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Erinnerungen an Nichtwissen bei Kazuo Ishiguro *
Kunst der Menschen im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit
Schweigen ist nicht das zentrale Kriterium des Nichtverstehens. Es kann ruhig darüber gesprochen werden, aber es hilft nicht weiter, wenn Miss Lucy den Kindern von Hailsham zu erklären versucht, was später einmal ihre Rolle sein würde. Rückblickend wird Kathy, die Titelheldin des Romans diese überraschende Tatsache so umschreiben: „Aber, wie ich schon sagte, vom Inhalt ihrer Ansprache war überraschend wenig die Rede. Wenn doch einmal die Sprache darauf kam, sagten die Leute meistens: ‚Na und? Das wissen wir doch alles längst.’ Aber genau darum war es Miss Lucy ja gegangen. Wir wussten es und wussten es doch nicht, wie sie formuliert hatte.“
Was die „Kollegiaten“ wussten und zugleich nicht wussten, war, dass sie als Klone erzeugt worden waren, damit sie später als Spender, als Organspender, eingesetzt werden konnten. Jedes Kind war nicht viel mehr als eine Organbank, damit echte Menschen nach den Verpflanzungen länger leben durften. Sie hatten in Hailsham, einem Projekt für das, wie sie Jahre später erfuhren, sich Miss Emily und „Madame“ eingesetzt hatten, wie man sich für ein Wohlfahrtprojekt engagiert, eine unbeschwerte Jugend verlebt, bevor sie sich weiteren Vorbereitungen in verschiedenen Zentren unterziehen mussten, bis sie nach einer Zeit als „Betreuer“ schließlich zum Spenden ausgenommen wurden, manche nur zwei Mal, andere vier Mal. Sie wussten darüber Bescheid und würden es in späteren Jahren auch nie in Frage stellen. Niemand von ihnen versuchte zu flüchten, weil man sozusagen aus seiner eigenen Haut nicht fliehen kann. Nur ein Gerücht gab es immer wieder, es entsprang wie von selbst in den Köpfen der Spender. Wenn sich zwei von ihnen liebten, dann gäbe es nach einer Überprüfung einen Aufschub von mehreren Jahren. Den strebten viele von ihnen an, auch wenn sie nicht wussten, wo man das beantragen hätte können, ob es dafür entsprechende Formulare gäbe, wer die Instanz der Etscheidung war - und vor allem, wie die Gutachter dann hätten überprüfen können, ob die jeweiligen Antragsteller nur die Liebenden spielten oder tatsächlich Liebende waren. Die Hoffnung war so stark, dass die meisten offenbar gar nicht mehr an dem Faktum dieser Möglichkeit eines Aufschubs zweifelten, sondern sich nur darüber Gedanken machten, wie die Verantwortlichen das überprüfen hätten können.
Hätten sie tatsächlich gewusst, was sie wussten, wäre ihnen diese Idee gar nicht gekommen. Dann hätten sie verstanden, dass sie für die Menschen nur Organ-Material darstellten, das man genauso in Reagenzgläsern oder Bio-Maschinen hätte züchten können. Es war schon paradox genug, dass man Sponsoren gefunden hatte, die die kostspieligen Jahre in einem so herrlichen Internat wie Hailsham finanzierten, nur damit die Spender einige Jahre unbeschwert heranwachsen konnten, auf Kosten dieser humanitär gesinnten Menschen eine unbeschwerte Kindheit verleben durften. Hier wurden sie geschult und wurden zum Schreiben von Gedichten und Malen von Bildern ermuntert.
Tommy, der männliche Klon und die Hauptgestalt zwischen Kathy und Ruth, entwickelt schließlich die Theorie, wozu sie überhaupt malen und zeichnen sollten. Denn manchmal kam Madame nach Hailsham und nahm für ihre „Galerie“ die besten, die gelungensten Bildwerke an sich. Das wurde den Kindern gesagt, ohne dass sie irgendwie darüber aufgeklärt wurden, um was für eine „Galerie“ es sich dabei handelt, ob man da ausstellte oder verkaufte, und wie man das eingenommene Geld wieder investierte. Tommy glaubte schließlich, dass die Bilder Einblicke in das Innere der Kinder erlaubten und man durch einen Vergleich der Bilder der Verliebten eine Entscheidungsgrundlage hätte, ob die Liebe wirklich echt wäre und man ihnen einen Aufschub zubilligen konnte. Rein äußerlich war das schließlich niemandem anzumerken, aber der Blick in ihr Inneres hätte jeden Betrug auffliegen lassen. Tommy, der zunächst sich um kreatives Schaffen drückte und offensichtlich untalentiert war, nahm diese eigene Theorie schließlich zum Anlass, sich beim Zeichnen und Erfinden merkwürdiger Tiere anzustrengen.
Kunst gewähre aus der Sicht der Klone einen Blick in ihr Inneres, auf die Wahrheit ihres Innenlebens, das sie offensichtlich im Laufe der Jahre entwickelten wie normale Menschen auch. Doch das war für die Projekt-Betreiber keineswegs klar. Überhaupt wird sich später herausstellen, dass es unter gar keinen Umständen derartige Aufschübe der Spenden gab, auch nicht in irgendwelchen Ausnahmefällen. Ruth starb bereits nach ihrer zweiten Spende und vermachte ihrer Freundin Kathy als eine Art Erbe ihren Geliebten, Tommy, und zwar mit einer Adresse. Sie hatte diese Adresse von Madame recherchiert und hoffte, dass die beiden dort einen Aufschub bekommen würden. Als Kathy und Tommy in jenem Haus tatsächlich Madame und ihre alte Aufseherin Emily aus Hailsham treffen, stellt sich heraus, dass die Bilder dort nur aufbewahrt und nicht für das Publikum ausgestellt wurden. Die Sponsoren von Hailsham konnten mithilfe der Bilder davon überzeugt werden - so die Erklärung für die Sammlung -, dass es sich bei den Spendern nicht nur um organoide Maschinen, um „schemenhafte Objekte in Reagenzgläsern“ handelte, sondern tatsächlich um Menschen. Die Bilder zeigten schließlich, dass sie eine „Seele“ hatten. „’Bitte sehr, sehen Sie her!’, konnten wir sagen. ‚Sehen Sie sich diese Kunstwerke an! Wie können Sie wagen zu behaupten, diese Kinder seien nicht ganz und gar menschliche Wesen?’ O ja, damals bekam unsere Bewegung sehr viel Unterstützung, wir hatten Rückenwind.“
Hätten die Klone keine Seele vorzuweisen gehabt, wäre ihre Sonderbehandlung im Internat überflüssig und sinnlos gewesen. Man hätte sie wie Tiere halten können, mit ausreichend Futter und ohne eine Erziehung und Ausbildung. Hätten die Kollegiaten keine Werke geschrieben, gezeichnet, skulptiert oder gemalt, wären sie dann keine menschlichen Wesen gewesen? Ist die Kopie eines Menschen kein Mensch? Warum sollten Klone ein Defizit aufweisen, das sie von ihren Vorbildern unterscheidet. Worin liegt dieses Defizit begründet? Liegt es am Zeugungsakt, an der Liebe der leiblichen Eltern? Ist ein geklontes Schaf etwa kein Schaf? Warum aber sollen Dolly oder andere geklonte Tiere weniger gesund als ihre Vorbilder gewesen sein? Der Autor Kazuo Ishiguro setzt in seinem aus der Ich-Perspektive eines Klons geschriebenen Roman, der buchstäblich eine zugleich beklemmende Science-Fiction-Schilderung wie eine locker lesbare Biografie zu sein scheint, am Problem des Bewußtseins an. Vielleicht weitet er auch mehr oder weniger deutlich die so oft zitierte These Walter Benjamins aus, dass das „Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ (1931) seine Aura verliere. Haben Kunstwerke technisch reproduzierter Menschen eine Art Aura, die man beim Menschen genauso vage als Seele umschreibt? Könnte die Kunst dieser nicht-wissenden Reproduzierten eine Aura haben, obwohl die Klone selbst keine Seele hatten. Das ist die zentrale Frage. Nach der Seele der Menschen fragt man erst, wenn man glaubt, sie sei verloren gegangen.
Ishiguro beschäftigt sich an keiner Stelle mit philosophischen oder gar religiösen Vorurteilen. Nur dort, wo man die Seele als vom Körper unabhängiges Wesen versteht, spielt die Art der Erzeugung von Körpern überhaupt eine Rolle. Und nur dort, wo man die Seele als von körperlicher Individualität unabhängige Identität erklärt, kann ein reproduzierter Körper nicht auch eine Seele für sich beanspruchen. Der anglojapanische Autor begibt sich nicht in den Irrgarten abendländischer Unsterblichkeitsspekulationen, sondern verzichtet darauf zugunsten der Innen-Perspektive der Geklonten. Für diese gab es die Probleme gar nicht - oder erst wenn sie sich einen kleinen Aufschub wie normale Menschen auch wünschen. Auch Klone leben gerne ein bisschen länger.
Das was die Kollegiaten nicht wussten, „obwohl sie es doch wussten“, betraf allerdings ihre Rolle als Spender, die von ihnen wie selbstverständlich angenommen wurde. Für sie selbst war nicht zu bezweifeln, dass sie eine Seele hatten. Die Frage stellte sich ihnen gar nicht. Sie stellt sich erst, wenn es um die Definition von Unterschieden geht. Was die „normalen“ Menschen nicht wussten, war, ob es sich dabei überhaupt um Menschen mit Seelen handelte. Doch dieses Nichtwissen resultierte aus dem Distinktionszwang. Für jeden unbefangenen Beobachter stellt sich die Frage gar nicht, weil es äußerlich keine sichtbaren Unterschiede gab. Das Wissen um die Klon-Differenz zwang die Beobachter zu einem Kriterium der Unterscheidung, das traditionellerweise „Seele“ genannt wird.
Wenn sich die Spender und Betreuer Jahre später über die Empfindungen Anderer unterhalten, wenn sie eine Spende überstanden hatten, dann geht es in den Gesprächen wieder um das Nichtwissen. „Woher sollte er das wissen?“, fragte Ruth. „Wie sollte er wissen, was Chrissie empfunden hat? Was sie gewollt hätte? Er war’s ja nicht, der da auf dem OP-Tisch lag und sich ans Leben klammerte. Woher will er das alles wissen!“ Und etwas später: „Woher willst du das wissen?, sagte Ruth. „Wie kannst du das wissen? Du bist immer noch Betreuerin.“... „Sie kann es nicht wissen, oder, Tommy? Nicht, wie es wirklich ist.“
Das Nichtwissen trennt hierbei die Spender von den Betreuern, beide aber sind ehemalige Kollegiaten, d.h. Klone. Das Nichtwissen stellt die Grenze zwischen Informierten und Uninformierten, bzw. jenen, die eine Erfahrung gesammelt haben und den anderen, die es noch vor sich hatten, dar. Anders das analog wirkende Nichtwisen der Kinder in Hailsham. Denn es charakterisierte ein Wissen, das mit dem Nichtwissen identisch war. Die Menschen wussten im Gegensatz zu den Klonen, weil sie aus Erfahrungen die spätere Aufgabe kannten. Das ist aber bei jedem normalen Kind nicht anders, für das die Erfahrung der Eltern und Alten nicht wirklich zählt, weil es sie selber machen muß. Das Nichtwissen in Hailsham allerdings war doch von anderer Art, denn die Menschen haben selbst gar nicht die Erfahrungen der Spender gemacht und geben nur vor, wirklich zu wissen.
Ganz gleich, ob dieses Nichtwissen an der Grenze zwischen Menschen und Klonen nistet oder an der Schwelle zwischen den Klonen, die schon zu Spendern geworden waren oder erst noch als Betreuer tätig waren, siedelt - in allen Fällen wird die Außen- mit der Innenperspektive kontrastiert. Philosophisch schlachtet diese Erfahrungsgrenze das Schachtel-Problem von Ludwig Wittgenstein aus. Jeder kann behaupten, in seinem Kästchen einen Käfer zu haben, solange man sie nicht öffnen darf, ist das Gerede darüber irrelevant und nicht zu entscheiden. Das gilt analog für die Schmerzen anderer Menschen, die man nicht ebenso empfindet, selbst wenn man noch so mitleidet. Und erst recht ist das Konzept der Seele betroffen.
Das Kunstkonzept, der Glaube an Bildwerke, dass sie das Schachtelproblem lösten, dass man in ihnen der Seele ansichtig werde, dass sich das Nichtwissen vom Wissen unterscheiden ließe, diese Vorstellung scheitert nicht nur in dem Roman Alles, was wir geben mussten.
* Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten. Aus dem Englischen von Barbara Schaden. Karl Blessing Verlag, München 2005 |