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Wissenschaftstheorie und Kunstgeschichte
In: Jahrbuch der Universität Salzburg 1977/78/79, S.112-117
I.
Der Objektivismus wissenschaftlicher Betrachtungsweisen gründet
in der Einsicht historischer Wandlung, d. h. der Distanz zwischen forschendem
Subjekt und den Objekten. Daß unser heutiges Weltbild nicht einfach
auf frühere Epochen oder fremde Kulturbereiche projiziert werden
darf, ist eine Binsenweisheit. Daher wird vom Interpreten historischer
Gegebenheiten verlangt, sein eigenes Weltbild zu relativieren, es nicht
normativ, absolut verbindlich anzusehen. Das historische Bewußtsein
hat völlig neue Dimensionen der Weltsicht gebracht. Es wäre
ein verhängnisvoller Rückschritt, auf diesen Gewinn verzichten
zu wollen.
Im Bemühen, sich objektiven Tatbeständen zu widmen, ist der
Blick aber einseitig vom Subjekt der Forschung abgelenkt worden. Selbst
wissenschaftshistorische Rückblicke haben lediglich nach der Art
und Weise, wie man sich jeweils in den Methoden "objektiv"
dem Gegenstand zuwandte, gefragt. Dabei wurde selten der Schluß
gezogen, daß die Entwicklung von Methoden nicht der Entwicklung
des Gegenstandes, der Objektseite, entsprach, sondern eine Wandlung
des Blickpunktes, der Subjektseite, darstellte.
Ist z. B. "Stil" lediglich ein heuristisches Ordnungsmittel
der Kunstgeschichte oder ein a posteriori entdecktes historisches Gesetz?
Daß eine solche Alternative überhaupt aufgestellt werden
kann, setzt zwei Annahrnen voraus.
Erstens den Glauben an den Pluralismus von Methoden, die sich nicht
behindern, sondern gegenseitig ergänzen, mit der Hoffnung, dem
Ziel der völligen Kenntnis der Kunstwerke (oder anderer historischer
Phänomene) in einem steten Fortschritt immer näher zu kommen.
Und dieser Fortschrittsglaube hängt mit dem zweiten Punkt zusammen:
der Annahme einer gleichbleibenden Wirklichkeit, die der Gegenstand
der Forschung sei. Fortschritt kann es nur für den geben, der an
einen gleichbleibenden Gegenstand sich verändernder methodischer
Ansätze glaubt.
Ist der Gegenstand der Stilkritik der gleiche wie jener der Ikonologie?
Eigentlich nicht: Stilmerkmale sind keine Bedeutungen oder Programme.
Aber, und das ist der entscheidende Grundsatz, sind die jeweiligen Ergebnisse
nicht nur Epiphänomene der Gegenstände "an sich",
nämlich "der Kunst", die sich nicht durch Anwendung verschiedener
Methoden ändert?
"Kunst" ist dabei zugleich Projektionsschirm für Methoden,
aber auch verschiedener Epochen. Beide Wandlungsmomente bedürfen
dieser gemeinsamen Basis, damit das Objektivitäts-Postulat aufrecht
erhalten werden kann.
Wenn jedoch diese beiden Faktoren so nicht aufgefaßt werden könnten,
fällt die Möglichkeit, eine statuierte "Objektivität"
beizubehalten. Wenn sich zeigte, daß einerseits "Kunst"
"nicht zu allen Zeiten eine" sei, weil der (heutige) Kunst-Begrff
sich historisch erst sehr spät herausgebildet hat (und sich weiter
entwickelt), andererseits sich verschiedenen Methoden verschiedene Wirklichkeiten
als "Objekte" darbieten, dann gibt es keinen Fortschritt,
sondern nur eine Verlagerung von Interessen. Dies bedeutet nicht weniger
als den Nachweis, daß der mit der Wissenschaft sich als notwendig
und selbstverständlich herausbildende Objektivismus als Erkenntnisbasis
ein utopisches Dogma, ein nützliches Phantom war, ja daß
in Gegenteil "objektive" Wissenschaft als normatives Ziel
selbst subjektivistisch ist.
Übrigens war sich Max Weber (1904) bei der Erarbeitung einer Methodologie
(1) noch klar über die prinzipielle Inadäquatheit, was Objektivität
anlangt. Ordnende Kategorien könnten nicht "vorstellungsmäßige
Abbilder der 'objektiven' Wirklichkeit" sein (1/159) und seien
daher "in einem spezifischen Sinn subjektiv" (1/63).
Die sich nach den wissenschaftlichen Regeln richtenden Forscher haben
diesen erkenntnistheoretischen Ausgangspunkt vergessen. Schließlich
hat Habermas die im Zusammenhang mit dem szientistischen Glauben an
sich selbst entstandene naive Ansicht einer Isomorphie von Aussagen
und Sachverhalten aufgedeckt (2/88 ff.).
II.
Das Fach Kunstgeschichte leidet in dieser Hinsicht unter einem Theoriendefizit,
das letztlich in der Tatsache begründet liegen mag, daß diese
Disziplin vor Jahrzehnten in methodischer Hinsicht führend war.
Die Entwicklung von Grundbegriffen durch A. Riegl, H. Wölfflin,
u. a. in der Stilkritik war lange Zeit vorbildlich für andere historische
Fächer. Eine kritische Besinnung führt heute notwendigerweise
über die Grenzen des Faches hinaus. Diese Tendenz war auch auf
dem letzten, XXIV. Internationalen Kongreß für Kunstgeschichte
(C.I.H.A.) in Bologna (1979) festzustellen (3).
Heute erstarrt der Kunstwissenschaftsbetrieb oft in einer Routine, die
dazu geführt hat, daß wissenschaftliche Aufsätze in
der Regel nur für einen kleinen Kreis von Eingeweihten, fern aller
Relevanz für ein weiteres Publikum geschrieben werden. Ein peinlicher
Widerspruch zum in den letzten Jahren ständig steigenden Bedürfnis
an Kunstbetrachtung, dem vor allem die Museen entsprechen.
Eine methodische Auffrischung durch den Blick auf die Nachbardisziplinen
ist kaum sinnvoll, wo es um grundsätzliche erkenntnistheoretische
Positionen geht.
Die Tatsache, daß die Erkenntnistheorie der letzten Jahre mit
dem Phantom des Objektivismus von den verschiedensten Positionen aus
Schluß gemacht hat, sollte den Kunsthistoriker ermuntern, sich
außerhalb seines Faches Mut für einen neuen Ansatz in diese
Richtung zu holen.
In der neueren Wissenschaftsphilosophie ist die Kunstgeschichte unzureichend
als Mittel der Illustration herangezogen worden. Den Wissenschaftsphilosophen
ging es dabei um Beweise, den ihnen applaudierenden Kunsthistorikem
offenbar darum, daß ihr Fach in seiner traditionellen Methodik
bestätigt und zugleich wissenschaftssoziologisch aufgewertet wurde.
III.
Thomas S. Kuhns These über die Struktur wissenschaftlicher
Revolutionen, die sich durch "Paradigmawechsel" vollziehen,
wendet sich gegen den Begriff der "Entwicklung durch Anhäufung"
(4/16). Darunter versteht er die Ansicht, daß sich die Wissenschaftsgeschichte
als Wachstum vollziehe, also immer mehr Aspekte zu einem bestimmten
Problemkreis oder Forschungsobjekt ansammle. Dagegen spreche, daß
"Beobachtungen und Erfahrung den Bereich der zulässigen und
wissenschaftlichen Überprüfungen drastisch einschränken
(können und müssen), andernfalls gebe es keine Wissenschaft"
(4/18). Diese Einschränkungen sind Vorentscheidungen, so daß
sich letztlich "Wissenschaftliches Faktum und wissenschaftliche
Theorie nicht streng trennen (lassen)" (4/22).
Wenn auch seither sichtbar geworden ist, daß der Begriff "Paradigma"
vieldeutig bleibt, bezeichnet er doch treffend diesen Zusammenhang der
die Fakten mitkonstituierenden, bewußt oder mehr unbewußt
angenommenen Vorentscheidungen.
Die Tätigkeit der "normalen Wissenschaft" bezeichnet
er als das Lösen von Rätseln, die durch die Paradigmata weitgehend
determiniert sind. D. h., es werde nach den bestehenden Regeln und Methoden
im Rahmen einer wissenschaftlichen Gilde gesammelt und in Schubladen
eingeordnet, wobei nach neuen Phänomenen nicht gesucht werde (Kap.
IV). Tauchen neue, unerwartete Phänomene auf, bleiben sie zunächst
unbeachtet. "Am Anfang wird nur das Erwartete und Übliche
wahrgenommen" (4/76). Durch die Unfähigkeit mittels der methodischen
Verfahren auf die sich häufenden Schwierigkeiten zu reagieren,
entsteht Unsicherheit, was die methodologische Diskussion in Gang setze.
Der Paradigmawechsel könne nicht vollzogen werden, indem Theorien
(und methodisch gewonnene Ergebnisse) mit dem Forschungsgegenstand verglichen
w ürden, sondern neues und altes Paradigma würden mit dem
Gegenstand und untereinander verglichen (4/90). Ein Ergebnis könne
am Objekt nicht gemessen werden, weil das Objekt nur mittels Methode
(Theorie, Paradigma) wahrgenommen werde, das Objekt nicht an sich gegeben
sei. "Ein Paradigma ablehnen, ohne gleichzeitig ein anderes an
seine Stelle zu setzen, heißt die Wissenschaft selbst ablehnen"
(4/92). Ohne Paradigmata fehlten Richtlinien, Methoden, Regeln der Forschung,
ohne die wiederum sind die Objekte entzogen. Mit einem Wechsel der Paradigmata
änderten sich die Ansichten der Objekte. Da Objekte immer theorienabhängig
gesehen würden, seien sie als solche nicht wahrnehmbar.
Der positivistische Leitspruch "man muß von den Objekten
(Kunstwerken) ausgehen", ist nicht haltbar und geht an der Praxis
vorbei. Das eigene Interesse ist Ausgangspunkt und dieses ist eingebunden
in das angelernte Wissenschaftsverständnis. Wechselt dieses Wissenschaftsverständnis
durch einen Paradigmawechsel, wechselt auch die Sicht, das Interesse
am Objekt, d. h. "daß bei einem Paradigrnawechsel die Welt
(Kunst) sich ebenfalls verändert" (4/123). "Was ein Mensch
sieht, hängt sowohl von dem ab, worauf er blickt, wie davon, worauf
zu sehen ihn seine visuell-begriffliche Erfahrung gelernt hat."
(4/125)
Wissenschaftler wie "viele Leser werden sicher sagen wollen, daß
sich mit dem Paradigma nur die Interpretation des Wissenschaftlers ändert,
während die Beobachtungen selbst ein für allemal durch die
Natur der Umwelt und des Wahmehrnungssystems fixiert sind" (4/132).
Kuhn präzisiert das: "Wenn auch die Welt mit dem Wechsel eines
Paradigmas nicht wechselt, so arbeitet doch der Wissenschaftler danach
in einer anderen Welt" (4/133). Jedenfalls haben "philosophische
Untersuchungen bisher noch nicht einmal einen Hinweis darauf erbracht,
wie eine Sprache aussehen würde, die dazu in der Lage wäre,
"neutrale und objektive Berichte über das 'Gegebene' hervorzubringen"(4/139).
"D. h. die Behauptung, daß die Welt auch unabhängig
von unseren sprachlichen Unterscheidungen, also 'an sich', durch die
'Wiederkehr des Gleichen' bestimmt sei, läßt sich nicht begründen"
sagt dazu Mittelstraß (5/156). Auch eine hypothetisch angenommene,
sich nicht ändernde Sprache, ergebe kein Bild der "Welt an
sich".
Das grundsätzliche Problem besteht demnach nicht darin, ob es "objektive"
Dinge, Tatsachen gibt, sondern in der Unmöglichleit nach deren
Existenz ohne Bezug auf einen Standort des Betrachters zu fragen. Wenn
die Objekte sich mit den Theorien wandeln, gibt es diese Objekte als
konstante Faktoren "hinter den Theorien" der Wissenschaften
nicht.
Kuhn scheint in der Auseinandersetzung mit seinen Kritikern die wissenschaftssoziologische
und vor allem -historische Dimension in den Vordergrund zu stellen.
Das Subjekt-Objekt-Problem verliert dabei seinen erkenntnistheoretischen
Charakter. Der Herausgeber von Kuhns Studien zur Struktur der Wissenschaftsgeschichte
(6) L. Krüger etwa ist der Ansicht, daß "die gemeinte
Realität als ein und dieselbe überdauere" (6/16f), was
offenbar Kuhn widerspricht, zumindest auf Unbeweisbares reduziert. Denn
entweder ändert sich die Realität (Natur) nicht und die Wissenschaft
kumuliert Wissen davon im Laufe der Forschungsentwicklung (wogegen auch
Krüger spricht), oder sie ändert sich in den Augen der Betrachter.
Sollte sie sich nicht wandeln und die Ansichten darüber wandeln
sich, dann sind die sich wandelnden Ansichten der Welt das Gegebene
und nicht die Welt, von der wir nichts anderes als die Auffassungen
davon haben. Die Aussage einer gleichbleibenden Welt ist inhaltsleer,
solange die Forschung sich wandelt und nicht kumuliert.
Auch wenn sich Kuhn immer mehr auf die historische Dimension der Wissenschaft
zu konzentrieren scheint und "Subjektivität" eher die
Wahl einer neuen Theorie zuungunsten einer alten bestimmt und weniger
einer Abkehr von der Möglichkeit einer Objektivität dem Gegenstand
gegenüber gleichkommt (6/428 f.), bleibt die Grundthese für
ihn gültig: "Was für sie jeweils Tatsachen seien, hänge
zum Teil von der Theorie ab, an die sie glauben ... Alle diese Thesen
sind problematisch und auch umstritten, doch ich halte an ihnen unverändert
fest" (6/442). Auch sein Vorwort schließt (1976) mit der
gleichen These (6/45).
Für die Wissenschaftstheorie scheint dies heute selbstverständlich
zu sein: Die Sache selbst (ist) durchaus abhängig von der Art der
Fragestellung ..." (7/8).
Kuhns These ist für die Kunstgeschichte angewendet worden und hat
zu absurden Konsequenzen geführt. Das hängt mit einer Verwirrung
der Reflexionsebene zusammen.
Seine Aussagen betreffen die historische Relativierung der Wissenschaftsentwicklung;
Wissenschaft nicht als kumulative Erweiterung auf ein teleologisches
Ziel der Wahrheit hin, unter dem Banner des Fortschrittes, sondern als
Abfolge verschieden gerichteter Welterklärungen.
Auf die Kunstwissenschaft umgesetzt, bedeutet das: die Hoffnung auf
den kumulativen Charakter der Interpretationen ist trügerisch.
Der gemeinsame Gegenstand verschiedener Methoden, die "Kunst",
ist jeweils anders gesehen worden, einmal als Stilgesetze, dann als
ikonographische Bezüge, soziologisches Phänomen, etc.
Der Geschichte der Naturwissenschaft bei Kuhn entspricht die Geschichte
des Faches Kunstgeschichte, Gegenstand der Naturwissenschaft ist die
Natur (Welt), Gegenstand des Faches Kunstgeschichte sind Kunstwerke.
Dem Naturwissenschaftler Kuhn bietet sich Natur als Forschungsgegenstand
dar, Kunst scheint für ihn Auseinandersetzung mit der Natur, damit
eine der Wissenschaft analoge Welterklärungs-Disziplin zu sein.
Die Übertragung seiner These auf die Kunstgeschichte wendet sich
dann gegen den kumulativen Charakter etwa der Malerei (4/172). "Wenn
der Begriff des Paradigma für die Kunsthistoriker von Nutzen sein
kann, dann sind Bilder und nicht Stile die Paradigmen" (6/459).
Der Kunsthistoriker ist jedoch kein Künstler! Sein Gegenstand ist
nicht die Wirklichkeit (Natur, Welt), sondern die Geschichte der Kunst.
Wie er diese analysiert, macht ihn zum Mitglied der wissenschaftlichen
Gilde, einzelner Schulen. Während die Stilanalyse den Stil als
Paradigma nimmt, als Vorbild eigener "Rätsellösungen"
(ein Vorgang, der genau der Charakterisierung Kuhns von der "normalen
Wissenschaft", die alles in Schubläden verstaut, entspricht),
nimmt der Strukturanalytiker Einzelanalysen (nicht Werke) als Paradigma.
Kunstwerke sind Gegenstand seiner Forschung und entziehen sich ihm als
objektive Gegebenheiten, in gleicher Weise, wie die Natur dem Naturwissenschaftler.
Diese Abkehr vom objektivistischen Glauben an den kumulativen Charakter
der Kunstgekhichte, scheint zunächst die einzige Möglichkeit
einer Übersetzung der Kuhnschen Thesen für den Kunsthistoriker
zu sein.
IV.
Paul Feyerabend ist die Einsicht zu danken, daß "Philosophen
nur geringes Talent für die wissenschaftliche Forschung (haben).
Es fehlen ihnen nicht nur die Einfälle, es fehlt ihnen auch die
Elastizität . . ., mit vielfachen Möglichkeiten der Interpretation
. . . umgehen zu können" (9/80 f.). Sein Ausflug in die Kunstgeschichte
kommt dem gefährlich nahe.
Wie zahlreiche andere Wissenschaftsforscher fordert er eine Revision
der Wissenschaft, die sich objektivistisch orientiere. Sein erkenntnistheoretischer
Anarchismus trifft sich in vielem mit Kuhn, geht von Whorf aus - jedenfalls
"hat er viel für dessen Auffassung übrig", daß
Sprache nicht einfach Ereignisse beschreibt, sondern gestaltet (8/310).
Die Auffassung, daß es die "Dinge an sich" gebe, hält
er für einen "naiven Realismus", einfach weil "Tatsachen
und Theorien viel enger verknüpft (sind), als es das Autonomieprinzip
wahrhaben will" (8/58). "Wenn man fordert, daß nur Theorien
zugelassen werden sollen, die aus den Tatsachen folgen, dann bleibt
überhaupt keine Theorie" (8/103). Jedenfalls hält er
eine Reform, die die Wissenschaft subjektiver (und anarchistischer)
macht, für dringend nötig (8/244).
Wie Kuhn argumentiert er auf der Basis der Naturwissenschaften und geht
auf Kunst über (8/ Kap.17). "Genauer, ich werde Stile der
Malerei und Graphik untersuchen. Es wird sich herausstellen, daß
es keine "neutralen" Gegenstände gibt, die in jedem Stil
dargestellt werden könnten und mit deren Hilfe man über die
objektive Gültigkeit eines Stils entscheiden könnte"
(8/318) "... man kann erwarten, daß die nach ihr lebenden
Menschen die Welt so sehen, wie wir jetzt ihre Bilder" (8/329).
Feyerabend will anhand einer Geschichte von Darstellungsmöglichkeiten
seine (und Kuhns) These erhärten, daß sich die Wahrnehmung
von Gegenständen wandelt, es somit die Gegenstände
als solche nicht objektiv gebe. Aber wenn sich Feyerabend gegen den
Realismus bei der Wahrnehmung "natürlicher Objekte",
so wird er selbst naiver Realist, indem er an die Bildwerke als
"neutrale", objektive Erkenntnishilfen der ihn interessierenden
Wahmehmungswandlungen glaubt. Genausowenig wie es die Gegenstände
gibt, gibt es die Kunstwerke als solche, unabhängig vom
historischen Standpunkt des Betrachters. Keineswegs sind Bildwerke die
historische Distanz überbrückende Fernrohre in andere Wirklichkeiten
(8/329).
Wie Kuhn setzt er die eigene Forschung mit Kunst auf die selbe Argumentationsebene.
Die wissenschaftliche Erforschung der Welt ist aber nicht mit der künstlerischen
Gestaltung analog zu setzen.
Es mag sein, daß Feyerabend so seine These erhärten kann.
Er verstößt damit jedoch gegen die eigene Position. Die Kunstgeschichtswissenschaft
muß sich, stellt sie sich dem Problem "Objektivismus",
wie gesagt, der Wissenschaft analog setzen. Das Objektivismus-Problem
variiert ja nicht mit der jeweiligen Natur des Gegenstandes, sondern
betrifft Erkenntnis überhaupt. Natur ist genauso Gegenstand der
Forschung wie Kunst im Fach Kunstgeschichte.
Den Kunsthistoriker betrifft nicht das Problem, wie Künstler die
Welt sahen, sondern wie er selbst Werke sieht und sehen kann - es steht
außer Zweifel, daß sich die Sicht von Kunstwerken in den
Interpretationen wandelt.
Niemals könnte ein Wissenschaftler eine fremde Kultur neben seiner
eigenen in sich tragen und sie womöglich miteinander vergleichen
(8/344). Er hat ein aus der Distanz gewonnenes, durch seine eigene Kultur
geprägtes Bild von der fremden Kultur und die eigene vermag er
aus Mangel an Distanz in keiner Weise zu "objektivieren".
Da gibt es keine getrennten Welten, sondern einen Interpretationszusammenhang.
V.
Die Schwierigkeit Kuhns und Feyerabends liegt vielleicht
in der verhängnisvollen Trennung der Wissenschaft in Natur- und
Geistes- (oder Human- oder Historische-) Wissenschaften. Diese Trennung
legt den Schluß nahe, der Unterschied betreffe die Welt natürlicher
Objekte oder Begebenheiten und den menschlichen Bereich der Kultur.
Diese Trennung mag Feyerabend motiviert haben, seine Forderung nach
einer subjektiven Wissenschaft durch auf das menschliche Bewußtsein
verweisende "subjektive" Artefacte zu untermauern. Der Interpretationszusammenhang
ist jedoch in jedem Fall erkenntnistheoretisch zu durchleuchten. Wäre
die Distanz in den Geisteswissenschaften nicht vorhanden, wären
diese überflüssig, da Interpretationen nur in Identifikationen
bestünden.
Eine Voraussetzung für diese Einsicht liegt in der "formalen
Identität zwischen beiden Arten von Wissenschaft", nämlich
der Natur- wie der Geschichtswissenschaften, die Kurt Hübner betont
hat (11/187). Hübner weitet die prinzipielle Kritik am Objektivismus
auf jegilche Wissenschaft aus und erklärt den "stolzen Anspruch",
"in den Wissenschaften so etwas wie eine Methode zu sehen, mit
der die Wirklichkeit selbst, wie sie "an sich" ist, erfaßt
werden kann" als naiv. (11/201) Die Erkenntnis bedeute jedoch nicht
zugleich einen schrankenlosen Relativismus (wie ein Vorwurf der Popperianer
laute), nämlich in der Weise, daß die Wissenschaft "die
Wissenschaft die Wirklichkeit nach Belieben deute" (11/197).
Hübners Kritik der wissenschaftlichen Vernunft (10) läßt
am Ideal des Objektivismus nichts mehr übrig "Es ist ein Irrtum
zu meinen, die Wissenschaft verbessere notwendig im Laufe ihrer Entwicklung
kontinuierlich ihr Wissen über dieselben Gegenstände."
(10/191. Hervorhebung von mir) Daher "gibt es nicht den mindesten
Grund anzunehmen, sie nähere sich im Laufe der eschichte irgendeiner
absoluten, nämlich theoriefreien Wahrheit" (10/192).
Vl.
Der Versuch Kuhns und Feyerabends, ihre Thesen von der naturwissenschaftlich
geprägten Wissenschaftstheorie auf eine historische Disziplin zu
übertragen, mißlingt, weil sie ihren naturwissenschaftlichen
Standpunkt behalten und nicht ihren wissenschaftstheoretischen einnehmen.
Kuhn ist dabei von der historischen Weltsicht, Feyerabend vom in der
Kunst sichtbaren Wandel der Objekte geblendet. Sie geben dem Fach Kunstgeschichte
dabei einen zu großen Vertrauensvorschuß.
Die Kunstgeschichte hat die Wissednschaftstheorie in keiner Weise vorweggenommen.
Ganz im Gegenteil, sie ist nach wie vor weitgehend vom naiv-realistischen
Glauben an die unwandelbare Objektivität der Kunstwerke geprägt
. Nimmt der Kunsthistoriker Kuhn, Feyerabend, Hübner und andere
ernst, dann muß er von dieser Einstllung abrücken und einsehen
lernen, daß die Interpretation der Kunstwerke methoden(=theorien)-abhängig
ist.
Nicht nur muß jede Generation die Geschichte neu deuten, da es
"keine historische Wahrheit wissenschaftlicher Art jenseits, hinter
oder gar ohne Deutungen" gibt (10/358), sondern jeder einzelne
Forscher muß sich selbst bemußt in der Interpretation einbringen.
Er verliert damit zwar die (vermeintliche) Aussicht auf eine endgültige
Interpretation, gewinnt aber eine neue Dimension: die Unerschöpflichkeit
seines Gegenstandes.
Anmerkungen:
1) Weber, Max: Die "Objektivität" sozialwissenschaftlicher
und sozialpolitischer Erkenntnis. 1904. In: Methodologische Schriften,
Frankfurt am Main 1968, S.1-64
2) Habermas, Jürgen: Erkenntnis und Interesse, 1963, Frankfurt
am Main 1973.
3) XXIV. Congresso Internazionale di Storia dell'Arte. Vol. 10: Problèmes
de méthode: les conditions d'existance d'une histoire de l'art,
Mailand 1980.
4) Kuhn, Thomas S.: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. 1962,
2. deutsche Auflage, Frankfurt am Main 1976.
5) Mittelstraß, Jürgen: Die Möglichkeit von Wissenschaft,
Frankfurt am Main 1974.
6) Kuhn, Thomas S.: Die Entstehung des Neuen, Studien zur Struktur der
Wissenschaftsgeschichte, Hrsgb. L. Krüger, Frankfurt am Main 1977.
7) Ströker, Elisabeth: Einführung in die Wissenschaftstheorie,
Darmstadt 1973.
8) Feyerabend, Paul: Wider den Methodenzwang. Skizze einer anarchistischen
Erkenntnistheorie, 1975, Frankfurt am Main 1976.
9) Feyerabend, Paul: Erkenntnis für freie Menschen. Frankfurt am
Main 1979.
10) Hübner, Kurt: Kritik der wissenschaftlichen Vernunft, Freiburg
- München 1978.
11) Hübner, Kurt: Der systematische Zusammenhang von Natur- und
Geisteswissenschaften. In: Tijdschrift voor Filosofie, 40e Jaargang,
Nummer 2, Juni 1978, S.183-201
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