Das Tor als Bild -
Zur lkonographie eines Motivs in der Modernen Kunst
In: Festschrift für Wilhelm Messerer. Köln 1980, S.325-336

 

In der Modernen Architektur wird auf die Durchbildung von Türen nur ausnahmsweise Wert gelegt.

In europäischen wie außereuropäischen Bauten war das Tor seit frühester Zeit symbolisch entscheidende Grenze. In seiner Ausführung konnte sich das ikonologische Programm des ganzen Tempels oder der Kathedrale nach außen widerspiegeln. Christus als ostium hält z. B. nach Honorius Augustodunensis in seiner Gerechtigkeit die Ungläubigen fern und weist den Gläubigen den Weg zum Heiligtum des Glaubens. (1)

Das Tor als aussagefähiger Symbolträger ist durch den Verlust ikonologischer Programmatik in der neueren Architektur - woran auch noch heute ausgeführte Kirchenportale grundsätzlich nichts ändern - heimatlos geworden. Als Bildträger hat es jedoch überdauert.

Offenbar besteht ein tiefverwurzeltes Bedürfnis, die Schwellensymbolik als solche zu bewahren. Beim Durchschreiten dieser Zone treten wir in kulturelle Geborgenheit ein, die vor der äußeren 'Wildnis' schützt. Auch einer Hütte kommt diese den Einzelnen übergreifende Funktion zu. Das Ausgesperrtsein beläßt uns in heimatlosem Verlorensein, das Einsperren verwahrt uns in jedem Sinn.

Dem Fenster kommt mehr der metaphorische Wert des Ausblickes zu. Es ist einmal bemerkt worden, daß mehr Hemmung besteht, in fremde Fenster zu schauen, als
durch halboffene Türen. (2) Gewährt ein Fenster selten Einblick, so öffnet es im Bild oder als Bild dem Blick eine weite Wirklichkeit. Selten lenkt in der Malerei ein Tor den Blick auf ein Außen, wie bei Waldmüllers Belauschte Liebesleute (1858) aus der Sammlung Schäfer. Gerade die auch in der Lichtspaltung sichtbare Trennung erfaßt den existentiellen Kontrast einer den gesamten Menschen umfassenden und nicht nur den Blick freigebenden, unheimlichen Szene.


Das Tor als Bild spricht den Betrachter stärker an, es verbindet sich damit ein Aufforderungscharakter, nicht nur zu schauen, sondern sich zu bewegen, zu verändern, ja selbst für eine andere Wirklichkeit offen zu sein.

Ein einheitliches Weltbild, wie es einem gotischen Stufenportal zugrunde liegt, ist längst verloren. Paradoxerweise vermag sich in Allusion an solche Vorbilder nur ein schizophrener Künstler wie Adolf Wölfli eine integrative Kosmologie zu erhalten. In seiner Kreutzigung meiner Wenigkeit (Abb. links) versperrt er allerdings den Zugang im spitzbogigen Portal, wo er u. a. erläuternd schreibt: "Gekreuzigt wird hier Gottes Sohn, weil er gesündigt hat ." (3)

Im folgenden soll nicht von Tür-Design oder Dekoration gesprochen werden, wie sie etwa Max Ernst für das Haus von Paul Eluard 1923 geschaffen hat. Die sprachspielerische Komponente einer weiteren, nicht erhaltenen Türe, deren Flügel Max Ernst als Schmetterlingsflügel gestaltet hat, weist jedoch darüber schon hinaus. Vielmehr suche ich zunächst nach dem "Tor als Pathosformel", in freier Anlehnung an Klaus Lankheit, der in seinem Buch Das Triptychon als Pathosformel schreibt: "Ein mit bestimmter Bedeutung geladenes Format (oder eine Bildgattung) stirbt ab, nachdem es seinen geschichtlichen Weg beendet hat. In unserem Fall stirbt es ab durch Säkularisierung und steht so unter einem Doppelaspekt: die frei gewordene Hülle dient zur Sakralisierung des Profanen." (4)

Das erste Mal wird die Türe als Werk unabhängig vom funktionellen Einsatz oder architektonischen Rahmen bei Auguste Rodin thematisch greifbar. Rodins Höllenpforte (Abb. links), deren Programm sich einzelne Figuren als Torsi entzogen haben und verselbständigten, war nur zu Beginn, 1880, als Auftrag für das Portal des geplanten Kunstgewerbemuseums in Paris als Eingang konzipiert. Als der Plan für das Museum fallengelassen wurde, ließ Rodin von diesem Werk nicht ab. Im Gegenteil, man darf vermuten, daß die Funktionslosigkeit auf ihn zugleich befreiend wirkte und seiner von Beginn eigentlich plastischen Vorstellung entgegenkam.

Bourdelle meinte mit Recht über das Werk: "Das ist weder eine Mauer noch eine Türe." (5) Und wie klar wird Rodins eigene Einstellung, wenn er 1900 sich auf einen Vorwurf hin mit der Frage verteidigt, ob denn die Kathedralen je fertig geworden seien. So umfassend die Ikonologie dieses Portals ist, so isoliert von Architektur, ja sogar ihr gleichrangig hat er es aufgefaßt. Analog begriff Rodin Torsi als vollständige Kunstwerke, was vom Publikum seiner Zeit als schockierend empfunden wurde. Seine Höllenpforte ist nichts anderes als ein für sich bestehender Architekturtorso.

Als plastisches Gesamtkunstwerk erfüllt Rodins Höllenpforte das Erbe des 19. Jahrhunderts, als erratischer Architekturteil jenseits von Abbildhaftigkeit blieb sie, so revolutionär sie war, ohne Folgen und war nicht entwicklungsfähig.

Das bedeutendste Tor unseres Jahrhunderts ist Marcel Duchamps 1946-1966 entstandenes, sogenanntes "Unbekanntes Meisterwerk" Gegeben seiend 1) Der Wasserfall, 2) Das Leuchtgas (Abb. links). Hier kann es nicht um eine Interpretation des Ganzen gehen. Aber auch wenn man sich nur mit dem äußeren Aspekt befaßt, ist es notwendig, sich einige Tatsachen in Erinnerung zu rufen.

Das erste Mal nimmt Duchamp den Begriff "Tür" in einem kryptischen, dadaistischen Text von 1915 auf, (6) der jedoch keine Erklärung erlaubt.

In seinem Pariser Atelier in der Rue Larrey 11 ließ Duchamp 1927 eine Tür als Verbindung zwischen drei Räumen, Bad und Schlafraum einerseits, Schlafraum und Atelier andererseits, anbringen, so daß diese zugleich geschlossen und offen sein konnte (Abb. rechts). Unter Gewährung optimaler Funktionalität entzieht sich dieses Objekt üblichen Türvorstellungen und wurde daher nach seiner Demontage 1963 als ready made wieder aufgerichtet und ausgestellt. Eine weitere Tür schuf er 1937 als Eingang für André Bretons Galerie "Gradiva". Abb. links)1968 wurde sie für eine Türen-Ausstellung in New York in Plexiglas noch einmal hergestellt. Dieser Idee liegen vielleicht zwei Bilder von Rene Magritte mit vergleichbarer Idee zugrunde (Die unerwartete Antwort, 1933; Die Perspektiven der Liebe, 1935).

Ist die Ateliertüre zugleich offen und geschlossen, ist der im Umriß eines Paares geschnittene Durchgang offen, so ist das letzte Hauptwerk immer geschlossen.

Zahlreiche Monographien, die zu Lebzeiten Duchamps erschienen sind, schließen ihre Betrachtung in bewundernder Euphorie über die scheinbar schaffenslose Offenheit der letzten Jahrzehnte. So schreibt Calvin Tomkins: "Indem er ästhetische Ikonen umstürzte, wo immer er sie fand auch die seines eigenen Kultes -, ist es Duchamp gelungen, alle Türen im Hause der Kunst offenzuhalten." (7)

Gerade die Tatsache, daß Duchamp zwei Jahrzehnte bis zu seinem Tode über die, dieser metaphorischen Auffassung ganz dinghaft widersprechende Arbeit am sein Lebenswerk beschließenden Tor geschwiegen hat, motivierte einen anderen Interpreten von der "provozierenden Unverfrorenheit, im Augenblick eines Abgangs, den ein endgültiges Türenknallen besiegelt" zu schreiben. (8) Das verschlossene Tor am Ende einer vermuteten Leere eröffnet zuletzt den heimlichen Zublick auf sein Schlußwerk, das gegen die früheren Werke offen ist und diese einschließt.

Merkwürdigerweise ist auch dort, wo innerhalb der Deutung dieses Werkes Etant
donnés ... dem Tor eine Rolle zukommt, von der Tatsache, daß es sich um ein wirkliches Tor mit bestimmten formalen Merkmalen handelt, kaum je die Rede.

Octavio Paz hat in seiner ikonographischen Untersuchung wichtige Beobachtungen zusammengetragen. (9) Das Holztor und das Glas-Tor (nämlich des Großes Glas genannten Werkes Die Neuvermählte, von ihren Junggesellen entkleidet, sogar (1915-1923) seien zwei Facetten derselben Idee: das Sehen durch das Dunkel hindurch und das Nicht-Sehen durch die Transparenz. Hinter der Türe werde das zuletzt sichtbar, was im Großen Glas enigmatisch konstruiert war. Schließlich findet Paz im Gegensatz der vor einer Landschaft mit Wasserfall ausgebreiteten Nackten und der preisgebenden Torschranke das antipodische Verhältnis von Diana und Janus, die im Mythos als
Doppelgänger verstanden wurden.

Gerade durch die Trennung vom heimlich beobachteten Bild jenseits unseres Standortes, gewinnt dieses durch unsere Anwesenheit einen esoterischen Sinn - der Betrachter wird nötig, damit die Nackte sich in den Augen des Voyeurs wiederfindet. Paz sagt dazu: "Wir beobachten uns beim Beobachten, und sie schaut in unserem sie als nackt erblickenden Schauen." (10)

Das janusartige Tor, das räumlich nach innen wie nach außen gerichtet ist und zeitlich den Gedankenkreislauf in Gang setzt, ist nach dieser Deutung jedoch nur als bestimmte Determinierung des "Zuganges", nämlich der optischen Inbesitznahme verständlich. Gerade darin verschwindet es selbst als sichtbares Phänomen. Diese Türe verdient offenbar keinerlei Beschreibung und Deutung. Der mögliche Durchblick auf das Unsichtbare läßt das Sichtbare übersehen.

Der Grund für dieses verblüffende Desinteresse ist schon angeklungen. Die Möglichkeit und im Ikonologischen wurzelnde Notwendigkeit, in Marcel Duchamps Werk ständig Verweise aufeinander zu suchen, zwang seit jeher den Blick weg von der phänomenalen Besonderheit der Einzelwerke. Der andersartige Ansatz dieses Künstlers setzte sein Schaffen als ontologisehe Ganzheit in antithetischer Weise in Kontrast zur sonstigen Kunst unseres Jahrhunderts. Dadurch sind die Kritiker in eine ahistorische Position gedrängt worden.

Um die verwirrende Vieldeutigkeit von Gegeben seiend ... zu begreifen, ist einmal naiv festzuhalten, daß Duchamp daran zwei Jahrzehnte gearbeitet hat. Diese äußerste Sorgfalt und alchemistische Geduld erklärt eine historische Mehrschichtigkeit. Die eingangs genannten früheren Türen Duchamps durchlaufen in ihren Jahrzehnte-Abständen stilistisch das Spektrum zwischen Dadaismus und Surrealismus.

Um den historischen Stellenwert von Gegeben seiend ... zu erfassen, ist es notwendig, die Geschichte der Tür-Darstellungen in unserem Jahrhundert anhand einiger Beispiele zu verfolgen. Voraussetzung dafür, daß ein Tor zur bildhaften Pathosformel wird, ist die frontale Ausrichtung auf den Betrachter. Dies erfordert einen gewandelten Bildbegriff.

Genau genonmmen ist Duchamps Atelier-Türe (1927) ein praktischer Einfall, der die raumgrenzen-bezogene Eigenschaft von "Türe" negiert - auch wenn sie schließt, bleibt etwas, das von ihr verschlossen werden könnte, offen. Weniger die Türe erweckt die Aufmerksamkeit, als die Labilität der Raumverhältnisse. Ein ähnliches Raumgefühl manifestiert sich in Herbert Bayers Collage Strandatelier (1928/30) mit zwei angel- und klinkenlosen Türen. Bayer hat für die "Container-Corporation-of-America"-Ausstellung (1945) zwischen Ein- und Ausgang eines Korridors mit Seilen Kraftlinien gespannt, die die Besucher durch den Raum geleiten. In diesem, die Linienästhetik der fünfziger Jahre antizipierenden Raum wird man in der Bewegung ausgerichtet.

Herbert Bayer hat das Tor-Motiv im Ost-West-Tor (1970) (Abb. links) wieder aufgegriffen, wobei die Offenheit das Charakteristikum einer neuen Plastik-Dimension ist, wie sie sich in den siebziger Jahren klar ausbildet. Es fällt auf, daß hier das Tor ausgesparte Negativform ist und als Gegenstand nicht aufscheint. Darauf komme ich zurück.

Die oben gestellte Frage nach der Entwicklung zur frontalen Bildauffassung ist noch offen. Max Ernsts Bilder auf den Türen des Hauses von Paul Eluard sind nicht frontal, weiters sind sie streng auf die Bildfläche begrenzt, wie die akzeptierten Überschneidungen durch die Türplanken zeigen. Auch die Materialfreude einer Collage vermag ein geöffnetes Gatter, aber nicht eigentlich eine Tür als Bild zuzulassen (Max Ernst: Zwei Kinder werden von einer Nachtigall bedroht, 1924) (Abb. lrechts oben).

Im Surrealismus finden wir Türen als Stimmungsträger des Verbotenen, Verheißungsvollen, Verdrängten, unterbewußter Inhalte ganz allgemein, hinter der Bildbühne, oft in einer seitlich flüchtenden Perspektive. Ob bei Pierre Roy (Die Gefahr auf der Treppe 1927/28), Salvador Dali (Partielle Sinnestäuschung. Sechs Erscheinungen Lenins auf einem Flügel, 1931, Abb. oben links), Dorethea Tanning (Eine kleine Nachtmusik, 1934/44, Abb. oben rechts) (11) oder anderen, immer wieder erwecken einzelne oder mehrere Türen eine Erwartungshaltung, die durch existentielle Not in nackte Angst umkippen kann (Lea Grundig: Gestapo im Haus, 1934). Vielleicht zeigt sich auch in Paul Klees Tor zum verlassenen Garten (1935), das er im Jahr seiner ersten Krankheitssymptome malt, das Ende an. Im selben Jahr malt Ernst Ludwig Kirchner das Aquarell Waldfriedhof, das im Torbogen von seiner, wenige Jahre später zum Selbstmord führenden Melancholie kündet.

In allen diesen Beispielen reicht der optische Zugang aus. Wir sehen in den Bildraum und verfolgen das Bildgeschehen, im Grunde bleiben wir aber in Distanz. Wenn wir in den letzten Jahren scheinbar reflexionsfrei gemalte Türen oder Türausschnitte betrachten (Leopold Hauer: Bemalte Türe, 1971; Hansjörg Vogel: Raumtrennung, o. J.), machen wir uns kaum je bewußt, was für eine Entwicklung dazwischen stattgefunden hat.

Die Überwindung der optischen Distanz wird durch den "haptischen Apell", wie man das nennen könnte, erreicht. Damit meine ich Qualitäten der optischen Verunsicherung durch "ergreifende" Bezugnahme des Betrachters. Das ging historisch in zweifacher Weise vor sich: Einerseits in der New Yorker Schule durch die Wahl eines großen Formates, das den Beschauer entweder in einen farbigen Alztionsraum (Jackson Pollock, Willem De Kooning) oder in eine diffuse Farbwolke (vor allem Mark Rothko) aufnimmt. Das perspektivefreie, rand- und schwerpunktlose "all-over" dieser Werke verbietet dem Betrachter ein Abrücken, wie das bei großformatigen Bildern früher notwendig war, um sich einen Überblick zu verschaffen. Andererseits werden in Europa, vor allem bei Antoni Tàpies (aber auch bei Jean Dubuffet, Alberto Burri, u. a.) verschiedenste "bildfremde", den Tastsinn reizende Materialien eingesetzt.

Werner Haftmann hat die Bilder von Tàpies lapidar beschrieben: "Die Bilder bilden nichts ab. Sie selbst werden zu solch anonymen Dingen wie Mauer, Fenster, Tor und Riegel. Wie diese sind sie abweisend, verschwiegen ... Sie sind wie ein Stück anonymer Wirklichkeit ... Das Bild wird Gegenstand." (12)

Tàpies selbst wehrt sich in seiner "Mitteilung über die Mauer" (13) gegen den Vorwurf, er kehre zu einem "Sujet" zurück, denn dieses Sujet gab es davor nicht. "Dagegen bewahren meine Mauern, meine Fenster oder meine Türen - oder zumindest ihr Abbild ihre Wirklichkeit, ohne etwas von ihrer archetypischen und symbolischen Bedeutung zu verlieren." (14)

Es ist dieser Rückgriff auf Volksarchitektur, auf sein katalanisches Erbe, der die Motive zu Pathosformeln wandelt, obwohl die hervorgerufenen Bedeutungen ursprünglich gerade diesen mangelte.

Die haptisch-empfindbare Materialität und Frontalität "baut" ein Hindernis, einen undurchdringlichen Durchgang auf. Wir vermögen nicht in der optischen Wahrnehmung zu verharren und stehen davor als Abgewiesene in einem dadurch veränderten Ambiente. Das nach Jahren möglich gewordene Ästhetisieren der spärlich, in ihrer Demut farbarm prangenden Bildwände raubt ihnen ihre eigentümliche Kraft.

Die Graue Tür (1958) (Abb. links) verwehrt, trotz des Fehlens der Tür selbst, den Zugang zum dahinter Verborgenen. Die von und vor uns abgetrennte Bildwelt ist bild- und zeichenlos, das nicht Dargestellte wird zur Metapher für das Unbekannte. Auch spätere Türen bleiben frontal, selbst dann noch, als das Thema "Türe" für Tàpies erschöpft ist und er ein Bett aus ihnen zusammensetzt oder eine Stahltüre aus der Mauer bricht und sie mit bunten Zeichen schmückt (Großes Bett aus Türen, 1972; Türe und Farben, 1974).

Der radikale Subjektivismus der informellen Kunst der fünfziger Jahre ist in seiner Weltflucht zugleich der Ansatz für die Suche nach einem Sinn. Wie die Sehnsucht nach einem Weg sich in der Pathosformel Tor mannigfaltig formen kann, mag das Tempeltor (1958) von Fritz Winter andeuten, dessen unbekannten Zeichenfragmente die Botschaft einer fremden Kultur beschwören.

In der Plastik dieser Zeit wird der "haptische Impuls", der zu einem Illusionismus-Verzicht drängt, der wichtigste Grund für das Aufrauhen und schließliche Zerbersten der Oberflächen. Dem Unbekannten hinter der Bildoberfläche entspricht dabei das buchstäbliche Nichts im Kern der Skulpturen - als "Aufbruch" der autonomen Kernplastik ein entscheidender Ansatz für neue Dimensionen der Plastik seither.

Die Tür (1954-1956) von Joseph Beuys (Abb. links) aus der Sammlung Hahn, heute im Wiener Museum für Moderne Kunst, ist keine Türdarstellung und sie ist in ihrer Oberfläche zerborsten. In ihrer Frontalität als ready made ist sie die nächste Parallele zu Duchamps spanischem Tor und wie dieses ein in der Literatur seit fast 25 Jahren nie besprochenes Hauptwerk. Die Frage nach dem Davor und Dahinter ist allerdings weder wie bei Tàpies noch wie bei Duchamp zu
beantworten. Nicht das Unsagbare und nicht das verborgene Werk, sondern die Wirklichkeit befindet sich dort draußen, während hier die heilspendenden Amulette des Kranichschädels und der Hasenpfoten über das gescheiterte Experiment hinweghelfen, bei dem sich die benützten Materialien (vor allem Bienenwachs) entzündeten und das Atelier zerstörten. Mit Duchamp gemeinsam ist die alehemistische Tendenz, alles innerhalb des Arbeitsprozesses Werk werden zu lassen, in ein Gesamt-Opus einzubringen.

Für Beuys scheint die nach zwei Jahren erfolgte Transformierung mittels seiner Lebenssymbole in einen transitorischen Gehalt ein entscheidender Wendepunkt gewesen zu sein, der eine elende, von Selbstzweifel und depressiver Todessehnsucht bestimmte Zeit "als ich zu sterben wünschte", wie er selbst sagt (15), beschloß. In diesem Ausbruch unkontrollierter Energie geschah ein Herausbrennen aus der isolierten Situation im Studio und ein Aufbruch in Richtung "Soziale Plastik".

Bemerkenswerterweise sind die von Beuys geäußerten Vorbehalte gegen Duchamp mit der eigenen Situation vor dem Atelierbrand vergleichbar. Das betrifft nicht nur seine Aktion Das Schweigen von Duchamp wird überbewertet (1964), als Duchamps letztes Werk noch unbekannt war, sondern die angedeutete quasi-alchemistische Situation.
Beuys sagt: "Aber da eine gewisse hermetische, private Abgeschlossenheit im System von Duchamp vorliegt, das, was ich als eine Sphäre des Schweigens ja bezeichnet habe, und nicht als eine Sphäre der Kommunikation und der Sprache, erscheint eben dieses für mich als ein wesentliches Problem, an dem ich aber gerade gut anknüpfen kann, weil ich über diesen Punkt hinausgehe, und zwar radikal hinausgehe." (16)

Die Pathosformel "Tor" macht den Unterschied von "hermetischer Abgeschlossenheit" und dem "radikal darüber Hinausgehen" in ihrer zwei-ansichtigen Bedeutung, eben Janushaftigkeit ganz deutlich. Das Objekt Tür wird von Duchamp und von Beuys von zwei Seiten gesehen, oder genauer, wir erblicken die Duchamp'sche Türe von außen und die Beuys'sche von innen.

Duchamp verbirgt, was er zeigen will. Die erwähnten europäischen Künstler dieser Zeit zeigen das Verbergen. Daß hinter der ummauerten Tür sich eine andere Wirklichkeit eröffnet, ist uneuropäisch.

Wie erwähnt, hatte die Wandlung zur Frontalität auch einen von Europa unabhängigen Charakter in der New Yorker Schule, an deren Errungenschaften Robert Rauschenberg ansetzt. Sein oft zitierter Ausspruch: "Ich versuche in der Lücke zwischen Kunst und Leben zu wirken" (17), zeigt die über die Abstrakten Expressionisten hinausgehende Richtung an. Die genannte Lücke zwischen Kunst und Leben versucht er durch die von Duchamp beeinflußte Umdeutung der Collage-Technik zu schließen, indem das verwendete Material in seiner ursprünglichen Dinglichkeit belassen und nicht mit anderem im "combine" harmonisiert wird.

So stark empfindet Rauschenberg den Kunst-Leben-Zusammenhang, daß er einmal sagte: "Ich würde wirklich gerne denken, daß der Künstler nur eine andere Art Material im Bilde wäre, wo er im Einklang mit all den anderen Materialien arbeitet." (18)

Eine Synthese aus der action-painting eines Pollock oder De Kooning, und der meditativen Bannung vor der Leinwand eines Tàpies gibt es nicht, aber Rauschenberg zeigt einen Ausweg. Nicht in oder hinter das Bild, sondern vor das Bild setzt er den Bezugsraum. Für die eingesetzte Tür im Interview (1955) (Abb. links) bedeutet das nicht die Alternative Innen-Außen, sondem das Sowohl-als-auch, indem sie Bild-Gegenstand und bewegliche, d. h. "wirkliche" Tür bleibt. Die Tür verdeckt oder öffnet nicht nur diesen oder jenen Teil, sondern verändert auch die Betrachtereinstellung.

Die gelben, roten und bunten Türen von George Segal (1976, 1978, Abb. links) oder James Rosenquist (1972) (Abb. rechts) stellen die bisher letzten Konsequenzen dieser Tendenz dar. Der Rezeptionsbezug läßt alle Einstellungen offen, da gibt es kein Davor, Dahinter, Daneben. Hier öffnet sich die Pop-Kunst in andere Dimensionen.

Diese Türen führen mit oder ohne die menschlichen Negativformen Segals aus dem Umraum in den Umraum, sie sind undurchschreitbare Raumscharniere, die nichts verbergen oder eröffnen. Auch Rauschenbergs Türen dieser Zeit (Rodeo Palast, 1975/76) verweisen, ob geöffnet oder geschlossen, auf nichts anderes. Die Beweglichkeit der Türen ändert nichts daran, daß das benützte Material keine dinghafte Präsenz mehr hat. Das Werk wird flacher und leerer. Dadurch birgt es kein Ambiente eines darin wie einst wohnenwollenden Künstlers. Es geleitet den Betrachter daran vorbei.

Was bei Rauschenberg und den genannten Beispielen anderer Künstler aus dem letzten Jahrzehnt auffällt, ist die Afrontalität und damit zusammenhängend die oft wirkliche oder vermeintliche Mobilität der Türen. Rauschenbergs Integration von Wirklichkeit unterscheidet sich grundsätzlich von der Pop-Kunst, die Wirklichkeit und Alltag reproduziert und umsetzt, sich jedenfalls damit indirekt befaßt. Dadurch bricht der Identifikationsvorgang ab oder beginnt gar nicht. Rauschenberg isoliert die Objekte, wodurch sie als solche sichtbar und doch in ungewohnter Umgebung erscheinen. In der Pop-Kunst können sie verfälscht werden, wie beispielsweise die weichen Plastiken Claes Oldenburgs, oder sie werden abbildend in ihr ihnen zugehöriges Feld gesetzt.

Da wird die Tür wie alles zum Konsumgut, wirkt wieder benützbar, jedenfalls ohne unheimliche Nuance. Die Frontahtät solcher Türen ist selbstverständlich, tautologisch und damit nicht weiter befragbar. Hinter den Türen in den Stilleben Tom Wesselmanns sind keine Überraschungen zu erwarten, dort wird gelebt wie davor auch.

Dagegen bleibt der unbehagliche Widerstand in europäischen Werken auch in den sechziger Jahren bestehen. Das mögen drei völlig verschiedene Arbeiten eines französischen Plastikers, eines österreichischen Architekten und eines deutschen Malers verdeutlichen. Jean Ipousteguys Bronze hat den Titel Ein Mann durchstößt die Pforte (1966) - aber diese läßt sich, ungeachtet ihrer geringen Ausmaße nicht bewegen. Hans Hollein nennt seine Türe kennzeichnend Frustrations-Tor (Triennale Mailand 1968) (Abb. links) - nur eine von 42 Klinken öffnet sie. Die Fünf Türen (1967) des, nach eigener Aussage, "Malers der Meinungslosigkeit" Gerhard Richter (19) stellen weniger eine Sequenz sich eröffnender Leere dar, als Stadien einer Sprachlosigkeit, die Richter spannend findet. (20) Aber diese als Selbstzweck geschehende Öffnung ist eher die Ausnahme.

Auch in den letzten Jahren bleiben die Türen in Europa meist geschlossen, ob als fotorealistischer Rolladen (Alfred Hofkunst, 1970), als reflexionsreiche Bücher-Türe ins Lesezimmer (Hubertus Gojowczyk, 1975) (Abb. links), als Blockade-Aktion (Arbeitszeit, 1972). Für Anton Thuswaldner stellen seine 1975/76 entstandenen Kerkertüren Freiheitsentzugsobjekte dar. Wenn sich die Türe nur einen Spalt öffnet, werden wir spurensichernde Zeugen vermeintlicher Taten (Wolfgang Gäfgen: Ermittlung über ein Hauskleid, o. J.; Jochen Gerz: 31. Nacht, laß den Jäger schlafen, 1976). Selbst dem Torrahmen-Motiv, das im Gegensatz zur Türe eröffnende Funktion hat, kann in Europa der Zweck einer Verhinderung zukommen. Über ein von Christo in Basel eingereichtes Projekt schreibt Werner Zürcher: "alle Wege des Wenkenparkes mit einer Abfolge von 500 Toren zu rahmen, hätte das gesamte Ausstellungsgelände in Beschlag genommen. Die Arbeiten anderer Künstler ... wären dadurch ihrer Wirkungsmöglichkeit beraubt worden." (21)

Das wehrästhetische Moment einer verbergenden Hermetik bei Duchamp erscheint nach den Vergleichsbeispielen als europäisches Erbe, dem in den USA eigentlich nichts nahekommt. Daß jedoch nicht nur ein Numinoses jenseits des vom Bild bezeichneten Gefangenseins "west", sondern sich eine realistische Szenerie, mit welch ikonologischen Verbindungen auch immer, eröffnet, ist ohne die amerikanischen "invertierten" Erfahrungen unverständlich.

Die Frage nach Duchamps eigentlichem Ort zu beantworten, wird dadurch nur ein wenig einfacher. Sein Tor ist in seiner "Abständigkeit" zu anderen besehreibbar. Im
Gegensatz zu allen anderen Beispielen ist es ein unbearbeitetes objet trouvé. Und scheint es nicht für sein Gesamtwerk symptomatisch zu sein, daß der Blick auf seine objets trouvés oder ready mades den Zugang zu seiner künstlerischen Wirklichkeit versperrt?

Wenn man sich von Duchamps Gegeben seiend ...., das sich mit wesentlichen Errungenschaften der fünfziger und sechziger Jahre trifft, abwendet, befindet man sich in einem leeren Raum, d. h. wir sehen in einem Innenraum das Tor Duchamps von außen. Angesichts dieser Installation ist der realistische Mythos, oder in der Terminologie des letzten Jahrzehnts, die individuelle Mythologie, unsichtbar verborgen, die Türe erscheint als Wandakzent. Eine spätere Entwicklung dieses Gedankens sehen wir z.B. in der Wandmalerei an zwei gegenüberliegenden Wänden von Palermo (Galerie Heiner Friedrich, München 1971).

Hier wird der Umraum entscheidend, die Türe selbst ist, wie bei Bayers schon erwähntem Ost-West-Tor, ausgespart. Als Pathosformel ist es auf dem Rückzug und erscheint sozusagen als imaginäre "Denkform".

In der oben beschriebenen Weise spricht die Türe als Pathosformel den einzelnen Rezipienten an. Wenn heute mit den verschiedenen dafür geprägten Termini von "horizontaler Plastik" (z. B.: Giovanni Anselmo: Ohne Titel, 1971), von "Rauminstallationen" (z. B.: Maria Nordmann: Lichtraum, Kunstraum München 1977), vom "Projektbereich Plastik" (z. B. Ansgar Nierhoff : Tor, Köln 1975) die Rede ist, soll offenbar nicht mehr der Einzelne angesprochen werden. Diese Tore (Hausrucker-Co: Schräge Ebene, Projektzeichnung für den "Supersommer", Wien 1976, Stadttor, Entwurf für die Königsallee, Düsseldorf 1977) geben Ausblicke frei, eine Aussicht von einem, einen Überblick gewährenden, höheren Ort. Damit könnte die Hoffnung auf Einsicht in ökologische Bezüge verbunden sein (z. B.: Hidetoshi Nagasawa: Das Tor, 1975, Yeros Dimitris: Schatten, 1978). Im Unterschied zur Tradition der Triumphbögen fehlt bei den heute entstehenden Toren als Wegweiser ein damit unmittelbar gegebener Sinn, eine Bedeutung. Sie sind ikonographisch leer, nur ihre raumdefinierende Anlage erlaubt die Reflexion.

Die Frage nach der damit verbundenen Architekturvorstellung mag in der Utopie eines Verzichtes auf Innen-Außen-Gegensätze liegen, das ursprüngliche Schutzbedürfnis ist ohne bewußte Zuwendung an die Umwelt nicht mehr zu befriedigen. Darin liegt heute die über die ästhetische Erscheinungsweise hinausgehende ethische Relevanz des Tores als Bildwerk.


Anmerkungen:

1) Sauer. Josef: Symbolik des Kirchengebäudes, 1924, Münster 1964, S. 119
2) Schutting, Jutta: Tür + Tor, Elemente der Architektur, Band 1. St. Pölten 1979, S.23
3) Adolf Wölfli, Katalog Kunstmuseum Bern 1976, Abb. 123
4) Lankheit, Klaus: Das Triptychon als Pathosformel, Heidelberg 1959, S.5
5) Zit. nach: Gantner, Joseph: Rodin und Michelangelo, Wien 1953, S.26
6) The essential Writings of Mareel Duchamp, London 1975, S.173
7) Tomkins, Calvin: Marcel Duchamp und seine Zeit, Time-Life-Bücher 1966, S.171
8) Lebel, Robert: Marcel Duchamp, 1959, Köln 1972, S.164
9) Paz, Oetavio: *Water Writes Always in *Plural. In: Marcel Duchamp, Appearence stripped bare, New York 1973
10) Paz, op. cit. (Anm. 9), S.153
11) Schmied, Wieland: Die Türen des Unbewußten. KUNSTmonographie Dorothea Tarining, KUNSTmagazin 20. Jg.1/80, S.22-27
12) Haftmann, Werner: Antoni Tàpies, Katalog Retrospektive 1946-1973, Nationalgalerie Berlin 1974, S.13
13) In: Katalog Berlin (op. cit. Anm. 12), S.22 f.
14) ebenda,S.22
15) Joseph Beuys: Spuren in Italien, Katalog Kunstmuseum Luzern 1979, o. S.
16) Joseph Beuys: The secret block for a secret person in Ireland, Katalog Kunstmuseum Basel 1977, S.6
17) Robert Rauschenberg: Zeichnungen, Gouachen, Collagen, 1949-1979, Katalog Tübingen, München-Zürich 1979, S.179
18) Robert Rauschenberg, Katalog National Collection of Fine Arts, Washington 1976, S.5
19) Sager, Peter: Neue Formen des Realismus, Köln 1973, S.243-245
20) ebenda
21) In einem Leserbrief an Die Weltwoche vom 9, 1. 1980, S. 25 (Zürcher als Präsident der Kunstkommission Riehen/Basel)
22) Im Gegensatz dazu führt Constantin Brancusis Tor des Kusses (1935) als Teil des skulpturalen Ensembles von Tirgu-Jiu (Rumänien) vom Tisch des Schweigens auf der Straße der Helden zur Endlosen Säule und schließt zahllose traditionelle ikonographische Bezüge ein.

 

Nachwort 2004:

Anfang der 1980er Jahre, noch vor den Jahren der postmodernen, transavantgardistischen Erinnerungsflut blieb in diesem Text die Ikonografie des Themas auf den räumlichen Aspekt beschränkt. Die zeitlich-historische Rückbesinnung des folgenden Jahrzehnts war noch nicht abzusehen. Nach wie vor aber bilden Türen und Tore für die unterschiedlichsten Orientierungsmöglichkeiten ein beliebtes Material. Ein Beispiel dafür ist Die Toilette in der Ecke (1998, Abb. links) von Ilya Kabakov, eine Installation, die von der Interpretin Sabine Schulze ausführlich erläutert wurde (in: innenleben. Die Kunst des Interieurs. Vermeer bis Kabakov. Katalog, Städelsches Kunstinstitut und Städtische Galerie, Frankfurt 1998, S.418)

 

up