschließende und herausdrängende
Flächen und Formen, sondern Kraftlinien. Wie aus einer Radierung
(1969) hervorgeht,
dachte Moore zunächst an ein gegenseitiges
Uberlagern und Uberlappen auf einem Kern. In der Ausführung wurde
daraus in der offenen Außenhülle ein austariertes Zueinander
um ein bipolares, dynamisch gegeneinander gesetztes Zentrum. Auf den
glatt-polierten Flächen spiegelt sich das Licht, wirft Schatten
hinein, wo im Halbdunkel von unten die Reflexe des Wassers flimmern.
Der Aufstellungsort
ist unglücklich für die Plastik und rettet den Karisplatz
nicht.
Trotzdem hat Moore in der Wahl des Standortes ein weiteres Moment dazugebracht.
Der Hügelbogen ist in die Wasserellipse vor der Kirche zurückhaltend
an
den linken Rand gesetzt, wo er den Blick auf Fischer von Erlachs Meisterwerk
nicht verstellt. Zugleich entzieht sich dem Betrachter die zum Wasser
stehende Rückseite, der er sich nur nähern (Klarheit verschaffen)
kann, indem er sich außen am Wasserrand immer weiter weg auf die
andere Seite zubewegt. Aus dieser Fernsicht bildet der Hügelbogen
mit den Menschen dahinter und den Bäumen und den weit entfernten
Häusern als Folie ein reich strukturiertes Werk-»Stück«.
Dem Gegensatz von "Zueinander des offenen Außen" und
"Auseinander des aufgebrochenen Innen" schließt sich
der Gegensatz der Fernsicht eines auf dem Wasser gleitenden Werkes und
der in Nahsicht sich aus den Wellen entwickelnden Dynamik vor dem architektonischen
Grund an. Der einen Seite kann man sich nähern, die andere, nicht
symmetrisch gestaltete bleibt entzogen. Diese Determinierung des Rezeptionsprozesses
macht das Ausmaß der Einbeziehung der Umwelt richtig bewuBt. Das
Werk kann den Bezug auf die Umwelt, auf ihre Gesetze dem Betrachter
vermitteln (wie im Bogen) oder dem Betrachter Bedingungen zu
einem bestimmten Sehverhalten stellen (wie im Hügelbogen. In
beidem wird die Rolle der Zeit greifbar.
Zeit und Licht
Zeit einer Plastik kann genausowenig wie vergleichbar der Raum die physikalisch-empirische
»Außenzeit« sein, die Dauer, die die Plastik sein
wird, schon war oder betrachtet wird. Zeit kann auch nicht das sein,
was mit der Plastik passiert, etwa wenn sie als ganze bewegt wird. Zeit
muB wie der Raum sich als Eigenschaft der Form in der Interpretation
erweisen. Zeit kann als Parameter jeder Veränderung damit auch
Verständniswandlungen meinen.
Aber, und das ist das eigentliche Problem, für das Hinweisen auf
zeitliche Aspekte setzt man schon eine Zeitvorstellung voraus. Wenn
es relativ leicht scheinen mag, sich am Raum der Werke unabhängig
vom Leer-Raum darumherum zu orientieren, so schwer ist es, der Werke
Eigen-Zeit überhaupt sichtbar werden zu lassen. Dies kann nur in
Beziehung zum Interpreten geschehen. Zeit als Parameter jeder Veränderung
ist für den Interpreten nicht einfach Vergangenheit, Gegenwart
und Zukunft. Dem wahrnehmenden Interpreten sind nämlich Vergangenheit
und Gegenwart nicht Parameter von Veränderungen. In der Interpretation,
die immer nur als gegenwärtiger Prozeß stattfinden kann,
ist allein Zukunft Medium des Wandels, also Zeit (dem historischen Betrachter
liegen vergangene 1, 2, 3 oder 10 Jahre gleich nebeneinander, die Zeit
in diese Richtung ist nicht mehr möglich, während in die Zukunft
1, 2, 3 oder 10 Jahre genau diese Zeitspanne von heute gerechnet brauchen,
um überblickt zu werden). Man kann Zeit nicht ontologisch, zeitlos
definieren wollen. Die in der Form angelegte Offenheit einer Plastik,
die der Wahrnehmende erfüllen wird, das ist Zeit.
Nicht bei jeder Form kumulieren sich die Einsichten zu einem Gesamtbild,
wie bei der Mutter mit Kind, dem Werk, dessen Rezeption sich
ansammelt, bis keine Frage nach der Form mehr offen ist. Dem räumlich-kompakten
Materie-Block entspricht ein begrenzter Zeit-Block. Erst dieser begrenzte
Zeit-Raum macht eine ruhig-dauernde Betrachtung möglich. Dieser
Dauer der empirischen Zeit unterliegen aber keine Veränderungen
der Ansichten der Plastik, der Eigenzeit mehr.
Der Aufstellungsort ist genauso unwichtig wie die Beleuchtung, sie
verändern am Formalen nichts. Die Plastik ist jedem Wahrnehmungsmodus
gegenüber offen. Raum-Licht und Zeit-Struktur sind von gleicher
Einfachheit, die die archaisierende
Gebundenheit erfüllt. Ganz konkret: ob bei einer bestimmten Beleuchtung
eine Wange glänzt oder bei einer anderen im Schatten liegt, verändert
den Ort der Wange nicht, der Licht-Schatten - Gegensatz kann sie nicht
weiter oben-unten-seitwärts- etc. ansetzen lassen, die Grenzen
sind stabil.
Bei der Saitenplastik ist ein Lichtwandel für die Betrachtungs-Zeit-Einheit
nicht belanglos, da eine Licht-Schatten-Grenze nicht in der eben beschriebenen
Weise mit einer Raumprenze identisch sein muß. Den nachvollziehbaren
Teilräumen entsprechen Teilzeiten, in denen die Wahrnehmung nur
diese sich im Lichtwandel mehr oder weniger verändernden Teilräume
erfaBt, ohne auf andere rückschließen zu können. Wie
es keinen einheitlich beschreibbaren Raum dieser Plastik gibt, ebensowenig
lassen sich die Teilzeiten unter eine gemeinsame Dauer subsumieren.
Dieses Werk ist nicht von einer Seite ruhig zu betrachten, immer entzieht
sich ein Teil mit eigener Raum-Zeit, die nicht vorstellbar zu ergänzen
ist. Im Beleuchtungsspiel der Saitenplastik kann man nicht während
der Wahrnehmung "zeitweise" aussetzen, denn dann entgehen
jeweils sich in den Teilräumen konkretisierende Lichtverhältnisse
(oder im Licht sich, vorher durch Schatten verdeckte, nun öffnende
Raumverhältnisse). Das Werk verhüllt sich vor Pausen der Wahrnehmung
und harrt nicht aus.
Die beiden ersten Werke reagieren auf Licht-Wechsel jeweils verschieden.
Dieser Wechsel ist ein Zeitfaktor; wenn ein Werk mehr als ein anderes
darauf anspricht, ist daraus zu schließen, daß es in seiner
Form offener auch der Wahrnehmung gegenüber ist. Die Form an sich
zeigt dem passiven Betrachter nichts, sie gibt aber dem Rezipienten
mehr oder weniger Bewegungs-Spiel-Raum. Der entscheidene Schritt von
einer verhältnismäßig primitiven Zeit-Form zu komplizierten
Zeit-Bezügen geschieht mit dem Ausbrechen kompakter Oberflächen
und der Schaffung von Innenräumen, womit ein Gleiten der Wahrnehmung
um eine und an einer Skulptur nicht mehr möglich ist. Die folgenden
Werke haben mit dem Licht sichtbar werdende Zeitstrukturen, die in der
Besprechung des räumlichen Aspektes schon angeklungen sind. Bei
der Liegenden Figur Nr. 1 wird in der frontalen Ausrichtung
die Vorderansicht nahegelegt. Hierbei sind die verschiedenen Kreisläufe,
in die sich die Wahrnehmung einstimmt, das wichtigste, durch andere
Blickinseln zu ergänzen, zeitliche Moment.
Wir sehen, daß grundsätzlich in der zeitbezogenen Analyse
verschiedene Bewepungsrichtungen und -arten zu unterscheiden sind. Einmal
wird die Skulptur von allen Seiten betrachtet, dann von einem perspektivischen
Feld vor dem Werk aus.
Schließlich können beide Arten unerschöpflich kombiniert
werden wie in der Stehenden Doppelfigur, die im jeweiligen Durchblick
beim Umschreiten sich nicht zu einem einheitlichen Form-Bewußtsein
fügt. Damit hat die Betrachtung immer wieder anzusetzen, und die
Zeit erfüllt sich nicht in einfacher Weise wie z.B. in einem Umschreitungskreis.
In den 50er Jahren kann durch die Emotionalisierung der Formensprache
auch eine Veränderung der Geschwindigkeit notwendig werden. Das
erschreckende Weichen der Mutter vor dem schnabelnden Kind findet jäh
und überraschend statt, während ihr gemeinsamer Unterleib
ruhig bleibt.
Die im Sonnenlauf sich bewegenden Beleuchtungssituationen, der überindividuelle
Tages- und Jahreslauf, prägen langfristig die abgeschllffene Felsen-Baum-Ruine
des Bogens von oben her. Das Momentane ist genommen, in immer
neuen Varianten ordnet sich annährend der Wahrnehmungsprozeß
des Betrachters unter. Zum Licht-Spiel hinzu tritt endlich beim Hügelbogen
auch noch eine Determinierung der Bewegung und damit eine Beschränkung
möglicher Einsichten in die zeitlichen Bezüge innerhalb der
Plastik.
Schluß
Der vorangegangene Ansatz, die Zeit als konstitutive, der Form immanente
Offenheit (und auch Verschlossenheit) der Wahrnehmungsbewegungen aufzuzeigen,
lassen einen Mangel erkennen: unsere fehlende Sensibilität der
Zeit gegenüber. Die Zeit wird in naivem Rationalismus als eindimensional
und gestaltlos vorgestellt. Identifiziert
man sie mit dem potentiellen Feld der Wahrnehmung, erkennt man bald
die Notwendigkeit einer Erweiterung des Begriffes. Es kommt nicht auf
die
Länge der (eindimensionalen) Zeitspanne an, wenn man sich dem Werk
nähert, sondern auf die Art der Bewepung.
Die eindimensionale Zeit ist formal übersetzt das Abschreiten einer
Linie. Wenn man um ein Werk im Kreis schreitet, so ist das eine weitere
formale Umsetzung, die historisch betrachtet dem mythischen Denken als
Zeit zugrunde lag. Und darüber hinaus gibt es die Notwendigkeit
ohne Achsenzentrum, den Formen folgend in mehrere Richtungen (und Dimensionen)
den Blick zu lenken. Mit einigem Recht ist daher auch schon versucht
worden, solche Bewequngsarten als Zeitdimensionen den Raumdimensionen
(Punkt, Linie, Fläche, Kubus) anzuschließen.
Und auch das Licht ist nicht ein Zustand, sondern das zentrale Medium,
das uns Raum und Zeit als Aspekte der Form erschließen läßt.
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