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Das Tor als Bild -
Zur lkonographie eines Motivs in der Modernen Kunst
In: Festschrift
für Wilhelm Messerer. Köln 1980, S.325-336
In der Modernen Architektur wird auf die Durchbildung
von Türen nur ausnahmsweise Wert gelegt.
In europäischen wie außereuropäischen Bauten war das
Tor seit frühester Zeit symbolisch entscheidende Grenze. In seiner
Ausführung konnte sich das ikonologische Programm des ganzen Tempels
oder der Kathedrale nach außen widerspiegeln. Christus als ostium
hält z. B. nach Honorius Augustodunensis in seiner Gerechtigkeit
die Ungläubigen fern und weist den Gläubigen den Weg zum Heiligtum
des Glaubens. (1)
Das Tor als aussagefähiger Symbolträger ist durch den Verlust
ikonologischer Programmatik in der neueren Architektur - woran auch
noch heute ausgeführte Kirchenportale grundsätzlich nichts
ändern - heimatlos geworden. Als Bildträger hat es jedoch
überdauert.
Offenbar besteht ein tiefverwurzeltes Bedürfnis, die Schwellensymbolik
als solche zu bewahren. Beim Durchschreiten dieser Zone treten wir in
kulturelle Geborgenheit ein, die vor der äußeren 'Wildnis'
schützt. Auch einer Hütte kommt diese den Einzelnen übergreifende
Funktion zu. Das Ausgesperrtsein beläßt uns in heimatlosem
Verlorensein, das Einsperren verwahrt uns in jedem Sinn.
Dem Fenster kommt mehr der metaphorische Wert des Ausblickes zu. Es
ist einmal bemerkt worden, daß mehr Hemmung besteht, in fremde
Fenster zu schauen, als
durch halboffene Türen. (2) Gewährt ein Fenster selten Einblick,
so öffnet es im Bild oder als Bild dem Blick eine weite Wirklichkeit.
Selten lenkt in der Malerei ein Tor den Blick auf ein Außen, wie
bei Waldmüllers Belauschte Liebesleute (1858) aus der Sammlung
Schäfer. Gerade die auch in der Lichtspaltung sichtbare Trennung
erfaßt den existentiellen Kontrast einer den gesamten Menschen
umfassenden und nicht nur den Blick freigebenden, unheimlichen Szene.
Das Tor als Bild spricht den Betrachter stärker an, es verbindet
sich damit ein Aufforderungscharakter, nicht nur zu schauen, sondern
sich zu bewegen, zu verändern, ja selbst für eine andere Wirklichkeit
offen zu sein.
Ein einheitliches Weltbild, wie es einem gotischen Stufenportal zugrunde
liegt, ist längst verloren. Paradoxerweise vermag sich in Allusion
an solche Vorbilder nur ein schizophrener Künstler wie Adolf Wölfli
eine integrative Kosmologie zu erhalten. In seiner Kreutzigung meiner
Wenigkeit (Abb. links) versperrt er allerdings den Zugang im spitzbogigen
Portal, wo er u. a. erläuternd schreibt: "Gekreuzigt wird
hier Gottes Sohn, weil er gesündigt hat ." (3)
Im folgenden soll nicht von Tür-Design oder Dekoration gesprochen
werden, wie sie etwa Max Ernst für das Haus von Paul Eluard 1923
geschaffen hat. Die sprachspielerische Komponente einer weiteren, nicht
erhaltenen Türe, deren Flügel Max Ernst als Schmetterlingsflügel
gestaltet hat, weist jedoch darüber schon hinaus. Vielmehr suche
ich zunächst nach dem "Tor als Pathosformel", in freier
Anlehnung an Klaus Lankheit, der in seinem Buch Das Triptychon als
Pathosformel schreibt: "Ein mit bestimmter Bedeutung geladenes
Format (oder eine Bildgattung) stirbt ab, nachdem es seinen geschichtlichen
Weg beendet hat. In unserem Fall stirbt es ab durch Säkularisierung
und steht so unter einem Doppelaspekt: die frei gewordene Hülle
dient zur Sakralisierung des Profanen." (4)
Das erste Mal wird die Türe als Werk unabhängig vom funktionellen
Einsatz oder architektonischen Rahmen bei Auguste Rodin thematisch greifbar.
Rodins Höllenpforte (Abb. links), deren Programm sich einzelne
Figuren als Torsi entzogen haben und verselbständigten, war nur
zu Beginn, 1880, als Auftrag für das Portal des geplanten Kunstgewerbemuseums
in Paris als Eingang konzipiert. Als der Plan für das Museum fallengelassen
wurde, ließ Rodin von diesem Werk nicht ab. Im Gegenteil, man
darf vermuten, daß die Funktionslosigkeit auf ihn zugleich befreiend
wirkte und seiner von Beginn eigentlich plastischen Vorstellung entgegenkam.
Bourdelle meinte mit Recht über das Werk: "Das ist weder eine
Mauer noch eine Türe." (5) Und wie klar wird Rodins eigene
Einstellung, wenn er 1900 sich auf einen Vorwurf hin mit der Frage verteidigt,
ob denn die Kathedralen je fertig geworden seien. So umfassend die Ikonologie
dieses Portals ist, so isoliert von Architektur, ja sogar ihr gleichrangig
hat er es aufgefaßt. Analog begriff Rodin Torsi als vollständige
Kunstwerke, was vom Publikum seiner Zeit als schockierend empfunden
wurde. Seine Höllenpforte ist nichts anderes als ein für sich
bestehender Architekturtorso.
Als plastisches Gesamtkunstwerk erfüllt Rodins Höllenpforte
das Erbe des 19. Jahrhunderts, als erratischer Architekturteil jenseits
von Abbildhaftigkeit blieb sie, so revolutionär sie war, ohne Folgen
und war nicht entwicklungsfähig.
Das bedeutendste Tor unseres Jahrhunderts ist Marcel Duchamps 1946-1966
entstandenes, sogenanntes "Unbekanntes Meisterwerk" Gegeben
seiend 1) Der Wasserfall, 2) Das Leuchtgas (Abb. links). Hier kann
es nicht um eine Interpretation des Ganzen gehen. Aber auch wenn man
sich nur mit dem äußeren Aspekt befaßt, ist es notwendig,
sich einige Tatsachen in Erinnerung zu rufen.
Das erste Mal nimmt Duchamp den Begriff "Tür" in einem
kryptischen, dadaistischen Text von 1915 auf, (6) der jedoch keine Erklärung
erlaubt.
In seinem Pariser Atelier in der Rue Larrey 11 ließ Duchamp 1927
eine Tür
als Verbindung zwischen drei Räumen, Bad und Schlafraum einerseits,
Schlafraum und Atelier andererseits, anbringen, so daß diese zugleich
geschlossen und offen sein konnte (Abb. rechts). Unter Gewährung
optimaler Funktionalität entzieht sich dieses Objekt üblichen
Türvorstellungen und wurde daher nach seiner Demontage 1963 als
ready made wieder aufgerichtet und ausgestellt. Eine weitere Tür
schuf er 1937 als Eingang für André Bretons Galerie "Gradiva".
Abb. links)1968 wurde sie für eine Türen-Ausstellung in New
York in Plexiglas noch einmal hergestellt. Dieser Idee liegen vielleicht
zwei Bilder von Rene Magritte mit vergleichbarer Idee zugrunde (Die
unerwartete Antwort, 1933; Die Perspektiven der Liebe, 1935).
Ist die Ateliertüre zugleich offen und geschlossen, ist der im
Umriß eines Paares geschnittene Durchgang offen, so ist das letzte
Hauptwerk immer geschlossen.
Zahlreiche Monographien, die zu Lebzeiten Duchamps erschienen sind,
schließen ihre Betrachtung in bewundernder Euphorie über
die scheinbar schaffenslose Offenheit der letzten Jahrzehnte. So schreibt
Calvin Tomkins: "Indem er ästhetische Ikonen umstürzte,
wo immer er sie fand auch die seines eigenen Kultes -, ist es Duchamp
gelungen, alle Türen im Hause der Kunst offenzuhalten." (7)
Gerade die Tatsache, daß Duchamp zwei Jahrzehnte bis zu seinem
Tode über die, dieser metaphorischen Auffassung ganz dinghaft widersprechende
Arbeit am sein Lebenswerk beschließenden Tor geschwiegen hat,
motivierte einen anderen Interpreten von der "provozierenden Unverfrorenheit,
im Augenblick eines Abgangs, den ein endgültiges Türenknallen
besiegelt" zu schreiben. (8) Das verschlossene Tor am Ende einer
vermuteten Leere eröffnet zuletzt den heimlichen Zublick auf sein
Schlußwerk, das gegen die früheren Werke offen ist und diese
einschließt.
Merkwürdigerweise ist auch dort, wo innerhalb der Deutung dieses
Werkes Etant
donnés ... dem Tor eine Rolle zukommt, von der Tatsache,
daß es sich um ein wirkliches Tor mit bestimmten formalen Merkmalen
handelt, kaum je die Rede.
Octavio Paz hat in seiner ikonographischen Untersuchung wichtige Beobachtungen
zusammengetragen. (9) Das Holztor und das Glas-Tor (nämlich des
Großes Glas genannten Werkes Die Neuvermählte,
von ihren Junggesellen entkleidet, sogar (1915-1923) seien zwei
Facetten derselben Idee: das Sehen durch das Dunkel hindurch und das
Nicht-Sehen durch die Transparenz. Hinter der Türe werde das zuletzt
sichtbar, was im Großen Glas enigmatisch konstruiert war.
Schließlich findet Paz im Gegensatz der vor einer Landschaft mit
Wasserfall ausgebreiteten Nackten und der preisgebenden Torschranke
das antipodische Verhältnis von Diana und Janus, die im Mythos
als
Doppelgänger verstanden wurden.
Gerade durch die Trennung vom heimlich beobachteten Bild jenseits unseres
Standortes, gewinnt dieses durch unsere Anwesenheit einen esoterischen
Sinn - der Betrachter wird nötig, damit die Nackte sich in den
Augen des Voyeurs wiederfindet. Paz sagt dazu: "Wir beobachten
uns beim Beobachten, und sie schaut in unserem sie als nackt erblickenden
Schauen." (10)
Das janusartige Tor, das räumlich nach innen wie nach außen
gerichtet ist und zeitlich den Gedankenkreislauf in Gang setzt, ist
nach dieser Deutung jedoch nur als bestimmte Determinierung des "Zuganges",
nämlich der optischen Inbesitznahme verständlich. Gerade darin
verschwindet es selbst als sichtbares Phänomen. Diese Türe
verdient offenbar keinerlei Beschreibung und Deutung. Der mögliche
Durchblick auf das Unsichtbare läßt das Sichtbare übersehen.
Der Grund für dieses verblüffende Desinteresse ist schon angeklungen.
Die Möglichkeit und im Ikonologischen wurzelnde Notwendigkeit,
in Marcel Duchamps Werk ständig Verweise aufeinander zu suchen,
zwang seit jeher den Blick weg von der phänomenalen Besonderheit
der Einzelwerke. Der andersartige Ansatz dieses Künstlers setzte
sein Schaffen als ontologisehe Ganzheit in antithetischer Weise in Kontrast
zur sonstigen Kunst unseres Jahrhunderts. Dadurch sind die Kritiker
in eine ahistorische Position gedrängt worden.
Um die verwirrende Vieldeutigkeit von Gegeben seiend ... zu begreifen,
ist einmal naiv festzuhalten, daß Duchamp daran zwei Jahrzehnte
gearbeitet hat. Diese äußerste Sorgfalt und alchemistische
Geduld erklärt eine historische Mehrschichtigkeit. Die eingangs
genannten früheren Türen Duchamps durchlaufen in ihren Jahrzehnte-Abständen
stilistisch das Spektrum zwischen Dadaismus und Surrealismus.
Um den historischen Stellenwert von Gegeben seiend ... zu erfassen,
ist es notwendig, die Geschichte der Tür-Darstellungen in unserem
Jahrhundert anhand einiger Beispiele zu verfolgen. Voraussetzung dafür,
daß ein Tor zur bildhaften Pathosformel wird, ist die frontale
Ausrichtung auf den Betrachter. Dies erfordert einen gewandelten Bildbegriff.
Genau genonmmen ist Duchamps Atelier-Türe (1927) ein praktischer
Einfall, der die raumgrenzen-bezogene Eigenschaft von "Türe"
negiert - auch wenn sie schließt, bleibt etwas, das von ihr verschlossen
werden könnte, offen. Weniger die Türe erweckt die Aufmerksamkeit,
als die Labilität der Raumverhältnisse. Ein ähnliches
Raumgefühl manifestiert sich in Herbert Bayers Collage Strandatelier
(1928/30) mit zwei angel- und klinkenlosen Türen. Bayer hat für
die "Container-Corporation-of-America"-Ausstellung (1945)
zwischen Ein- und Ausgang eines Korridors mit Seilen Kraftlinien gespannt,
die die Besucher durch den Raum geleiten. In diesem, die Linienästhetik
der fünfziger Jahre antizipierenden Raum wird man in der Bewegung
ausgerichtet.
Herbert
Bayer hat das Tor-Motiv im Ost-West-Tor (1970) (Abb.
links) wieder aufgegriffen, wobei die Offenheit das Charakteristikum
einer neuen Plastik-Dimension ist, wie sie sich in den siebziger Jahren
klar ausbildet. Es fällt auf, daß hier das Tor ausgesparte
Negativform ist und als Gegenstand nicht aufscheint. Darauf komme ich
zurück.
Die oben gestellte Frage nach der Entwicklung zur frontalen Bildauffassung
ist noch offen. Max Ernsts Bilder auf den Türen des Hauses von
Paul Eluard sind nicht frontal, weiters sind sie streng auf die Bildfläche
begrenzt, wie die akzeptierten Überschneidungen durch die Türplanken
zeigen. Auch die Materialfreude einer Collage vermag ein geöffnetes
Gatter, aber nicht eigentlich eine Tür als Bild zuzulassen (Max
Ernst: Zwei Kinder werden von einer Nachtigall bedroht, 1924)
(Abb. lrechts oben).
Im Surrealismus finden wir Türen als Stimmungsträger des Verbotenen,
Verheißungsvollen, Verdrängten, unterbewußter Inhalte
ganz allgemein, hinter der Bildbühne, oft in einer seitlich flüchtenden
Perspektive. Ob bei Pierre Roy (Die Gefahr auf der Treppe 1927/28),
Salvador Dali (Partielle Sinnestäuschung. Sechs Erscheinungen
Lenins auf einem Flügel, 1931, Abb. oben links), Dorethea Tanning
(Eine kleine Nachtmusik, 1934/44, Abb. oben rechts) (11) oder
anderen, immer wieder erwecken einzelne oder mehrere Türen eine
Erwartungshaltung, die durch existentielle Not in nackte Angst umkippen
kann (Lea Grundig: Gestapo im Haus, 1934). Vielleicht zeigt sich
auch in Paul Klees Tor zum verlassenen Garten (1935), das er
im Jahr seiner ersten Krankheitssymptome malt, das Ende an. Im selben
Jahr malt Ernst Ludwig Kirchner das Aquarell Waldfriedhof, das
im Torbogen von seiner, wenige Jahre später zum Selbstmord führenden
Melancholie kündet.
In allen diesen Beispielen reicht der optische Zugang aus. Wir sehen
in den Bildraum und verfolgen das Bildgeschehen, im Grunde bleiben wir
aber in Distanz. Wenn wir in den letzten Jahren scheinbar reflexionsfrei
gemalte Türen oder Türausschnitte betrachten (Leopold Hauer:
Bemalte Türe, 1971; Hansjörg Vogel: Raumtrennung,
o. J.), machen wir uns kaum je bewußt, was für eine Entwicklung
dazwischen stattgefunden hat.
Die Überwindung der optischen Distanz wird durch den "haptischen
Apell", wie man das nennen könnte, erreicht. Damit meine ich
Qualitäten der optischen Verunsicherung durch "ergreifende"
Bezugnahme des Betrachters. Das ging historisch in zweifacher Weise
vor sich: Einerseits in der New Yorker Schule durch die Wahl eines großen
Formates, das den Beschauer entweder in einen farbigen Alztionsraum
(Jackson Pollock, Willem De Kooning) oder in eine diffuse Farbwolke
(vor allem Mark Rothko) aufnimmt. Das perspektivefreie, rand- und schwerpunktlose
"all-over" dieser Werke verbietet dem Betrachter ein Abrücken,
wie das bei großformatigen Bildern früher notwendig war,
um sich einen Überblick zu verschaffen. Andererseits werden in
Europa, vor allem bei Antoni Tàpies (aber auch bei Jean Dubuffet,
Alberto Burri, u. a.) verschiedenste "bildfremde", den Tastsinn
reizende Materialien eingesetzt.
Werner Haftmann hat die Bilder von Tàpies lapidar beschrieben:
"Die Bilder bilden nichts ab. Sie selbst werden zu solch anonymen
Dingen wie Mauer, Fenster, Tor und Riegel. Wie diese sind sie abweisend,
verschwiegen ... Sie sind wie ein Stück anonymer Wirklichkeit ...
Das Bild wird Gegenstand." (12)
Tàpies selbst wehrt sich in seiner "Mitteilung über
die Mauer" (13) gegen den Vorwurf, er kehre zu einem "Sujet"
zurück, denn dieses Sujet gab es davor nicht. "Dagegen bewahren
meine Mauern, meine Fenster oder meine Türen - oder zumindest ihr
Abbild ihre Wirklichkeit, ohne etwas von ihrer archetypischen und symbolischen
Bedeutung zu verlieren." (14)
Es ist dieser Rückgriff auf Volksarchitektur, auf sein katalanisches
Erbe, der die Motive zu Pathosformeln wandelt, obwohl die hervorgerufenen
Bedeutungen ursprünglich gerade diesen mangelte.
Die haptisch-empfindbare
Materialität und Frontalität "baut" ein Hindernis,
einen undurchdringlichen Durchgang auf. Wir vermögen nicht in der
optischen Wahrnehmung zu verharren und stehen davor als Abgewiesene
in einem dadurch veränderten Ambiente. Das nach Jahren möglich
gewordene Ästhetisieren der spärlich, in ihrer Demut farbarm
prangenden Bildwände raubt ihnen ihre eigentümliche Kraft.
Die Graue Tür (1958) (Abb. links) verwehrt, trotz des Fehlens
der Tür selbst, den Zugang zum dahinter Verborgenen. Die von und
vor uns abgetrennte Bildwelt ist bild- und zeichenlos, das nicht Dargestellte
wird zur Metapher für das Unbekannte. Auch spätere Türen
bleiben frontal, selbst dann noch, als das Thema "Türe"
für Tàpies erschöpft ist und er ein Bett aus ihnen
zusammensetzt oder eine Stahltüre aus der Mauer bricht und sie
mit bunten Zeichen schmückt (Großes Bett aus Türen,
1972; Türe und Farben, 1974).
Der radikale Subjektivismus der informellen Kunst der fünfziger
Jahre ist in seiner Weltflucht zugleich der Ansatz für die Suche
nach einem Sinn. Wie die Sehnsucht nach einem Weg sich in der Pathosformel
Tor mannigfaltig formen kann, mag das Tempeltor (1958) von Fritz
Winter andeuten, dessen unbekannten Zeichenfragmente die Botschaft einer
fremden Kultur beschwören.
In der Plastik dieser Zeit wird der "haptische Impuls", der
zu einem Illusionismus-Verzicht drängt, der wichtigste Grund für
das Aufrauhen und schließliche Zerbersten der Oberflächen.
Dem Unbekannten hinter der Bildoberfläche entspricht dabei das
buchstäbliche Nichts im Kern der Skulpturen - als "Aufbruch"
der autonomen Kernplastik ein entscheidender Ansatz für neue Dimensionen
der Plastik seither.
Die Tür (1954-1956) von Joseph Beuys (Abb. links) aus der
Sammlung Hahn, heute im Wiener Museum für Moderne Kunst, ist keine
Türdarstellung und sie ist in ihrer Oberfläche zerborsten.
In ihrer Frontalität als ready made ist sie die nächste Parallele
zu Duchamps spanischem Tor und wie dieses ein in der Literatur seit
fast 25 Jahren nie besprochenes Hauptwerk. Die Frage nach dem Davor
und Dahinter ist allerdings weder wie bei Tàpies noch wie bei
Duchamp zu
beantworten. Nicht das Unsagbare und nicht das verborgene Werk, sondern
die Wirklichkeit befindet sich dort draußen, während hier
die heilspendenden Amulette des Kranichschädels und der Hasenpfoten
über das gescheiterte Experiment hinweghelfen, bei dem sich die
benützten Materialien (vor allem Bienenwachs) entzündeten
und das Atelier zerstörten. Mit Duchamp gemeinsam ist die alehemistische
Tendenz, alles innerhalb des Arbeitsprozesses Werk werden zu lassen,
in ein Gesamt-Opus einzubringen.
Für Beuys scheint die nach zwei Jahren erfolgte Transformierung
mittels seiner Lebenssymbole in einen transitorischen Gehalt ein entscheidender
Wendepunkt gewesen zu sein, der eine elende, von Selbstzweifel und depressiver
Todessehnsucht bestimmte Zeit "als ich zu sterben wünschte",
wie er selbst sagt (15), beschloß. In diesem Ausbruch unkontrollierter
Energie geschah ein Herausbrennen aus der isolierten Situation im Studio
und ein Aufbruch in Richtung "Soziale Plastik".
Bemerkenswerterweise sind die von Beuys geäußerten Vorbehalte
gegen Duchamp mit der eigenen Situation vor dem Atelierbrand vergleichbar.
Das betrifft nicht nur seine Aktion Das Schweigen von Duchamp wird
überbewertet (1964), als Duchamps letztes Werk noch unbekannt
war, sondern die angedeutete quasi-alchemistische Situation.
Beuys sagt: "Aber da eine gewisse hermetische, private Abgeschlossenheit
im System von Duchamp vorliegt, das, was ich als eine Sphäre des
Schweigens ja bezeichnet habe, und nicht als eine Sphäre der Kommunikation
und der Sprache, erscheint eben dieses für mich als ein wesentliches
Problem, an dem ich aber gerade gut anknüpfen kann, weil ich über
diesen Punkt hinausgehe, und zwar radikal hinausgehe." (16)
Die Pathosformel "Tor" macht den Unterschied von "hermetischer
Abgeschlossenheit" und dem "radikal darüber Hinausgehen"
in ihrer zwei-ansichtigen Bedeutung, eben Janushaftigkeit ganz deutlich.
Das Objekt Tür wird von Duchamp und von Beuys von zwei Seiten gesehen,
oder genauer, wir erblicken die Duchamp'sche Türe von außen
und die Beuys'sche von innen.
Duchamp verbirgt, was er zeigen will. Die erwähnten europäischen
Künstler dieser Zeit zeigen das Verbergen. Daß hinter der
ummauerten Tür sich eine andere Wirklichkeit eröffnet, ist
uneuropäisch.
Wie erwähnt, hatte die Wandlung zur Frontalität auch einen
von Europa unabhängigen Charakter in der New Yorker Schule, an
deren Errungenschaften Robert Rauschenberg ansetzt. Sein oft zitierter
Ausspruch: "Ich versuche in der Lücke zwischen Kunst und Leben
zu wirken" (17), zeigt die über die Abstrakten Expressionisten
hinausgehende Richtung an. Die genannte Lücke zwischen Kunst und
Leben versucht er durch die von Duchamp beeinflußte Umdeutung
der Collage-Technik zu schließen, indem das verwendete Material
in seiner ursprünglichen Dinglichkeit belassen und nicht mit anderem
im "combine" harmonisiert wird.
So stark empfindet Rauschenberg den Kunst-Leben-Zusammenhang, daß
er einmal sagte: "Ich würde wirklich gerne denken, daß
der Künstler nur eine andere Art Material im Bilde wäre, wo
er im Einklang mit all den anderen Materialien arbeitet." (18)
Eine Synthese aus der action-painting eines Pollock oder De Kooning,
und der meditativen Bannung vor der Leinwand eines Tàpies gibt
es nicht, aber Rauschenberg zeigt einen Ausweg. Nicht in oder hinter
das Bild, sondern vor das Bild setzt er den Bezugsraum. Für die
eingesetzte Tür im Interview (1955) (Abb. links) bedeutet
das nicht die Alternative Innen-Außen, sondem das Sowohl-als-auch,
indem sie Bild-Gegenstand und bewegliche, d. h. "wirkliche"
Tür bleibt. Die Tür verdeckt oder öffnet nicht nur diesen
oder jenen Teil, sondern verändert auch die Betrachtereinstellung.
Die gelben,
roten und bunten Türen von George Segal (1976, 1978,
Abb. links) oder James Rosenquist (1972) (Abb. rechts) stellen die bisher
letzten Konsequenzen dieser Tendenz dar. Der Rezeptionsbezug läßt
alle Einstellungen offen, da gibt es kein Davor, Dahinter, Daneben.
Hier öffnet sich die Pop-Kunst in andere Dimensionen.
Diese Türen führen mit oder ohne die menschlichen Negativformen
Segals aus dem Umraum in den Umraum, sie sind undurchschreitbare Raumscharniere,
die nichts verbergen oder eröffnen. Auch Rauschenbergs Türen
dieser Zeit (Rodeo Palast, 1975/76) verweisen, ob geöffnet
oder geschlossen, auf nichts anderes. Die Beweglichkeit der Türen
ändert nichts daran, daß das benützte Material keine
dinghafte Präsenz mehr hat. Das Werk wird flacher und leerer. Dadurch
birgt es kein Ambiente eines darin wie einst wohnenwollenden Künstlers.
Es geleitet den Betrachter daran vorbei.
Was bei Rauschenberg und den genannten Beispielen anderer Künstler
aus dem letzten Jahrzehnt auffällt, ist die Afrontalität und
damit zusammenhängend die oft wirkliche oder vermeintliche Mobilität
der Türen. Rauschenbergs Integration von Wirklichkeit unterscheidet
sich grundsätzlich von der Pop-Kunst, die Wirklichkeit und Alltag
reproduziert und umsetzt, sich jedenfalls damit indirekt befaßt.
Dadurch bricht der Identifikationsvorgang ab oder beginnt gar nicht.
Rauschenberg isoliert die Objekte, wodurch sie als solche sichtbar und
doch in ungewohnter Umgebung erscheinen. In der Pop-Kunst können
sie verfälscht werden, wie beispielsweise die weichen Plastiken
Claes Oldenburgs, oder sie werden abbildend in ihr ihnen zugehöriges
Feld gesetzt.
Da wird die Tür wie alles zum Konsumgut, wirkt wieder benützbar,
jedenfalls ohne unheimliche Nuance. Die Frontahtät solcher Türen
ist selbstverständlich, tautologisch und damit nicht weiter befragbar.
Hinter den Türen in den Stilleben Tom Wesselmanns sind keine Überraschungen
zu erwarten, dort wird gelebt wie davor auch.
Dagegen
bleibt der unbehagliche Widerstand in europäischen Werken auch
in den sechziger Jahren bestehen. Das mögen drei völlig verschiedene
Arbeiten eines französischen Plastikers, eines österreichischen
Architekten und eines deutschen Malers verdeutlichen. Jean Ipousteguys
Bronze hat den Titel Ein Mann durchstößt die Pforte
(1966) - aber diese läßt sich, ungeachtet ihrer geringen
Ausmaße nicht bewegen. Hans Hollein nennt seine Türe kennzeichnend
Frustrations-Tor (Triennale Mailand 1968) (Abb. links) - nur
eine von 42 Klinken öffnet sie. Die Fünf Türen
(1967) des, nach eigener Aussage, "Malers der Meinungslosigkeit"
Gerhard Richter (19) stellen weniger eine Sequenz sich eröffnender
Leere dar, als Stadien einer Sprachlosigkeit, die Richter spannend findet.
(20) Aber diese als Selbstzweck geschehende Öffnung ist eher die
Ausnahme.
Auch in
den letzten Jahren bleiben die Türen in Europa meist geschlossen,
ob als fotorealistischer Rolladen (Alfred Hofkunst, 1970), als reflexionsreiche
Bücher-Türe ins Lesezimmer (Hubertus Gojowczyk, 1975)
(Abb. links), als Blockade-Aktion (Arbeitszeit, 1972). Für Anton
Thuswaldner stellen seine 1975/76 entstandenen Kerkertüren
Freiheitsentzugsobjekte dar. Wenn sich die Türe nur einen Spalt
öffnet, werden wir spurensichernde Zeugen vermeintlicher Taten
(Wolfgang Gäfgen: Ermittlung über ein Hauskleid, o.
J.; Jochen Gerz: 31. Nacht, laß den Jäger schlafen,
1976). Selbst dem Torrahmen-Motiv, das im Gegensatz zur Türe eröffnende
Funktion hat, kann in Europa der Zweck einer Verhinderung zukommen.
Über ein von Christo in Basel eingereichtes Projekt schreibt Werner
Zürcher: "alle Wege des Wenkenparkes mit einer Abfolge von
500 Toren zu rahmen, hätte das gesamte Ausstellungsgelände
in Beschlag genommen. Die Arbeiten anderer Künstler ... wären
dadurch ihrer Wirkungsmöglichkeit beraubt worden." (21)
Das wehrästhetische Moment einer verbergenden Hermetik bei Duchamp
erscheint nach den Vergleichsbeispielen als europäisches Erbe,
dem in den USA eigentlich nichts nahekommt. Daß jedoch nicht nur
ein Numinoses jenseits des vom Bild bezeichneten Gefangenseins "west",
sondern sich eine realistische Szenerie, mit welch ikonologischen Verbindungen
auch immer, eröffnet, ist ohne die amerikanischen "invertierten"
Erfahrungen unverständlich.
Die Frage nach Duchamps eigentlichem Ort zu beantworten, wird dadurch
nur ein wenig einfacher. Sein Tor ist in seiner "Abständigkeit"
zu anderen besehreibbar. Im
Gegensatz zu allen anderen Beispielen ist es ein unbearbeitetes objet
trouvé. Und scheint es nicht für sein Gesamtwerk symptomatisch
zu sein, daß der Blick auf seine objets trouvés oder ready
mades den Zugang zu seiner künstlerischen Wirklichkeit versperrt?
Wenn man sich von Duchamps Gegeben seiend ...., das sich mit
wesentlichen Errungenschaften der fünfziger und sechziger Jahre
trifft, abwendet, befindet man sich in einem leeren Raum, d. h. wir
sehen in einem Innenraum das Tor Duchamps von außen. Angesichts
dieser Installation ist der realistische Mythos, oder in der Terminologie
des letzten Jahrzehnts, die individuelle Mythologie, unsichtbar verborgen,
die Türe erscheint als Wandakzent. Eine spätere Entwicklung
dieses Gedankens sehen wir z.B. in der Wandmalerei an zwei gegenüberliegenden
Wänden von Palermo (Galerie Heiner Friedrich, München 1971).
Hier wird der Umraum entscheidend, die Türe selbst ist, wie bei
Bayers schon erwähntem Ost-West-Tor, ausgespart. Als Pathosformel
ist es auf dem Rückzug und erscheint sozusagen als imaginäre
"Denkform".
In der oben beschriebenen Weise spricht die Türe als Pathosformel
den einzelnen Rezipienten an. Wenn heute mit den verschiedenen dafür
geprägten Termini von "horizontaler Plastik" (z. B.:
Giovanni Anselmo: Ohne Titel, 1971), von "Rauminstallationen"
(z. B.: Maria Nordmann: Lichtraum, Kunstraum München 1977),
vom "Projektbereich Plastik" (z. B. Ansgar Nierhoff : Tor,
Köln 1975) die Rede ist, soll offenbar nicht mehr der Einzelne
angesprochen werden. Diese Tore (Hausrucker-Co: Schräge Ebene,
Projektzeichnung für den "Supersommer", Wien 1976, Stadttor,
Entwurf für die Königsallee, Düsseldorf 1977) geben Ausblicke
frei, eine Aussicht von einem, einen Überblick gewährenden,
höheren Ort. Damit könnte die Hoffnung auf Einsicht in ökologische
Bezüge verbunden sein (z. B.: Hidetoshi Nagasawa: Das Tor,
1975, Yeros Dimitris: Schatten, 1978). Im Unterschied zur Tradition
der Triumphbögen fehlt bei den heute entstehenden Toren als Wegweiser
ein damit unmittelbar gegebener Sinn, eine Bedeutung. Sie sind ikonographisch
leer, nur ihre raumdefinierende Anlage erlaubt die Reflexion.
Die Frage nach der damit verbundenen Architekturvorstellung mag in der
Utopie eines Verzichtes auf Innen-Außen-Gegensätze liegen,
das ursprüngliche Schutzbedürfnis ist ohne bewußte Zuwendung
an die Umwelt nicht mehr zu befriedigen. Darin liegt heute die über
die ästhetische Erscheinungsweise hinausgehende ethische Relevanz
des Tores als Bildwerk.
Anmerkungen:
1) Sauer. Josef: Symbolik des Kirchengebäudes,
1924, Münster 1964, S. 119
2) Schutting, Jutta: Tür + Tor, Elemente der Architektur, Band
1. St. Pölten 1979, S.23
3) Adolf Wölfli, Katalog Kunstmuseum Bern 1976, Abb. 123
4) Lankheit, Klaus: Das Triptychon als Pathosformel, Heidelberg 1959,
S.5
5) Zit. nach: Gantner, Joseph: Rodin und Michelangelo, Wien 1953, S.26
6) The essential Writings of Mareel Duchamp, London 1975, S.173
7) Tomkins, Calvin: Marcel Duchamp und seine Zeit, Time-Life-Bücher
1966, S.171
8) Lebel, Robert: Marcel Duchamp, 1959, Köln 1972, S.164
9) Paz, Oetavio: *Water Writes Always in *Plural. In: Marcel Duchamp,
Appearence stripped bare, New York 1973
10) Paz, op. cit. (Anm. 9), S.153
11) Schmied, Wieland: Die Türen des Unbewußten. KUNSTmonographie
Dorothea Tarining, KUNSTmagazin 20. Jg.1/80, S.22-27
12) Haftmann, Werner: Antoni Tàpies, Katalog Retrospektive 1946-1973,
Nationalgalerie Berlin 1974, S.13
13) In: Katalog Berlin (op. cit. Anm. 12), S.22 f.
14) ebenda,S.22
15) Joseph Beuys: Spuren in Italien, Katalog Kunstmuseum Luzern 1979,
o. S.
16) Joseph Beuys: The secret block for a secret person in Ireland, Katalog
Kunstmuseum Basel 1977, S.6
17) Robert Rauschenberg: Zeichnungen, Gouachen, Collagen, 1949-1979,
Katalog Tübingen, München-Zürich 1979, S.179
18) Robert Rauschenberg, Katalog National Collection of Fine Arts, Washington
1976, S.5
19) Sager, Peter: Neue Formen des Realismus, Köln 1973, S.243-245
20) ebenda
21) In einem Leserbrief an Die Weltwoche vom 9, 1. 1980, S. 25 (Zürcher
als Präsident der Kunstkommission Riehen/Basel)
22) Im Gegensatz dazu führt Constantin Brancusis Tor des Kusses
(1935) als Teil des skulpturalen Ensembles von Tirgu-Jiu (Rumänien)
vom Tisch des Schweigens auf der Straße der Helden
zur Endlosen Säule und schließt zahllose traditionelle
ikonographische Bezüge ein.
Nachwort 2004:
Anfang
der 1980er Jahre, noch vor den Jahren der postmodernen, transavantgardistischen
Erinnerungsflut blieb in diesem Text die Ikonografie des Themas auf
den räumlichen Aspekt beschränkt. Die zeitlich-historische
Rückbesinnung des folgenden Jahrzehnts war noch nicht abzusehen.
Nach wie vor aber bilden Türen und Tore für die unterschiedlichsten
Orientierungsmöglichkeiten ein beliebtes Material. Ein Beispiel
dafür ist Die Toilette in der Ecke (1998, Abb. links) von
Ilya Kabakov, eine Installation, die von der Interpretin Sabine Schulze
ausführlich erläutert wurde (in: innenleben. Die Kunst
des Interieurs. Vermeer bis Kabakov. Katalog, Städelsches Kunstinstitut
und Städtische Galerie, Frankfurt 1998, S.418)
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