Wien und die Anfänge der Abstraktion

In: Orient und Okzident im Spiegel der Kunst. Festschrift H. G. Franz zum 70. Geburtstag. Graz 1986, S.465-475

Vorbemerkung:
In den Jahren nach dem zweiten Weltkrieg erschien das Für und Wider die abstrakte Kunst als Glaubenskampf, nach dem Motto "Wer nicht für das Informel ist, ist gegen die moderne Kunst". Der überraschende Wandel in den sechziger Jahren, der verschiedene Formen des Realismus in den Brennpunkt des Interesses rückte, ließ das erste Mal die Ahnung aufkommen, daß das dialektische Verhältnis von Abstraktion und Naturalismus-Realismus nicht mit modern-reaktionär kurzzuschließen ist. Das heute selbstverständliche Nebeneinander der beiden Pole künstlerischer Gestaltung hat uns zwar von einem Dogma erlöst, aber es gleichzeitig notwendig werden lassen, die Ursprünge gegenstandsloser Kunst erneut verstehen zu lernen. Der heroische Kampf von Kandinsky, Malewitsch, Mondrian u.a. wird immer mehr im historischen Umfeld betrachtet. Nur wer die Zusammenhänge dieser schrittweisen Entwicklung im Auge behält, wird der Versuchung entgehen, das Erscheinen einzelner abstrakter Ansätze überzubewerten.

Der Begriff "moderne Kunst" hat sich in Wien am Ende des 19.Jahrhunderts durchgesetzt (1), und will man einigen Aspekten der abstrakten Kunst näherkommen, ist dieses Selbstbewußtsein einer Gruppe von Künstlern, die sich das erste Mal als modern verstand, näher zu beleuchten.

Leopold Stolba
Michel Seuphor hat in seinem grundlegenden Werk Die Entstehung der abstrakten Kunst (2) für die erste Abbildung (T. links Abb.1) ein Blatt eines Wiener Künstlers aus dem Jahr 1906 benützt, bevor er auf die etwas später einsetzende Entwicklung des Kubismus bei Picasso und Braque einging. Seuphor hat dieses Leitmotiv nirgendwo erklärt, und vergeblich wird man nach einer Monographie oder auch nur einem Aufsatz über diesen Leopold Stolba (1859-1929) fahnden. 1958 fand im Kupferstichkabinett der Wiener Akademie für bildende Künste am Schillerplatz eine Ausstellung seiner Blätter statt (3), und dies war der offensichtliche Anlaß für Seuphor, der allerdings sonst über keine Informationen zu verfügen schien (4).

Bei dem gezeigten Stück handelt es sich keineswegs um ein singuläres Zufallsprodukt, vergleichbar jenen durch die Sehgewohnheiten unseres Jahrhunderts bedingten Assimilations-Versuchen, sich einer Goethe-Farb-Studie zur Illustration theoretischer Reflexionen (5), oder an sogenannten Tantra-Kunst-Skizzen jenseits ihres mythischen Kontextes und im Detail (6) u.ä. als proto-abstrakte Formen im interesselosen Wohlgefallen zu erfreuen. Solche ästhetisierenden Selektionen sind Paradebeispiele unhistorischer Weltsicht.

Unser Fall liegt anders. Es handelt sich nicht um ein zufällig erhaltenes Blatt, das als Randprodukt ganz anderer Studien entstanden wäre, sondern um ein Beispiel unter vielen, die man in Museen und im Privatbesitz aufbewahrt. Sie sind so unbekannt geblieben, daß etwa ein Konvolut in der Sammlung des Museums für angewandte Kunst in Wien unter "Kolo Moser", dem bedeutenden Wiener Secessionisten und Mitbegründer der Wiener Werkstätte, eingeordnet ist. Sie sind leicht als Stolba-Arbeiten nachzuweisen, weil sie teilweise auf den Abbildungs-Rückseiten einer Liebermann-Monographie entstanden sind, genauso wie manche Blätter, deren Provenienz auf Stolba zurückgeht, im Gebäude der anderen Wiener Akademie.

Drei Stadien der Abstraktion könnte man in Stolbas "Tunk-" oder "Vorsatzpapieren" unterscheiden. Serielle Muster, die als Entwürfe für eine handwerkliche Umsetzung gedient haben mögen und durch das Einstreuen von naturalistischen Motiven, wie Fischen und Vögeln, gekennzeichnet sind. Serielle ornamentale Anordnungen ohne solche Motive, die man als Bucheinband und dergleichen benützen könnte, die aber auch durch eine richtungslose Akkumulation zu einem afunktionellen Zusammenhang führen. In letzter Konsequenz verzichtet Stolba auf den ornamentalen Effekt serieller Wiederholung, und übrig bleiben gegenstandslose "Landschaften".

Einzelne Arbeiten sind datiert und signiert, wobei ich mir nicht sicher bin, ob von seiner Hand oder später zur Kennzeichnung von fremder Hand eingesetzt. Stolbas Vorstoß in das abstrakte Neuland geht über Gestaltungen reich dekorativer Ausrichtung, wie z.B. von Carl Beitel (T. links/links unten), u.a. hinaus.

Auch ein Adolf Böhm (1861-1927), über den ebenfalls nicht viel bekannt ist, gelangt an die abstrakte Grenze in seinen Landschaften, ohne sie wirklich zu überschreiten (T. links/rechts unten).
Diese Beispiele zeigen das Klima an, in welchem Stolbas Versuche gedeihen konnten, die man als einen zufälligen Balanceakt zwischen Stilisierung und kunstgewerblichem Automatismus bezeichnen möchte. Doch so einfach liegt der Fall nicht. Stolba war keine Einzelerscheinung.

Franz von Zülow
Gegen die Abstraktionstendenz eines Franz v. Zülow (1883-1963) kann der mögliche Einwand von zufälliger Spielerei mit Techniken und Materialien nicht so leicht erhoben werden. Seine Papierschnittdrucke, die er als Monatshefte in Leporello-Form zusätzlich aquarellierte, sind - im Gegensatz zu Stolbas Arbeiten - verkauft worden. In ihnen stilisierte Zülow nicht nur, wie eine Kamelherde (1914, T. links/rechts oben)) auf dreieckige oder rechteckige Splitter zu einer systematischen Zerlegung des Bildgefüges. Bereits 1909 entstand Burg über Häusern (Znaim, T. links oben), worin später, konsequent über die spezifische Komposition hinausgeführte Bilder sich ankündigen: 1915 nennt er ein Werk auch Abstrakte Landschaft. Dazwischen liegt der noch assoziativ ausgreifende Gewitterhimmel (1913). Zülow hat den Begriff "Abstraktion" nicht viel später als andere verwendet, denen wir die Entwicklung der Abstraktion zuschreiben - "Abstraktion" 1914, Architektur abstrakt 1915 (T. links unten)... ; sein an Mondrian erinnernder Titelblatt-Raster von 1915 ist in seinem eigenen Werk angelegt (Abb.12).

Der 1908 entstandene Assyrerkönig oder die abstrakte Blüte, ein Jahr später, verdanken mehr der Volkskunst ihre Anregungen als der Avantgarde andernorts. Doch auch für Malewitsch oder Kandinsky waren dergleichen Wurzeln wichtig.

Im Gesamtwerk Zülows, der erst 1963 80jährig in Wien verstorben ist, hat die Abstraktion nur selten, und wenn, dann peripher als ein Blatt unter anderen der jeweiligen Monatshefte, sein Interesse erweckt. Doch hat er selbständig in seinen Bildern das perspektivische Raumgerüst durch ein von geometrischen Urelementen bestimmtes Flächenmuster aufgelöst.

Stolba und Zülow oder auch Untersberger (Abb. 13) u.a. (7) sind Beispiele einer abstrakten Gestaltungweise am Rande von Materialversuchen oder im Rahmen des Kunstgewerbes; sie haben nicht eigentlich autonome Bilder geschaffen, auch wenn sie ihre graphischen Blätter signiert und damit als eigenständige Gebilde verstanden haben. Doch es gab auch schon sehr früh selbständig erscheinende Werke; zwei der Großen in Wien nach 1900 sind als Kronzeugen anzuführen: Josef Hoffmann und Gustav Klimt. Hoffmanns abstrakte Mörtelreliefs entstanden 1901/02, Klimts "abstraktes" Mosaik wurde 1905 entworfen. Diese beiden Werke geistern als autonom-abstrakte Prototypen durch die Kunstgeschichte.

Josef Hoffmann
Für die Mörtelschnitt-Reliefs kann ich mich auf eine Untersuchung von Dieter Bogner beziehen (8).Oft hat man Hoffmanns Versuch als Vorwegnahme von Tendenzen der 20er Jahre interpretiert. Werner Hofmann konstatierte, das Relief "übersprang in genialer Unbefangenheit den noch bevorstehenden zweidimensionalen Artikulationsprozeß der geometrischen Form, dem ein Jahrzehnt später Kupkas Fugen und Vertikalpläne angehören, und betrat den Bereich der dreidimensionalen 'Konkretion', eine Problemlage also, mit der sich Malewitsch, Vantongerloo und das Bauhaus neuerlich auseinandersetzen sollten," und Sekler ergänzte, daß Josef Hoffmann "in kaum glaublicher Weise Entwicklungen vorwegnimmt, die erst etwa fünfzehn Jahre später im Neoplastizismus und der 'de Stijl'-Bewegung zur Reife gelangten."

Gemeinsam ist die Verwendung einfacher geometrischer Formen. Diese Reduktion ist - darin liegt der wichtige Unterschied - von architektonischen Gestaltungsmitteln bestimmt gewesen, d.h. die Reliefs sind nicht aus dem spezifischen Rahmen herauszunehmen, sie entsprechen damit der Situation als Teil des dekorativen Systems im Rahmen einer gesamtkünstlerischen Ausstellung. Auch die anderen in die Mauer eingesetzten quadratischen Bildwerke, ob Gemälde, Mosaik oder in einer anderen Technik, dienen einem Gesamtkonzept. Allerdings können sie formal auch an einer anderen Stelle isoliert ausgestellt und betrachtet werden. Das hängt nicht zuletzt damit zusammen, daß sie aus dem jeweiligen Gesamtwerk der Künstler nicht herausfallen. Dieser irritierende Unterschied weckt unser Interesse.

Es ist notwendig, ein paar klärende Bemerkungen zur Situation der Secession anzubringen. Als die Secession 1897 entstand, war sie eine avantgardistische Protestbewegung gegen das verkrustete und kommerziell orientierte Ausstellungs-Unwesen des Künstlerhauses. Die Secession als Protestbewegung war keineswegs homogen, sondern bestand aus zwei Gruppen, die von der Autorität Gustav Klimts zusammengehalten wurden. Im damaligen Sprachgebrauch waren das die "Nur-Maler" und die "Raumkünstler". Die "Raumkünstler" waren vom Gesamtkunstwerks-Gedanken motiviert und entwickelten die entscheidenden Impulse. 1903 gründete Hoffmann mit Kolo Moser die Wiener Werkstätte; beide waren neben anderen Secessionisten auch Professoren der Kunstgewerbeschule; und Hoffmann war auch eine der zentralen Figuren der sogenannten "Klimt-Gruppe", die 1905 die Secession verließ (9). Im Gegensatz zu Adolf Loos, der auch die Kunst als Handwerk verstanden wissen wollte, wollten die "Raumkünstler" umgekehrt auch das Handwerk künstlerisch nobilitieren. Architektur als Kunst und vor allem Innenarchitektur als künstlerisches Prinzip im Sinne Hoffmanns läßt keinen unkünstlerischen Freiraum.

An einer Nahtstelle sieht man diese Einbindung des Relief-Gevierts in die Wand: der dreifache Quadratmuster-Fries wird an der Oberseite unterbrochen oder anders ausgedrückt, es hängt das Relief gewissermaßen am geometrischen Ornamentrand.

Die 1902 stattfindende Secessionsausstellung huldigte bekanntlich der Beethoven-Statue Klingers und damit indirekt der beglückenden Macht von Kunst schlechthin. Jeder bekam in diesem System seinen Platz zugewiesen und erfüllte ihn gemäß dem Ort und der Distanz zum zentralen Hauptwerk.

In diesem Sinn ist das Hoffmann-Relief Stenogramm und Konzentrat architektonischen Denkens im Medium der bildenden Raumkunst Hoffmann war, das muß ergänzt werden, für die Gesamtgestaltung verantwortlich. Zwar dürfen wir nicht nach einer realistischen Abbildung von Häusern suchen, aber von einer Projektion architektonischer Gedanken sprechen.

Wenn ein Werk nicht einzuordnen ist, wie in unserem Fall, weil Hoffmann später derartige Versuche nicht mehr unternahm, dann schwebt es plötzlich in einem ahistorischen Freiraum, wo es sich der ordnungsstiftenden Sucht des Kunsthistorikers anbietet, um wieder zu einem Fixpunkt des geschichtlichen Geschehens zu werden. Aber es geht ja nicht um die Frage, ob uns ein Werk irgendwo nicht hineinpaßt und wir es deswegen später oder woanders einordnen, sondern darum, unseren Horizont derart zu erweitern, bis sich ein Verständnis der unmittelbaren Zusammenhänge einstellt.

Die Raumkünstler schufen sich durch neue Techniken und Materialexperimente - wie Stolba in seinen Tunkpapieren - in dekorativen Randbezirken gestalterische Freiräume, die durch das schablonenhafte Kunstgattungendenken nicht zu fassen sind, einen Freiraum also, in dem sie sich nicht streng an die akademischen Bildvorstellungen und Bildgesetze halten mußten. Hier konnten sie ihre neuen und unkonventionellen künstlerischen Ideen erproben, ohne eine Konfrontation mit dem anerkannten Kunstideal befürchten zu müssen. Dieses Experimentierfeld war in einer "Grauzone" zwischen der traditionellen Bildkunst und dem in dieser Zeit aufgewerteten Kunstgewerbe angesiedelt; in ihr konnten sich alte und neue, konservative wie revolutionäre Anschauungen mischen, ohne hart aufeinanderzuprallen. "Es gehört mit zu den Leistungen der Künstler dieser Zeit, daß sie sich dieses aus späterer Sicht terminologisch so schwer faßbare Tätigkeitsfeld geschaffen haben." (10)

Außerhalb dieser Zonen, bzw. innerhalb traditioneller Kunstgattungen wäre es in Wien unmöglich gewesen, die gleichen Prinzipien gestalterisch einzusetzen. Das gilt auch für Klimt.

Gustav Klimt
Klimts "abstraktes" Mosaik im Palais Stoclet in Brüssel ist immer wieder auch von Künstlern wie Theo van Doesburg aus der De Stijl-Gruppe voll Verblüffung bewundert und von Kunsthistorikern als außerordentliches Werk, das seiner Entschlüsselung harrt, beschrieben oder eher angestaunt worden.

Nebehay schrieb von einer "bemerkenswerten abstrakt-dekorativen Komposition" und "Man wird sich mit diesem Teil des Stocletfrieses wegen seines möglichen Einflusses auf die jüngere zeitgenössische Kunst noch beschäftigen müssen."(11)

Werner Hofmann äußert sich so: "Der Umstand, daß Klimt die Stirnwand des Raumes nicht durch ein anthropomorphes Motiv betont, sondern mit einer abstrakten Flächenkomposition versieht, kommt dem Rückzug des Malers auf die dekorativ-ornamentalen Formbezirke des Kunsthandwerkers gleich und impliziert die Ebenbürtigkeit beider Gestaltungsbereiche." (12)

Novotny kommentierte das "rein abstrakt-ornamentale Hochrechteck" wie folgt: "Als ungegenständliches Formgebilde steht es völlig
vereinzelt im Werk Klimts, in seiner extremen Angleichung an den Geist der Architektur erinnert es an das erstaunliche stalaktitenartige Kastenrelief, das Hoffmann in die Wand des Secessionsraumes unter den 'Feindlichen Gewalten' des Beethovenfrieses eingesetzt hatte." (13)

Im selben Sinn schließt sich zuletzt Sekler in seiner Hoffmann-Monographie an: "Das dritte Mosaikpaneel mit dem abstrakten Bild liegt den Fenstern gegenüber und kann dadurch selbst wie ein symbolisches Fenster in eine Welt aufgefaßt werden, die das Gegenbild der wirklichen ist, welche sich als Garten vor den Saalfenstern ausbreitet ... Sollte es einmal gelingen, die Bedeutung der abstrakten Komposition zu ergründen, so wird es selbstverständlich werden, womit hier, an der behütetsten Stelle des Rauminneren, Klimt die Gäste beim gemeinsamen Mahl konfrontieren wollte." (14)

Das Thema des gesamten Frieses erinnert an den Beethovenfries, der ebenfalls mit dem Kußmotiv schließt. Doch können uns vielleicht die Unterschiede zu einer ersten Annäherung helfen. Im linken Raum der Secession betrat der Besucher die Klinger-Beethoven-Ausstellung und sah sich sofort der Wand der dunklen Mächte gegenüber. War es ein Zufall, daß unter der ausschließlich ornamentalen Zone rechts vom "nagenden Kummer" sich das Hoffmann-Relief befand?

Auf der linken Wand befindet sich die den Ritter (Abb. links) anflehende schwache Menschheit, darüber die fliegenden "Sehnsüchte und Wünsche", die die Verbindung zur rechten Wand herstellen und bis zur "Poesie" reichen. Nach einem leeren Zwischenstück bildet das von einem Engelschor hinterlegte "Diesen Kuß der ganzen Welt" mit Sonne und Mond in einer schützenden Aura den Abschluß einer "Erfüllung" (Abb. rechts).

Auffällig ist einerseits der Gegensatz von weitgehend leeren Flächen an den Flügeln und der dunklen Ornamentierung an der Stirnseite, andererseits das Prinzip der kontinuierlichen Abfolge von links nach rechts. Am Anfang und am Ende steht das nackte, zuerst flehende, knieende, dann sich stehend glücklich umarmende Menschenpaar (Abb. links. Vgl. Der Kuß, 1908; Abb. rechts).

Im Palais Stoclet gibt es keine Akte, der Kuß wird zu einem Höhepunkt ornamentaler Symbolik. Der Mantel des Mannes ist von goldenen Scheiben, Quadraten mit Tieren oder geometrischen Ornamenten und kleineren Füll-Elementen bedeckt, das Gewand der Frau durch Kreis-Muster gekennzeichnet. Blüten und goldene Blattdreiecke bilden den Grund des nun knieenden Paares.

Dem Kuß der "Erfüllung" steht kein flehendes Paar gegenüber, sondern eine einzelne, in der Gebärde ägyptisierende, in die Fläche gebreitete Frau. Vielleicht spielt hier als Anfang nicht ein zeitlos-menschlicher Inhalt, sondern ein kulturell-historisches Motiv die Rolle einer fernen Vision, die sich als erstes dem eintretenden Bewohner oder Besucher des Speisesaales darbot. (15) Nicht eine zeitliche Abfolge, sondern eine Konfrontation in symmetrischer Anordnung findet statt. Alle anderen Teile, vom sich ausbreitenden, in Spiralästen sich verzweigenden Lebensbaum, über die Ornament-Büsche bis zu den eingestreuten Mustern und Tieren, wie den wachenden Horus-Falken, sind spiegelbildlich doppelt vorhanden und auch nach einer Vorlage angefertigt worden.

Es ist weder eine Abfolge eines Geschehens, noch ein zusammenhängendes Kontinuum vorhanden. Die einzelne Frau als "Erwartung" erfährt gegenüber die "Erfüllung", ohne daß es dafür eine Vermittlung, einen Grund oder ein Hindernis (wie im Beethovenfries) gäbe. Wäre es denkbar, in rein additiver Weise nach der Lücke zu fragen, die zwischen einzelner Frau und Paar, auf welches die "Erwartung" ja nicht blickt, besteht? Dann wäre die Brücke der Mann; aber warum erscheint er nicht als solcher?

Das abstrakte Feld unterscheidet sich von den Lebensbaum-durchwirkten Flächen durch die Fülle bzw. durch das Fehlen von Wand-Grund (darin analog dem Beethoven-Fries). Es ist eine trotz vorhandener Spiralen erstarrte Welt der geordneten Regelmäßigkeit, die nicht zuletzt durch die Kostbarkeit besticht.

Legen wir einmal die abstrakte Komposition auseinander. Als Rahmen sind links und rechts drei Streifen zu sehen, jeweils Quadrat- und Spiral-Variationen. Als Basis in der Mitte ein aus Dreiecken gefügtes grundrißartiges Quadrat, darüber vegetabiles Rankenwerk in einem Querrechteck. Darüber ein Hochrechteck aus drei Bahnen, rechts und links säumen aus bunten Streifen gefügte Quadrate einen kleinteiligen mittleren Bereich, der wiederum geteilt ist, oben spiralig und unten rechteckiggestreift. An den beiden Rändern sieht man zwei Quadrate; das obere mit Quer- und Längs-Linien, der angrenzende Bereich darunter von den drei ornamentalen Streifen abgesondert; das untere nicht durch horizontale oder vertikale Linien geteilt, sondern zentriert; links und rechts davon zwei schmale liegende Streifenelemente.

Zufälligerweise hat sich ein Plakat der Wiener Werkstätte erhalten (16), das einen vergleichbaren, analogen Aufbau hat und dem das anthropomorphe Zentrum noch deutlicher anzumerken ist. Das ist natürlich nur grundsätzlich und nicht als formale Parallele zu sehen.

Ob das auf dem Mantel des Mannes in der "Erfüllung" wiedergegebene, durch rechteckige Teile aufgelöste Quadrat auf die Basis des Hochrechtecks der Schmalseite des Raumes Bezug nimmt oder nicht, scheint mir nicht so entscheidend wie die stilisierte, kristallin-verhärtete Erscheinung, die den Übergang von Ornament in eine anthropomorphe Proportion darstellt. Denn sie als Ganzes durchbricht mit entsprechendem Vokabular die verhärtete Spiegelung der zwei Lebenszustände. Nur scheinbar hat die Frau das Übergewicht in diesem Ambiente, weil sie allein und in der, wenn auch vom Mann dominierten Umarmung noch einmal wiedergegeben ist.

Eine männliche Allegorie, wie die des Ritters im Beethovenfries oder gar ein zu überwindender Gigant hätte hier platt oder als aufdringliche Störung gewirkt. Während Ornament und Natur in den Längsseiten eine ästhetische Synthese eingegangen sind, stand an der Schmalseite dem Fenster zur Natur des Gartens eine durchgehende erstarrte Ornamentierung gegenüber. Daß sich in diesem Grenzbereich der Stilisierung das Männliche mehr verbirgt als offenbart, diese Hypothese ist vielleicht durch einen weiteren Blick auf die Porträts dieser Zeit zu "erhärten". Denn das Ornament in seiner Materialität (Wortspiel "Mehr Blech als Bloch", 17) bedrängt als starre Kostbarkeit die Damen, während die Herren der Gesellschaft überhaupt nicht gemalt werden. Die befreite, und das mag hier wohl heißen, von den Fesseln männlicher Gesellschaft befreite Weiblichkeit hat Klimt in den unzähligen ornamentlosen Zeichnungen erotisch-gelöster Akte dargestellt.

Das abstrahierte Feld ist zugleich der kostbar-leuchtende Teil, wie es an der auch architektonisch-gestuft zurückversetzten dunkelsten Stelle einer Apsis prunkt. In seiner strengen Gefaßtheit schließt es die Spiegelsphären des Lebensbaumes zusammen, wie es diese ebenso sprengt, indem es zwischen diese eintritt. Eisler hat 1931 das schön mit der Metapher eines die "ornamentale Ordnung knüpfenden Knotens" erfaßt. (18)

Dem hellen natürlichen Wandel auf der anderen Seite des Raumes steht hier das andere Extrem stilisierter Verhärtung, die uns im reflektierten Licht scheint, und als Epiphanie ewiger Ordnung jenseits oder vor allem Leben gegenüber.

Man mag darüber spekulieren, ob hier über die Polarität Mann-Frau hinaus auch die Konfrontation verschiedener Naturreiche (dem Licht am nächsten der Mensch, am weitesten weg das kristallin-Mineralische, dazwischen Tier-und Pflanzenweit) mitspielt - in jedem Fall ist das Ornamentfeld kein abstrakt-autonomes Experiment, sondern die Schließe eines symbolischen Ornament-Paradieses, ein Grenzfall auch im "Goldenen Stil" Klimts, der sich in seinen letzten Lebensjahren aus dieser kostbaren Verhärtung wieder befreit hat.

Ob es für dieses Programm des Stoclet-Frieses literarische Wurzeln gegeben hat, ist zweifelhaft. Wie bei den Fakultätsbildern schafft sich Klimt immer wieder eigene Zusammenhänge, die wir mehr aus den augenscheinlichen Formen zu erschließen gezwungen sind, als durch Text-Quellen. Auch deswegen ist es notwendig, vom Klischee einer vorweggenommenen Abstraktion wie bei Josef Hoffmann ebenso hier wegzukommen, jedenfalls die Möglichkeit einmal ins Auge zu fassen. Es ist gerade der Zusammenhang mit dem restlichen Fries im Rahmen des Gesamtkunstwerkes, der die Grundlage des stilisierten Mosaiks bildet, und eben dieser Kontext verhindert die autonome Isolierung und damit einen gegenstandslosen Ansatz.

Wien hat im Kampf um die gegenstandslose Kunst keine Rolle gespielt. Vielleicht zeigt aber ein Seitenblick auf die Leistungen in Architektur, Dichtung, Musik, Medizin, Philosophie und anderen Kulturbereichen, daß die in der Kunst beobachteten überschrittenen Grenzen gar nicht an der oberflächlichen Erscheinung der Abstraktion zu messen sind und wir in der Beurteilung dieser einmaligen Wiener kulturhistorischen Situation den Horizont jenseits der formalen Anschauung erweitern müssen, bis wir uns wieder daran erinnern, daß es die erstmalige Distanz zur Vergangenheit war, die das moderne Bewußtsein schuf. Der Hinweis auf Loos, Freud, Schönberg oder Wittgenstein gibt dennoch keine befriedigende Antwort auf die Frage nach den Entscheidungsgründen für die Abstraktion. Ein abschließender vergleichender Blick auf München soll die Betrachtung ergänzen.

Wassily Kandinsky und München
Das ambivalente Verhältnis Kandinskys zu München hat die Ausstellung im Lenbachhaus 1982 aufgezeigt. (19)

In einem oberflächlichen Vergleich München-Wien erscheint München vorbildhaft. Hier fand 1892 die erste Secession statt, gründete Hermann Obrist die "Vereinigten Werkstätten für Kunst und Handwerk", gab es die Zeitschrift Jugend, hier war der Gesamtkunstwerksgedanke ebenso lebendig und gab es im Blauen Reiter eine expressionistische Ablösung des Jugendstils. Schließlich erfahren auch die Abstraktions-Tendenzen eine zunehmende Aufmerksamkeit. "Schon vor 1900 gelangten manche der Münchner Künstler Hermann Obrist, August Endell und Adolf Hölzel - zu dem Schluß, daß die linearen und ornamentalen Elemente des Jugendstils unmimetisch eingesetzt werden könnten, um starke Empfindungen hervorzurufen ... Die Mimese wurde als ein unnötiger Umweg zum unmittelbaren visuellen Ausdruck des Geistes angesehen ..." (20) Endell wörtlich: "Es gibt keinen größeren Irrtum als den Glauben, die sorgfältige Abbildung der Natur sei Kunst." (21)

Im Kabarett Elf Scharfrichter führte Ernst Stern "rhythmisches Zeichnen" vor, indem er mit Kohle auf großen Papierblättern zur jeweiligen Musik entsprechend skizzierte.

Darüber hinaus gab es gegenstandslose Versuche verschiedener Künstler (T. links): kalligraphisch-abstrakte Studien von Adolf Hölzel um 1898 (r.o.), einen Vorhang Bernhard Pankoks mit einem völlig freien Linienornament (l.o.), Hans Schmithals' zwischen 1900 und 1903 entstandene kosmologische Visionen oder Wolfgang von Wersins seriell-dekorative Reduktionen (u.).

Doch so wichtig solche Eindrücke und das Münchner Klima für Kandinskys persönliche Entfaltung und künstlerische Schulung auch waren, bald litt er unter dem Provinzialismus.


Die Erkenntnisse der Münchner Ausstellung lassen sich im Paradoxon zusammenfassen, daß Kandinsky letztlich t r o t z einzelner abstrakter Spielereien und prophetischer Theorien der in München versammelten Jugendstilkünstler zur Abstraktion fand. "Anscheinend führte für ihn kein direkter Weg vom Kunstgewerbe des Münchener Jugendstils mit seinen dekorativen Tendenzen ... zu einer aus allen Zusammenhängen gelösten Malerei ... Nichts fürchtete Kandinsky mehr als den Vorwurf, seine halbabstrakten oder nahezu gegenstandsfreien Kompositionen seien Dekorationsstücke oder ornamentale Gestaltungen ..." (22)

Kandinskys 1925 entstandenes Gelb-Rot-Blau als ein späteres Beispiel ist, überspitzt formuliert, nicht dekorativ, weil es eben nicht völlig gegenstandslos ist, wie es zunächst erscheint. Der hier ornamentlose "Wächter" (Abb. Detail links) erinnert an Klimts anthropomorphe Gestalt.

Das ist nicht die einzige zufällige Parallele - man könnte die von beiden entworfenen Kleider miteinander vergleichen oder Unterschiede und Ähnlichkeiten der Ritter-Vorstellungen.

Bei Klimt bildet das ganze Palais Stoclet den Gesamtkunstwerks-Rahmen, bei Kandinsky das autonome Bild und andere Bilder davor und danach. In Wien fehlte dieses Autonomie-Denken, noch im Zusammenbruch der alten Welt bewahrt sich der Zusammenhang oder die Sehnsucht danach.

Wie die vergleichbaren Münchener Tendenzen verlassen die hier skizzierten Wiener Beispiele nie den dekorativen Rahmen. Über die Gründe ließe sich endlos spekulieren - wahrscheinlich offenbarte sich in ihnen das spezifisch Österreichische an der österreichischen Kunst, ihre Grenzen und ihr Reiz.

A n m e r k u n g e n:

1) Gotthart Wunberg (Hrsg.): Die Wiener Moderne - Literatur, Kunst und Musik zwischen 1890 und 1910, Stuttgart 1981, S.28.
2) Michel Seuphor: Die Entstehung der abstrakten Kunst, o.O., 1960, Abb.1.
3) Alfred Schmeller- Seeschlacht am Canal Grande, Wien-München 1978, 5.44.
4) In Seuphors 'Knaurs Lexikon abstrakter Malerei' (1957) sucht man den Namen Stolba noch vergeblich.
5) Guido Ballo (Hrsg.):, Ausstellungskatalog "Origini dell'astrattismo - verso altri orizzonti del reale (1885-1919)", Mailand 1979/1980, Abb.35,36,37,39.
6) Ballo, a.a.O., Abb.259-261. Dazu Thomas Zaunschirm: Tantra- und moderne Kunst. In: Alte und Moderne Kunst 154/155, S.37-41.
7) Eduard F.Sekler: Josef Hoffmann - Das architektonische Werk, Salzburg-Wien 1982, S.58, vergleicht die 'abstrakte Flächenfüllung' Untersbergers mit Hoffmanns Supraportenreliefs.
8) Dieter Bogner: Die geometrischen Reliefs von Josef Hoffmann. In: Alte und Moderne Kunst 184/185, (1982), S. 24-32.
9) Thomas Zaunschirm: Die 'Klimt-Gruppe'. In: Ausstellungskatalog "Le arti a Vienna dalla Secessione alla caduta dell' Impero Asburgico", Biennale von Venedig 1984, S.1 19-122.
10) Bogner, a.a.O., 5.30.
11) Christian M. Nebehay: Gustav Klimt Dokumentation, Wien 1969, S.382.
12) Otto Breicha (Hrsg.)- Gustav Klimt - Die Goldene Pforte, Bilder und Schriften zu Leben und Werk, Wiederabdruck, Salzburg 1978, S.249.
13) Fritz Novotny und Johannes Dobai: Gustav Klimt, Salzburg 1967, 5.32 f.
14) Sekler, a.a.O., S.94.
15) Daß Klimt zu solchen historisch-kategorialen Polarisierungen fähig war, ist einer Lithographie in VER SACRUM zu entnehmen: "DVO QVVM FACIVNT IDEM NON EST IDEM". Thomas Zaunschirm: Distanz-Dialektik in der modernen Kunst - Bausteine einer Paragone-Philosophie, Wien 1982, 5.17-29.
16) Werner J. Schweiger: Die Wiener Werkstätte, Wien 1982, Abb.S.45 oben.
17) Der Kritiker Eduard Pötzl macht sich mit diesem Wortwitz über das 1907 entstandene Porträt der 'Adele Bloch-Bauer' lustig. Nebehay, a.a.O., S.425.
19) Max Eisler: In: Die Goldene Pforte, a.a.O., S.135.
19) Armin Zweite (Hrsg.): Ausstellungskatalog "Kandinsky und München - Begegnungen und Wandlungen 1896-1914", München 1982.
20) Peter Jelavich: München als Kulturzentrum: Politik und die Künste. In: Ausstellungskatalog "Kandinsky und München", a.a.O., S.24.
21) Zit. nach Ausstellungskatalog "Kandinsky und München", a.a.O., S.32.
22) Armin Zweite. Kandinsky zwischen Moskau und München. In: Ausstellungskatalog "Kandinsky und München", a.a.O., S.11

A b b i l d u n g e n:
1 Leopold Stolba: Studie, 1906, Kupferstichsammlung der Akademie für bildende Künste, Wien.
2 Leopold Stolba: Studie, o.J., Kupferstichsamrnlung der Akademie für bildende Künste, Wien.
3 Leopold Stolba: Studie, o.J., Kupferstichsammlung der Akademie für bildende Künste, Wien.
4 Leopold Stotba. Studie, o.J., Kupferstichsammlung der Akademie für bildende Künste, Wien.
5 Leopold Stolba: Studie, o.J., Kupferstichsammlung der Akademie für bildende Künste, Wien.
6 Leopold Stolba.- Studie, o.J., Kupferstichsammlung der Akademie für bildende Künste, Wien.
7 Leopold Stotba. Tunkpapier, o.J., Privatsammlung.
8 Franz von Zülow: Burg über Häusern, 1909, Schablone, Graphische Sammlung Albertina, Wien (Koreny Kat.259).
9 Franz von Zülow: Kamele, 1914 (Koreny Kat.510).
10 Franz von Zülow: Architektur abstrakt, 1915 (Koreny Kat.543).
11 Franz von Zülow- Kellerzeile, 1914 (Koreny Kat.524).
12 Franz von Zülow. Titelblatt-Raster, 1915 (Koreny-Kat.570).
13 A. Untersberger: Abstrakte Flächenfüllung aus überlappenden Rechtecken, ca.1898.
14 Carl Beitel: Tunkpapierkassette, 1907, Wiener Werkstätte.
15 Adolf Böhm: Landschaft, 1901. Öl/Lw. Historisches Museum der Stadt Wien.
16 Josef Hoffmann: Supraportenrelief, XIV.Secessionsausstellung 1902, rechter Seitensaal.
17 Josef Hoffmann: XIV.Secessionsausstellung 1902. linker Seitensaal.
18 Gustav Klimt: Beethovenfries, Längswände-Schema (nach Vergo).
19 Gustav Klimt: Beethovenfries, Detail: 'Die Leiden der schwachen Menschheit' und der Ritter.
20 Gustav Klimt: Beethovenfries, Detail: 'Diesen Kuß der ganzen Weit'.
21 Gustav Klimt: Stoclet-Fries Werkvorlage: Seite der 'Erwartung.
22 Josef Hoffmann: Palais Stoclet, Brüssel, Speisezimmer mit Klimt-Fries.
23 Gustav Klimt: Stoclet-Fries Werkvorlage: Seite der 'Erfüllung.
24 Gustav Klimt: Stoclet-Fries Werkvorlage: 'Erfüllung.
25 Gustav Klimt: Der Kuß, 1908, Österreichische Galerie, Wien.
26 Gustav Klimt: Stoclet-Fries: 'Abstraktes' Relief.
27 Wassily Kandinsky- Gelb-Rot-Blau, Öl/Lw., 1925, Privatsammlung.
28 Bernhard Pankok: Türvorhang, um 1899.
29 Adolf Hölzel: Schwarze Ornamente, Tusche, vor 1900, Pelikan-Kunstsammlung. Hannover.
30 Wolfgang von Wersin.- Abstrakte Studie. 1903-1904, Aquarell und Lithographie, Stadtmuseum
München.

B. Pankok: Tunkpapier, ca. 1906

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