Wissenschaftstheorie und Kunstgeschichte
In: Jahrbuch der Universität Salzburg 1977/78/79, S.112-117


I.

Der Objektivismus wissenschaftlicher Betrachtungsweisen gründet in der Einsicht historischer Wandlung, d. h. der Distanz zwischen forschendem Subjekt und den Objekten. Daß unser heutiges Weltbild nicht einfach auf frühere Epochen oder fremde Kulturbereiche projiziert werden darf, ist eine Binsenweisheit. Daher wird vom Interpreten historischer Gegebenheiten verlangt, sein eigenes Weltbild zu relativieren, es nicht normativ, absolut verbindlich anzusehen. Das historische Bewußtsein hat völlig neue Dimensionen der Weltsicht gebracht. Es wäre ein verhängnisvoller Rückschritt, auf diesen Gewinn verzichten zu wollen.

Im Bemühen, sich objektiven Tatbeständen zu widmen, ist der Blick aber einseitig vom Subjekt der Forschung abgelenkt worden. Selbst wissenschaftshistorische Rückblicke haben lediglich nach der Art und Weise, wie man sich jeweils in den Methoden "objektiv" dem Gegenstand zuwandte, gefragt. Dabei wurde selten der Schluß gezogen, daß die Entwicklung von Methoden nicht der Entwicklung des Gegenstandes, der Objektseite, entsprach, sondern eine Wandlung des Blickpunktes, der Subjektseite, darstellte.

Ist z. B. "Stil" lediglich ein heuristisches Ordnungsmittel der Kunstgeschichte oder ein a posteriori entdecktes historisches Gesetz? Daß eine solche Alternative überhaupt aufgestellt werden kann, setzt zwei Annahrnen voraus.

Erstens den Glauben an den Pluralismus von Methoden, die sich nicht behindern, sondern gegenseitig ergänzen, mit der Hoffnung, dem Ziel der völligen Kenntnis der Kunstwerke (oder anderer historischer Phänomene) in einem steten Fortschritt immer näher zu kommen. Und dieser Fortschrittsglaube hängt mit dem zweiten Punkt zusammen: der Annahme einer gleichbleibenden Wirklichkeit, die der Gegenstand der Forschung sei. Fortschritt kann es nur für den geben, der an einen gleichbleibenden Gegenstand sich verändernder methodischer Ansätze glaubt.

Ist der Gegenstand der Stilkritik der gleiche wie jener der Ikonologie? Eigentlich nicht: Stilmerkmale sind keine Bedeutungen oder Programme. Aber, und das ist der entscheidende Grundsatz, sind die jeweiligen Ergebnisse nicht nur Epiphänomene der Gegenstände "an sich", nämlich "der Kunst", die sich nicht durch Anwendung verschiedener Methoden ändert?

"Kunst" ist dabei zugleich Projektionsschirm für Methoden, aber auch verschiedener Epochen. Beide Wandlungsmomente bedürfen dieser gemeinsamen Basis, damit das Objektivitäts-Postulat aufrecht erhalten werden kann.

Wenn jedoch diese beiden Faktoren so nicht aufgefaßt werden könnten, fällt die Möglichkeit, eine statuierte "Objektivität" beizubehalten. Wenn sich zeigte, daß einerseits "Kunst" "nicht zu allen Zeiten eine" sei, weil der (heutige) Kunst-Begrff sich historisch erst sehr spät herausgebildet hat (und sich weiter entwickelt), andererseits sich verschiedenen Methoden verschiedene Wirklichkeiten als "Objekte" darbieten, dann gibt es keinen Fortschritt, sondern nur eine Verlagerung von Interessen. Dies bedeutet nicht weniger als den Nachweis, daß der mit der Wissenschaft sich als notwendig und selbstverständlich herausbildende Objektivismus als Erkenntnisbasis ein utopisches Dogma, ein nützliches Phantom war, ja daß in Gegenteil "objektive" Wissenschaft als normatives Ziel selbst subjektivistisch ist.

Übrigens war sich Max Weber (1904) bei der Erarbeitung einer Methodologie (1) noch klar über die prinzipielle Inadäquatheit, was Objektivität anlangt. Ordnende Kategorien könnten nicht "vorstellungsmäßige Abbilder der 'objektiven' Wirklichkeit" sein (1/159) und seien daher "in einem spezifischen Sinn subjektiv" (1/63).

Die sich nach den wissenschaftlichen Regeln richtenden Forscher haben diesen erkenntnistheoretischen Ausgangspunkt vergessen. Schließlich hat Habermas die im Zusammenhang mit dem szientistischen Glauben an sich selbst entstandene naive Ansicht einer Isomorphie von Aussagen und Sachverhalten aufgedeckt (2/88 ff.).

II.

Das Fach Kunstgeschichte leidet in dieser Hinsicht unter einem Theoriendefizit, das letztlich in der Tatsache begründet liegen mag, daß diese Disziplin vor Jahrzehnten in methodischer Hinsicht führend war. Die Entwicklung von Grundbegriffen durch A. Riegl, H. Wölfflin, u. a. in der Stilkritik war lange Zeit vorbildlich für andere historische Fächer. Eine kritische Besinnung führt heute notwendigerweise über die Grenzen des Faches hinaus. Diese Tendenz war auch auf dem letzten, XXIV. Internationalen Kongreß für Kunstgeschichte (C.I.H.A.) in Bologna (1979) festzustellen (3).

Heute erstarrt der Kunstwissenschaftsbetrieb oft in einer Routine, die dazu geführt hat, daß wissenschaftliche Aufsätze in der Regel nur für einen kleinen Kreis von Eingeweihten, fern aller Relevanz für ein weiteres Publikum geschrieben werden. Ein peinlicher Widerspruch zum in den letzten Jahren ständig steigenden Bedürfnis an Kunstbetrachtung, dem vor allem die Museen entsprechen.

Eine methodische Auffrischung durch den Blick auf die Nachbardisziplinen ist kaum sinnvoll, wo es um grundsätzliche erkenntnistheoretische Positionen geht.

Die Tatsache, daß die Erkenntnistheorie der letzten Jahre mit dem Phantom des Objektivismus von den verschiedensten Positionen aus Schluß gemacht hat, sollte den Kunsthistoriker ermuntern, sich außerhalb seines Faches Mut für einen neuen Ansatz in diese Richtung zu holen.

In der neueren Wissenschaftsphilosophie ist die Kunstgeschichte unzureichend als Mittel der Illustration herangezogen worden. Den Wissenschaftsphilosophen ging es dabei um Beweise, den ihnen applaudierenden Kunsthistorikem offenbar darum, daß ihr Fach in seiner traditionellen Methodik bestätigt und zugleich wissenschaftssoziologisch aufgewertet wurde.

III.

Thomas S. Kuhns These über die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, die sich durch "Paradigmawechsel" vollziehen, wendet sich gegen den Begriff der "Entwicklung durch Anhäufung" (4/16). Darunter versteht er die Ansicht, daß sich die Wissenschaftsgeschichte als Wachstum vollziehe, also immer mehr Aspekte zu einem bestimmten Problemkreis oder Forschungsobjekt ansammle. Dagegen spreche, daß "Beobachtungen und Erfahrung den Bereich der zulässigen und wissenschaftlichen Überprüfungen drastisch einschränken (können und müssen), andernfalls gebe es keine Wissenschaft" (4/18). Diese Einschränkungen sind Vorentscheidungen, so daß sich letztlich "Wissenschaftliches Faktum und wissenschaftliche Theorie nicht streng trennen (lassen)" (4/22).

Wenn auch seither sichtbar geworden ist, daß der Begriff "Paradigma" vieldeutig bleibt, bezeichnet er doch treffend diesen Zusammenhang der die Fakten mitkonstituierenden, bewußt oder mehr unbewußt angenommenen Vorentscheidungen.

Die Tätigkeit der "normalen Wissenschaft" bezeichnet er als das Lösen von Rätseln, die durch die Paradigmata weitgehend determiniert sind. D. h., es werde nach den bestehenden Regeln und Methoden im Rahmen einer wissenschaftlichen Gilde gesammelt und in Schubladen eingeordnet, wobei nach neuen Phänomenen nicht gesucht werde (Kap. IV). Tauchen neue, unerwartete Phänomene auf, bleiben sie zunächst unbeachtet. "Am Anfang wird nur das Erwartete und Übliche wahrgenommen" (4/76). Durch die Unfähigkeit mittels der methodischen Verfahren auf die sich häufenden Schwierigkeiten zu reagieren, entsteht Unsicherheit, was die methodologische Diskussion in Gang setze.

Der Paradigmawechsel könne nicht vollzogen werden, indem Theorien (und methodisch gewonnene Ergebnisse) mit dem Forschungsgegenstand verglichen w ürden, sondern neues und altes Paradigma würden mit dem Gegenstand und untereinander verglichen (4/90). Ein Ergebnis könne am Objekt nicht gemessen werden, weil das Objekt nur mittels Methode (Theorie, Paradigma) wahrgenommen werde, das Objekt nicht an sich gegeben sei. "Ein Paradigma ablehnen, ohne gleichzeitig ein anderes an seine Stelle zu setzen, heißt die Wissenschaft selbst ablehnen" (4/92). Ohne Paradigmata fehlten Richtlinien, Methoden, Regeln der Forschung, ohne die wiederum sind die Objekte entzogen. Mit einem Wechsel der Paradigmata änderten sich die Ansichten der Objekte. Da Objekte immer theorienabhängig gesehen würden, seien sie als solche nicht wahrnehmbar.

Der positivistische Leitspruch "man muß von den Objekten (Kunstwerken) ausgehen", ist nicht haltbar und geht an der Praxis vorbei. Das eigene Interesse ist Ausgangspunkt und dieses ist eingebunden in das angelernte Wissenschaftsverständnis. Wechselt dieses Wissenschaftsverständnis durch einen Paradigmawechsel, wechselt auch die Sicht, das Interesse am Objekt, d. h. "daß bei einem Paradigrnawechsel die Welt (Kunst) sich ebenfalls verändert" (4/123). "Was ein Mensch sieht, hängt sowohl von dem ab, worauf er blickt, wie davon, worauf zu sehen ihn seine visuell-begriffliche Erfahrung gelernt hat." (4/125)

Wissenschaftler wie "viele Leser werden sicher sagen wollen, daß sich mit dem Paradigma nur die Interpretation des Wissenschaftlers ändert, während die Beobachtungen selbst ein für allemal durch die Natur der Umwelt und des Wahmehrnungssystems fixiert sind" (4/132).

Kuhn präzisiert das: "Wenn auch die Welt mit dem Wechsel eines Paradigmas nicht wechselt, so arbeitet doch der Wissenschaftler danach in einer anderen Welt" (4/133). Jedenfalls haben "philosophische Untersuchungen bisher noch nicht einmal einen Hinweis darauf erbracht, wie eine Sprache aussehen würde, die dazu in der Lage wäre, "neutrale und objektive Berichte über das 'Gegebene' hervorzubringen"(4/139).

"D. h. die Behauptung, daß die Welt auch unabhängig von unseren sprachlichen Unterscheidungen, also 'an sich', durch die 'Wiederkehr des Gleichen' bestimmt sei, läßt sich nicht begründen" sagt dazu Mittelstraß (5/156). Auch eine hypothetisch angenommene, sich nicht ändernde Sprache, ergebe kein Bild der "Welt an sich".

Das grundsätzliche Problem besteht demnach nicht darin, ob es "objektive" Dinge, Tatsachen gibt, sondern in der Unmöglichleit nach deren Existenz ohne Bezug auf einen Standort des Betrachters zu fragen. Wenn die Objekte sich mit den Theorien wandeln, gibt es diese Objekte als konstante Faktoren "hinter den Theorien" der Wissenschaften nicht.

Kuhn scheint in der Auseinandersetzung mit seinen Kritikern die wissenschaftssoziologische und vor allem -historische Dimension in den Vordergrund zu stellen.

Das Subjekt-Objekt-Problem verliert dabei seinen erkenntnistheoretischen Charakter. Der Herausgeber von Kuhns Studien zur Struktur der Wissenschaftsgeschichte (6) L. Krüger etwa ist der Ansicht, daß "die gemeinte Realität als ein und dieselbe überdauere" (6/16f), was offenbar Kuhn widerspricht, zumindest auf Unbeweisbares reduziert. Denn entweder ändert sich die Realität (Natur) nicht und die Wissenschaft kumuliert Wissen davon im Laufe der Forschungsentwicklung (wogegen auch Krüger spricht), oder sie ändert sich in den Augen der Betrachter. Sollte sie sich nicht wandeln und die Ansichten darüber wandeln sich, dann sind die sich wandelnden Ansichten der Welt das Gegebene und nicht die Welt, von der wir nichts anderes als die Auffassungen davon haben. Die Aussage einer gleichbleibenden Welt ist inhaltsleer, solange die Forschung sich wandelt und nicht kumuliert.

Auch wenn sich Kuhn immer mehr auf die historische Dimension der Wissenschaft zu konzentrieren scheint und "Subjektivität" eher die Wahl einer neuen Theorie zuungunsten einer alten bestimmt und weniger einer Abkehr von der Möglichkeit einer Objektivität dem Gegenstand gegenüber gleichkommt (6/428 f.), bleibt die Grundthese für ihn gültig: "Was für sie jeweils Tatsachen seien, hänge zum Teil von der Theorie ab, an die sie glauben ... Alle diese Thesen sind problematisch und auch umstritten, doch ich halte an ihnen unverändert fest" (6/442). Auch sein Vorwort schließt (1976) mit der gleichen These (6/45).

Für die Wissenschaftstheorie scheint dies heute selbstverständlich zu sein: Die Sache selbst (ist) durchaus abhängig von der Art der Fragestellung ..." (7/8).

Kuhns These ist für die Kunstgeschichte angewendet worden und hat zu absurden Konsequenzen geführt. Das hängt mit einer Verwirrung der Reflexionsebene zusammen.

Seine Aussagen betreffen die historische Relativierung der Wissenschaftsentwicklung; Wissenschaft nicht als kumulative Erweiterung auf ein teleologisches Ziel der Wahrheit hin, unter dem Banner des Fortschrittes, sondern als Abfolge verschieden gerichteter Welterklärungen.

Auf die Kunstwissenschaft umgesetzt, bedeutet das: die Hoffnung auf den kumulativen Charakter der Interpretationen ist trügerisch. Der gemeinsame Gegenstand verschiedener Methoden, die "Kunst", ist jeweils anders gesehen worden, einmal als Stilgesetze, dann als ikonographische Bezüge, soziologisches Phänomen, etc.

Der Geschichte der Naturwissenschaft bei Kuhn entspricht die Geschichte des Faches Kunstgeschichte, Gegenstand der Naturwissenschaft ist die Natur (Welt), Gegenstand des Faches Kunstgeschichte sind Kunstwerke.

Dem Naturwissenschaftler Kuhn bietet sich Natur als Forschungsgegenstand dar, Kunst scheint für ihn Auseinandersetzung mit der Natur, damit eine der Wissenschaft analoge Welterklärungs-Disziplin zu sein.

Die Übertragung seiner These auf die Kunstgeschichte wendet sich dann gegen den kumulativen Charakter etwa der Malerei (4/172). "Wenn der Begriff des Paradigma für die Kunsthistoriker von Nutzen sein kann, dann sind Bilder und nicht Stile die Paradigmen" (6/459).

Der Kunsthistoriker ist jedoch kein Künstler! Sein Gegenstand ist nicht die Wirklichkeit (Natur, Welt), sondern die Geschichte der Kunst. Wie er diese analysiert, macht ihn zum Mitglied der wissenschaftlichen Gilde, einzelner Schulen. Während die Stilanalyse den Stil als Paradigma nimmt, als Vorbild eigener "Rätsellösungen" (ein Vorgang, der genau der Charakterisierung Kuhns von der "normalen Wissenschaft", die alles in Schubläden verstaut, entspricht), nimmt der Strukturanalytiker Einzelanalysen (nicht Werke) als Paradigma. Kunstwerke sind Gegenstand seiner Forschung und entziehen sich ihm als objektive Gegebenheiten, in gleicher Weise, wie die Natur dem Naturwissenschaftler.

Diese Abkehr vom objektivistischen Glauben an den kumulativen Charakter der Kunstgekhichte, scheint zunächst die einzige Möglichkeit einer Übersetzung der Kuhnschen Thesen für den Kunsthistoriker zu sein.

IV.

Paul Feyerabend ist die Einsicht zu danken, daß "Philosophen nur geringes Talent für die wissenschaftliche Forschung (haben). Es fehlen ihnen nicht nur die Einfälle, es fehlt ihnen auch die Elastizität . . ., mit vielfachen Möglichkeiten der Interpretation . . . umgehen zu können" (9/80 f.). Sein Ausflug in die Kunstgeschichte kommt dem gefährlich nahe.

Wie zahlreiche andere Wissenschaftsforscher fordert er eine Revision der Wissenschaft, die sich objektivistisch orientiere. Sein erkenntnistheoretischer Anarchismus trifft sich in vielem mit Kuhn, geht von Whorf aus - jedenfalls "hat er viel für dessen Auffassung übrig", daß Sprache nicht einfach Ereignisse beschreibt, sondern gestaltet (8/310). Die Auffassung, daß es die "Dinge an sich" gebe, hält er für einen "naiven Realismus", einfach weil "Tatsachen und Theorien viel enger verknüpft (sind), als es das Autonomieprinzip wahrhaben will" (8/58). "Wenn man fordert, daß nur Theorien zugelassen werden sollen, die aus den Tatsachen folgen, dann bleibt überhaupt keine Theorie" (8/103). Jedenfalls hält er eine Reform, die die Wissenschaft subjektiver (und anarchistischer) macht, für dringend nötig (8/244).

Wie Kuhn argumentiert er auf der Basis der Naturwissenschaften und geht auf Kunst über (8/ Kap.17). "Genauer, ich werde Stile der Malerei und Graphik untersuchen. Es wird sich herausstellen, daß es keine "neutralen" Gegenstände gibt, die in jedem Stil dargestellt werden könnten und mit deren Hilfe man über die objektive Gültigkeit eines Stils entscheiden könnte" (8/318) "... man kann erwarten, daß die nach ihr lebenden Menschen die Welt so sehen, wie wir jetzt ihre Bilder" (8/329).

Feyerabend will anhand einer Geschichte von Darstellungsmöglichkeiten seine (und Kuhns) These erhärten, daß sich die Wahrnehmung von Gegenständen wandelt, es somit die Gegenstände als solche nicht objektiv gebe. Aber wenn sich Feyerabend gegen den Realismus bei der Wahrnehmung "natürlicher Objekte", so wird er selbst naiver Realist, indem er an die Bildwerke als "neutrale", objektive Erkenntnishilfen der ihn interessierenden Wahmehmungswandlungen glaubt. Genausowenig wie es die Gegenstände gibt, gibt es die Kunstwerke als solche, unabhängig vom historischen Standpunkt des Betrachters. Keineswegs sind Bildwerke die historische Distanz überbrückende Fernrohre in andere Wirklichkeiten (8/329).

Wie Kuhn setzt er die eigene Forschung mit Kunst auf die selbe Argumentationsebene. Die wissenschaftliche Erforschung der Welt ist aber nicht mit der künstlerischen Gestaltung analog zu setzen.

Es mag sein, daß Feyerabend so seine These erhärten kann. Er verstößt damit jedoch gegen die eigene Position. Die Kunstgeschichtswissenschaft muß sich, stellt sie sich dem Problem "Objektivismus", wie gesagt, der Wissenschaft analog setzen. Das Objektivismus-Problem variiert ja nicht mit der jeweiligen Natur des Gegenstandes, sondern betrifft Erkenntnis überhaupt. Natur ist genauso Gegenstand der Forschung wie Kunst im Fach Kunstgeschichte.

Den Kunsthistoriker betrifft nicht das Problem, wie Künstler die Welt sahen, sondern wie er selbst Werke sieht und sehen kann - es steht außer Zweifel, daß sich die Sicht von Kunstwerken in den Interpretationen wandelt.

Niemals könnte ein Wissenschaftler eine fremde Kultur neben seiner eigenen in sich tragen und sie womöglich miteinander vergleichen (8/344). Er hat ein aus der Distanz gewonnenes, durch seine eigene Kultur geprägtes Bild von der fremden Kultur und die eigene vermag er aus Mangel an Distanz in keiner Weise zu "objektivieren". Da gibt es keine getrennten Welten, sondern einen Interpretationszusammenhang.

V.

Die Schwierigkeit Kuhns und Feyerabends liegt vielleicht in der verhängnisvollen Trennung der Wissenschaft in Natur- und Geistes- (oder Human- oder Historische-) Wissenschaften. Diese Trennung legt den Schluß nahe, der Unterschied betreffe die Welt natürlicher Objekte oder Begebenheiten und den menschlichen Bereich der Kultur. Diese Trennung mag Feyerabend motiviert haben, seine Forderung nach einer subjektiven Wissenschaft durch auf das menschliche Bewußtsein verweisende "subjektive" Artefacte zu untermauern. Der Interpretationszusammenhang ist jedoch in jedem Fall erkenntnistheoretisch zu durchleuchten. Wäre die Distanz in den Geisteswissenschaften nicht vorhanden, wären diese überflüssig, da Interpretationen nur in Identifikationen bestünden.

Eine Voraussetzung für diese Einsicht liegt in der "formalen Identität zwischen beiden Arten von Wissenschaft", nämlich der Natur- wie der Geschichtswissenschaften, die Kurt Hübner betont hat (11/187). Hübner weitet die prinzipielle Kritik am Objektivismus auf jegilche Wissenschaft aus und erklärt den "stolzen Anspruch", "in den Wissenschaften so etwas wie eine Methode zu sehen, mit der die Wirklichkeit selbst, wie sie "an sich" ist, erfaßt werden kann" als naiv. (11/201) Die Erkenntnis bedeute jedoch nicht zugleich einen schrankenlosen Relativismus (wie ein Vorwurf der Popperianer laute), nämlich in der Weise, daß die Wissenschaft "die Wissenschaft die Wirklichkeit nach Belieben deute" (11/197).

Hübners Kritik der wissenschaftlichen Vernunft (10) läßt am Ideal des Objektivismus nichts mehr übrig "Es ist ein Irrtum zu meinen, die Wissenschaft verbessere notwendig im Laufe ihrer Entwicklung kontinuierlich ihr Wissen über dieselben Gegenstände." (10/191. Hervorhebung von mir) Daher "gibt es nicht den mindesten Grund anzunehmen, sie nähere sich im Laufe der eschichte irgendeiner absoluten, nämlich theoriefreien Wahrheit" (10/192).


Vl.

Der Versuch Kuhns und Feyerabends, ihre Thesen von der naturwissenschaftlich geprägten Wissenschaftstheorie auf eine historische Disziplin zu übertragen, mißlingt, weil sie ihren naturwissenschaftlichen Standpunkt behalten und nicht ihren wissenschaftstheoretischen einnehmen. Kuhn ist dabei von der historischen Weltsicht, Feyerabend vom in der Kunst sichtbaren Wandel der Objekte geblendet. Sie geben dem Fach Kunstgeschichte dabei einen zu großen Vertrauensvorschuß.

Die Kunstgeschichte hat die Wissednschaftstheorie in keiner Weise vorweggenommen. Ganz im Gegenteil, sie ist nach wie vor weitgehend vom naiv-realistischen Glauben an die unwandelbare Objektivität der Kunstwerke geprägt . Nimmt der Kunsthistoriker Kuhn, Feyerabend, Hübner und andere ernst, dann muß er von dieser Einstllung abrücken und einsehen lernen, daß die Interpretation der Kunstwerke methoden(=theorien)-abhängig ist.

Nicht nur muß jede Generation die Geschichte neu deuten, da es "keine historische Wahrheit wissenschaftlicher Art jenseits, hinter oder gar ohne Deutungen" gibt (10/358), sondern jeder einzelne Forscher muß sich selbst bemußt in der Interpretation einbringen. Er verliert damit zwar die (vermeintliche) Aussicht auf eine endgültige Interpretation, gewinnt aber eine neue Dimension: die Unerschöpflichkeit seines Gegenstandes.

Anmerkungen:

1) Weber, Max: Die "Objektivität" sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. 1904. In: Methodologische Schriften, Frankfurt am Main 1968, S.1-64
2) Habermas, Jürgen: Erkenntnis und Interesse, 1963, Frankfurt am Main 1973.
3) XXIV. Congresso Internazionale di Storia dell'Arte. Vol. 10: Problèmes de méthode: les conditions d'existance d'une histoire de l'art, Mailand 1980.
4) Kuhn, Thomas S.: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. 1962, 2. deutsche Auflage, Frankfurt am Main 1976.
5) Mittelstraß, Jürgen: Die Möglichkeit von Wissenschaft, Frankfurt am Main 1974.
6) Kuhn, Thomas S.: Die Entstehung des Neuen, Studien zur Struktur der Wissenschaftsgeschichte, Hrsgb. L. Krüger, Frankfurt am Main 1977.
7) Ströker, Elisabeth: Einführung in die Wissenschaftstheorie, Darmstadt 1973.
8) Feyerabend, Paul: Wider den Methodenzwang. Skizze einer anarchistischen Erkenntnistheorie, 1975, Frankfurt am Main 1976.
9) Feyerabend, Paul: Erkenntnis für freie Menschen. Frankfurt am Main 1979.
10) Hübner, Kurt: Kritik der wissenschaftlichen Vernunft, Freiburg - München 1978.
11) Hübner, Kurt: Der systematische Zusammenhang von Natur- und Geisteswissenschaften. In: Tijdschrift voor Filosofie, 40e Jaargang, Nummer 2, Juni 1978, S.183-201

up