Die Allegorien des Mark Tansey
(Anleitung zu einer Dekonstruktion der Moderne)

NOEMA Art Journal Nr. 43, Januar/Februar 1991, S.23-33


Mark Tanseys Bildwelt täuscht einfach. Da reitet ein Trupp über den Horizont, kämpfen zwei Männer auf einem Felsen in einer Schlucht, zeichnet ein Ureinwohner ein Strichmännchen an die Höhlenwand, überqueren Menschen auf verschiedene Art und Weise einen Abgrund, rauscht ein Wasserfall, zieht ein Mann seine Jacke aus.

Wer lange genug sucht, wird vielleicht die zitierten Bildquellen aus Gemälden, Fotos und Werbung finden. In allen Bildern aus dem Jahr 1990 finden sich darüberhinaus Textspuren, zunächst aus dem Buch Blindness and Insight, dessen Titel immer wieder auftaucht. Paul de Mans nie ins Deutsche übersetzte, erstmals 1971 erschienene Blindheit und Einsicht ist die Bibel der dekonstruktivistischen Literaturwissenschaft. In den neuesten Gemälden werden Passagen aus Jacques Derridas Grammatologie benützt.

Tansey zwingt den Betrachter, diese Texte im Original zu lesen, da sie in den Bildern verwischt, wiederholt oder nur bruchstückhaft zitiert werden. Man fühlt sich genötigt, (zumindest) die Doppelseite 146-147 aus dem Buch de Mans zu studieren. (Der Maler zeigt dem distanziert Schauenden sogar schließlich die Zahl 146, also in welche Seite sich der Reader, der Leser buchstäblich zu vertiefen hat). Selbst für diejenigen, die sich den asketischen Übungen der Konzept-Kunst unterzogen haben, ist diese Art der Textexegese ungewohnt. Der Weg der Interpretation führt von der unmittelbaren Anschauung der leicht erkennbaren Motive zur Lektüre von komplizierten Theorien und müßte in einer Kehrtwendung wieder zum jeweiligen Bild zurückführen.

Dieser Pfad wird nur selten beschritten. Die Bilder stellen ihre Fragen, und wenn keine Antworten erfolgen, kommt kein Dialog zustand. Jedes Gespräch verlangt nach gewissen Regeln, damit es entstehen kann. Im folgenden werden einige angeboten, um die Gedankenwelt eines Künstlers vorzustellen, dem die Errungenschaften der Moderne zuwider sind, der aber auch Rezepte zu ihrer Überwindung anbietet.

Hier kann nur der Plan eines Labyrinths skizziert werden, in das der Maler die Betrachter lockt. Er will malen, was sich nicht malen läßt. "Allegorie" bedeutet wörtlich "anders sagen". Eine Allegorie zeigt nicht direkt, was sie meint. D. h. umgekehrt, daß das Gezeigte nicht das Gedachte aussagt, sondern etwas anderes. "Dekonstruktion" zerlegt einen Text, ein Bild, eine Architektur, um hinter den Fassaden aufzudecken, wie sie nicht nur formal, sondern von der Konstruktion her funktionieren. Es wird das dem Erbauer unbewußte Prinzip gesucht. "Modern" ist oder war die Auffassung, daß nicht die Vergangenheit, sondern nur die Gegenwart eine Orientierung bieten soll. Nicht die Tradition sei das Vorbild, sondern das noch Unbekannte-Neue. Nach dieser Vorstellung gibt es einen Fortschritt in den Gestaltungen, aber auch in den Erkenntnissen. In den Bildern der letzten Jahre hat Tansey die sich militärisch gebärdenden Modernen für die Zerstörung der Kunst verantwortlich gemacht. Jetzt predigt er die Erinnerung.


Derrida stellt de Man in Frage (Derrida queries de Man). Im Bild geht es handgreiflicher zu als in seinem Titel. Da raufen zwei Männer um ihr Leben. In einer Schlucht tänzeln sie auf einem Felsvorsprung, auf dem vertikal der Buchtitel Blindness and Insight prangt. Gemäß der Stichvorlage von Sidney Paget aus dem Jahr 1893 (freundlicher Hinweis von Frauke Heuer) wird Sherlock Holmes in die Reichenbachfälle abstürzen.

Wer Derridas, seinem 1983 verstorbenen, "geliebten Freund" Paul de Man gewidmetes Buch Mémoirs liest, wird vergeblich nach einer Infragestellung suchen. Im Gegenteil, es ist eine Lobpreisung der herausragenden Bedeutung des in den USA zum Literaturpapst avan-cierten Belgiers. Er erinnert sich an den Toten - umso mehr, als er selbst als Begründer des Dekonstruktivismus dessen Anreger war und zu einer zentralen Denkergestalt unserer Tage wurde. Die Erinnerung an den Freund wird zur Argumentationsebene für die Rolle der "Erinnerung" in den Schriften de Mans. Er scheint den hinterlassenen Lebenden so sehr zu faszinieren, daß er "Das Scheitern des Gedächtnisses... (als) kein Scheitern" empfindet und konzediert, daß " es für Paul de Man, den großen Denker des Gedächtnisses, nur Gedächtnis gibt, daß aber eine Vergangenheit im buchstäblichen Sinne nicht existiert." Das ganze Buch versucht das Wesen des Freundes in dessen Fähigkeit der Interpretation mit Hilfe des Vergessens zu umreißen. Von einem im Bildtitel anklingenden Zweifel kein Wort. Doch dann passierte das Schreckliche. Die Feuilletons der Weltpresse breiteten de Mans Vergangenheit als eines mit den Nazis kollaborierenden, antisemitische Artikel verfassenden Autors der Jahre 1940-42 aus. Bezieht sich Tansey also auf eine, nach dieser Aufdeckung eintretende Distanzierung Derridas? Stellte dieser nun seinen toten Freund in Frage und begab sich dabei in eine ihn selbst gefährdende Situation?

Keinesfalls. Obwohl Derrida die Kunst des Vergessens so deutlich in das Zentrum des Denkens von de Man gestellt hatte, schien er nachträglich gar nicht zu fassen, wie recht er damit hatte. Er schreibt eine Fortsetzung: Wie Meeresrauschen auf dem Grund einer Muschel. Derrida denkt gar nicht daran, de Man in Frage zu stellen. Bei aller Skepsis und Verletztheit geht er zum Gegenangriff über. Man müsse die Dinge lesen, die de Man nicht geschrieben habe, man sollte ihn überhaupt genauer lesen, man hätte die damaligen (von de Man so kunstvoll vergessenen) Zusammenhänge der Kriegsjahre zu rekonstruieren. Derrida verrät seinen Freund nicht, und jeder kann in den Lektüren dieser von einem jammernden Ton begleiteten Argumentationskette festzustellen versuchen, ob Derrida in dieser existentiellen Situation auf seine eigene Methode der Dekonstruktion verzichtet oder nicht, ob er sich selbst untreu wird, nur weil er einem Toten die Treue hält.

Tansey stellt dar, was nicht passiert ist, der Titel sagt etwas ganz anderes als das Bild. Die beiden tanzen über dem Abgrund. Warum diese Schlucht? Bedeutet das, daß Derrida de Man in Frage hätte stellen müssen, um nicht das Menuett mit einem Toten zu riskieren?

Das Rätsel läßt sich ohne den Bild-Text nicht lösen. Die beiden sind in ihrem letzten Tango auf einem Eckstein verschränkt, von dem der Buchtitel Blindness and Insight hinabzieht. Der Dekonstruktivismus begreift die Allegorie als "Eckstein", als eines die Konstruktion bestimmenden Teilstückes, das nicht wie ein Schlußstein den Bau vollendet, sondern von Anbeginn wie ein blinder Fleck im Auge des Künstlers verborgen ist. Als Plattform für die Pirouette des Paares hat Tansey einen Text eruiert. Es ist nicht der blinde Fleck des Bildes, denn der Maler zeigt ihn genau. Die beiden immer wieder von Tansey zitierten Seiten des Buches handeln vom Begriff der Moderne, der von de Man in freier Auslegung Nietzsches in der Spontaneität des Lebens, zugleich aber im Vergessen der geschichtlichen Vergangenheit gesehen wird.

Indem Tansey die Betrachter seiner Bilder dazu anleitet, sich dieser Theorie des Vergessens als Basis der Moderne zu versichern, zwingt er uns zu einer antimodernen, nämlich erinnernden Interpretation. Indem der Bild-Text über das Vergessen undeutlich und verwischt erscheint, wird die Rekonstruktion nötig und dem Text widersprochen. Oder als Anregung einer weiteren Interpretation: Nicht Derrida stellt de Man in Frage, sondern Tansey Derrida, weil der de Man nicht vergessen kann, obwohl er sich krampfhaft an dessen Theorie des Vergessens klammert. Der Maler empfiehlt sich der Tradition und ruft in die Stille: "Vergeßt die Moderne!"

In diesem Ringelspiel der Bedeutungen gelangen wir zum Thema des Tanzes. Die beiden Genies kämpfen weniger, als sie Walzer tanzen. Nicht daß es dadurch ungefährlicher wäre, aber die Regeln sind andere - sie führten konsequenterweise zu den von Derrida und de Man diskutierten Äußerungen Jean Jaques Rousseaus über das Verhältnis von Musik und Malerei. Darüberhinaus aber bestimmen sie die Sprache de Mans. Hamachers Einleitung "Unlesbarkeit" schwelgt deshalb in den entsprechenden Begriffen: "Tanzfigur", "Einmarsch", "Eiertanz", "Stechschritt" usw.

De Mans letztes Werk galt der Interpretation von Kleists Über das Marionettentheater. Es schließt mit der: "... Falle der ästhetischen Erziehung, die unvermeidlich der Zerstückelung der Sprache durch die Kraft der Buchstaben mit der Anmut eines Tanzes verwechselt. Dieser Tanz, ob er nun als Spiegel, als Nachahmung, als Geschichte, als das Gefecht der Interpretation, oder als anamorphische Transformation von Tropen erscheint, ist die letzte Falle, ebenso unvermeidlich wie tödlich."

Tansey tritt den Gegenbeweis an. Nur der die Buchstaben des Bildes nicht entziffernde Betrachter gerät in Versuchung, den Text mit dem Tanz zu verwechseln. Vielmehr hält er den tanzenden, im Gefecht der Interpretation mit Derrida verstrickten, toten de Man "nachahmend" in der ästhetischen Falle. Wie das Vorbild zeigt, handelt es sich um den letzten, detektivisch nicht mehr zu bewältigenden Fall vor dem Absturz.

Jedes der 1990 entstandenen Bilder Mark Tanseys ist eine Allegorie des Lesens. Sie erschließen sich nicht im Entziffern der undeutlichen Texte, sondern bedeuten als ästhetische Fallen für den Betrachter etwas anderes. Da Derrida de Man nicht in Frage gestellt hat, wird er seinem Freund, der das Vergessen predigte, untreu. Indem Tansey auch seine Bildtitel dem Dekonstruktivismus entnimmt und sie im Illusionismus seiner Bildwelten verbirgt, konstruiert er eine Gegenwelt.

Auf der Brücke über die Cartesianische Kluft (Bridge Over The Cartesian Gap) versucht jeder monologisch seine Haut auf andere Weise zu retten, als ob man mit einer Leiter, im Huckepack, mit einem Kanu, laufend, Schubkarren schiebend, als Handwerker oder Geschäftsmann, angesichts der Unendlichkeit der Welt allein die geringste Chance hätte. Tansey illustriert den Wahn des neuzeitlichen Denkens, die individuellen Versuche, den "Weg" der Erkenntnis für sich selber zu finden. Descartes bevorzugte Wander- und Reisemetaphern.

Im Feindlichen Einfall (Incursion) sprengt der avantgardistische Vortrupp über den eigenen Horizont dem Ziel des Textes entgegen, ihn aber durch die staubaufwirbelnde Hatz zu einem Bild verunklärend. Wieder sehen wir uns der Dialektik des Gedächtnisses gegenüber. Der Text von de Man über das notwendige Vergessen als Kennzeichen der Moderne wird als Utopie der Beteiligten erinnert. Das Bild entsteht aus der Demonstration, daß diese Art des modernen Vergessens nur monochrome Nebelschwaden und tropfende Farbspuren hervorgebracht hat. Nicht das Mitreiten, sondern die Distanz dazu ermöglicht im klärenden Blick das Bild.

Die ohne Sicherung den Fels erklimmende Bergsteigerin scheint den Text vor lauter Buchstaben nicht zu sehen. Genaues Lesen (Close Reading) kann nicht den Zusammenhang deutlich machen, daß zwar der Felsen sich verändert, der darauf (unten) lesbare Text sich (oben) wiederholt. In Allegorien des Lesens schreibt de Man über neuere Literaturwissenschaften: "... doch in keinem von ihnen sind die Beschreibungs- und Interpretationstechniken weiter entwickelt als die Techniken des close reading in den 30er und 40er Jahren. Formalismus, so scheint es, ist eine alles-verschlingende und tyrannische Muse; die Hoffnung, man könne technisch originell und gleichzeitig in seiner Darstellung gewandt sein, wird von der Geschichte der Literaturwissenschaft nicht bestätigt." Sie wird aber von der Malerei demonstriert. Die "Muse" steigt ohne Haken und Seil in der sicherungslosen Weise des "free climbing" "technisch originell... und gewandt" auf. Der Maler aus Distanz sieht mehr als der beste Literaturwissenschaftler und sogar besser als die formalistische "Muse". Tansey illustriert nicht Paul de Man, sondern zeigt die Grenzen dekonstruktivistischer Textualität durch anschauliches Sehen auf. Ganz altmodisch ficht er einen Wettstreit der Künste (Paragone) aus.

Im Rückblick der sich (im Bildvordergrund kaum sichtbaren) hinter ihren Begriffstrümmern verschanzenden Haudegen erscheint jenseits des durch die Schlachten der Avantgarde zerstörten und von Schrift-Panzern durchfurchten Tales des Zweifels (Valley of Doubt) die Montagne de St. Victoire des Paul Cézanne als Ikone einer ersehnten Besinnung. Otto Steinerts Foto Schlammweiher 2 (1953) bildet die Vorlage eines durch Industrie vernichteten Bodens. Doch wie beginnt man noch einmal? Das Wesen der Malerei, so lautet Tanseys Antwort, liegt im nicht-malbaren Ursprung. Was kann man alles nicht zeigen!

Der von hinten beleuchtete Ureinwohner vor der Wand ritzt die Gestalt eines Menschen mit einem "a" im Kopf in den Felsen. Seine Hand mit dem Stäbchen, die Hand seines Schattens und die Hand des Geritzten treffen einander in einem Punkt. Darüber sehen wir nochmals drei Realitätsgrade von Köpfen, den des Menschen, seines Schattens und seines Werkes, einander berühren. Tansey bezieht sich auf die seit der Antike bekannte Tradition vom Entstehen der Malerei: Schattenriß des geliebten Partners und sich spiegelnder Narziß. Er "illustriert" aber einen Kommentar Derridas zu einem Zitat von Jean-Jaques Rousseau: "Die Bewegung jenes Stäbchens... löst sich nicht vom Körper ab. Im Unterschied zum gesprochenen oder geschriebenen Zeichen trennt sie sich nicht vom begehrenden Körper dessen, der umreißt, oder vom unmittelbar wahrgenommenen Bild des anderen. Zweifellos ist auch das ein Bild, was da am Ende des Stäbchens sich abzeichnet, aber ein Bild, das sich selbst noch nicht ganz von dem, was es repräsentiert, getrennt hat; das von der Zeichnung Gezeichnete ist beinahe präsent, leibhaftig in seinem Schatten. Der Abstand des Schattens oder des Stäbchens ist beinahe nichts." (Grammatologie)

Tansey aber widerspricht der Ursprungs-Theorie (weder umreißt der Urmensch den Schatten der scheidenden Geliebten, noch bildet er sich selbst ab), und das geritzte Bild hat sich von dem, was es zeigt (dem Menschen), getrennt, obwohl es das geschriebene Zeichen einschließt. Oder anders: Er zeigt auch in der Schrift eine nicht die Realität (der menschlichen Gestalt und der Druckschrift in der Natur der Felswände) wiederholende Gestaltung. Nach Descartes ist die Welt nicht gelb, nur weil sie gelb erscheint.

Derrida kritisiert eine Ansicht, die Claude Lévi-Strauss in seinen Traurigen Tropen vertritt. Dieser glaubte nämlich in der Schreibstunde, daß der Häuptling der Nambikwara das den schreibenden Ethnologen nachahmende Kritzeln als Machtinstrument in der vor diesem Einbruch der Schrift unschuldigen Gesellschaft mißbrauche. Diese Sicht gleiche dem naiven Schluß, die Welt sei gelb, nur weil sie so erscheine (die Nambikwaras waren keinesfalls so friedfertig). Indem Tansey diese Mal- und Schreibstunde gelb malt, gibt er zu erkennen, daß das a nicht den Ursprung an sich, sondern nur eine subjektive Schau einer anfänglichen Schreib- bzw. Malstunde wiedergebe. Auch aus der Farbgebung weiß der Betrachter, so fand es nicht statt.

Der Ursprung der Malerei ist jener Moment, in welchem das Malen entsteht, sodaß es als Gemaltes nicht sichtbar gemacht werden kann. Tansey zeigt den Ursprung der Malerei dadurch an, daß er seine Unsichtbarkeit, seine Unzeigbarkeit vorführt. Er malt den Satz: "Der Ursprung der Malerei ist der nicht malbare Ursprung." Er liegt nämlich dort, wo der Ursprung der Sprache zu hören bzw. zu sehen ist.

Wenn wir das gezeichnete menschliche Bild sehen, sagen wir "Gestalt", "Mensch", "Gekritzel" usw., aber wir sagen es eigentlich nicht, sondern denken es im Vergleich mit den beiden anderen Gestalten, dem Maler und seinem Schatten, die auch drei Realitätsgrade zu einem Ursprung hin sind: nämlich dem A-Morphen. Die drei Realitätsgrade reduzieren die Wirklichkeit in einzelnen Schritten vom Körper zum Schatten zur Zeichnung, die zwar als Gestalt sichtbar bleibt, aber durch den Buchstaben A, der als Alpha, als Anfang zugleich zum "alpha privativum", dem verneinenden Präfix wird: aus Gestalt, "morphe", wird der Begriff "amorphos", das Gestaltlose.

Doch das "a" denken und vergleichen wir nicht, sondern sprechen es als A aus. Der Umriß des Körperbildes bezieht sich auf andere im Bild, der Laut aber auf uns, die wir ihn aussprechen. Tansey reflektiert eine weitere Theorie Derridas. Vereinfacht ausgedrückt war nicht der Laut am Anfang, worauf die Schrift folgte, sondern zuerst war die Schrift da und dann die Sprache.

Das A als Zeichen ist zwar ebenso eine Form wie der Körperumriß, auch wenn der Laut nicht im Bild sichtbar ist, wie die Körper-Realitätsgrade, doch ist das geschriebene A nicht Abbild wie der gezeichnete Körper, weil sich der Laut nicht abbilden läßt. Der Buchstabe bezieht sich als Alpha privativum nicht nur auf die Gestalt, sondern auch auf sich selbst. Zwar ist er wie jeder andere Buchstabe auch Signifikant eines Phones, also den Laut bezeichnend, doch als erster Buchstabe verneint er diesen, sich selbst bzw. das Signifikat, das Bezeichnete zugleich. es wird eine A-Phonie, die Lautlosigkeit daraus. Der "Beweis": wir hören ihn nicht.

Wir müssen den Laut erst aussprechen, um den Unlaut denken zu können. Wir sehen A und sprechen AAA..A und hören nur den Laut A - erst wenn wir A als Anfang und Alpha privativum denken, gewinnt dieser gesprochene Laut auch den Sinn eines am Anfang stehenden Nicht-Lautes, der Stille, der Stummheit. Eine Trennung ist nötig, man muß sich abkapseln vom ersten gesprochenen Ton, um ihn als ersten, aus der Nicht-Tonalität herausgeborenen zu erkennen. Dieses Erkennen des Ursprunges muß einhergehen mit einer Negation, einem Streichen des A-Lautes.

Dadurch versiegt das geschriebene A wieder in der Sichtbarkeit, d. h. wir sollen es nicht sprechen, sondern nur sehen. Der paradoxe Kreis schließt sich: das A steht als Gesehenes am Anfang der Sprache. Es gibt "keinen einfachen Ursprung. Denn was reflektiert ist, zweiteilt sich in sich selbst, es wird ihm nicht nur sein Bild hinzugefügt. Der Reflex, das Bild, das Doppel zweiteilen, was sie verdoppeln. Der Ursprung der Spekulation wird eine Differenz. Was sich betrachten läßt, ist nicht Eins, und es ist das Gesetz der Addition des Ursprunges zu seiner Repräsentation, des Dings zu seinem Bild, daß Eins plus Eins wenigstens Drei machen." (Grammatologie)

In der vielschichtigen Bedeutung des den Ursprung der Malerei (nicht) vorführenden Bildes a legt Tansey sein Credo dar. Weitere, ebenso negierte Koordinaten dieses "Selbstbildnisses" sind: Das platonische Höhlengleichnis: die Schreibweise "differance" von Derrida; die Schrift-Schöpfungs-Theorie von Jean-Jaques Rousseau. In dieser kaum mehr zu entziffernden Spekulation deklariert sich Mark Tansey als Neo-Konzept-Künstler, der mit den Mitteln der Malerei bisherige Malweisen zugunsten eines, wenn auch unhörbaren, philosophischen Diskurses verwirft. In seinen Bildern ist das Sichtbare nicht das Gedachte, das nach und nach von der Natur wie vom Wasser under erasure abgeschliffen wird.

Auch im Bild Johannes des Täufers ist der Hinweis auf die "Schreibstunde" zu lesen. Dieser Johannes sucht nicht nach der Macht der Schrift, sondern legt sein Kleid der Schrift (Grammatologie, 2. Kap.) ab, um den bloßen Körper der Worte zu befreien. Die paradox-prophetische Predigt dieses seltsamen Heiligen an der Zeitenwende endet vorerst in der Ablehnung der vielen Texte oder Worte über das spontane Vergessen der Geschichte (im Sinne de Mans). Immer wieder führt Mark Tansey die Betrachter an eine Grenze der Fiktion, die zunächst das Sehen auf das Lesen oder Hören und das Denken "reduziert", bis man an einem Anfang steht, aus dem heraus nur der (sein) Schöpfungsakt führen wird - wer aber könnte am Ende all die einmal bedachten Voraussetzungen wieder vergessen?

Literaturhinweise:

Jacques Derrida: Grammatologie. 1967, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1983, 3. Aufl. 1990
Ders.: Die Schrift und die Differenz. 1967, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1976, 4. Aufl. 1989
Ders.: Randgänge der Philosophie. 1982, Passagen Verlag, Wien 1988
Ders.: Mémoires - für Paul de Man. 1986, Edition Passagen, Wien 1988
Ders.: Wie nicht sprechen - Verneinungen. 1987, Edition Passagen, Wien 1989
Ders.: Chóra. 1987, Edition Passagen, Wien 1990
Ders.: Wie Meeresrauschen auf dem Grund einer Muschel... Paul de Mans Krieg - Mémoires II. Edition Passagen, Wien 1988
Paul de Man: Blindness and Insight: Essays in the Rhetoric of Contemporary Criticism. New York 1971
Ders.: Allegorien des Lesens. Mit einer Einleitung von Werner Hamacher. 1979, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1988
Jörg-Uwe Albig: Ein Denker malt Kritik. In: art Das Kunstmagazin, Nr. 4/April 1988, S.36-54
Thomas Kellein: Mark Tansey. Mit einem Beitrag von Günter Metken. Kunsthalle Basel 1990
John Miller: Mark Tansey. In: Artforum International, Summer 1990, S.166

 



Mark Tansey: Der ungläubige Thomas

 

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