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Eckhard Schneider (Hg.): Anish Kapoor: My Red Homeland.
Mit Texten von:
Yehuda Safran, Thomas Zaunschirm, Eckhard Schneider, Anish Kapoor
Kunsthaus Bregenz. Walther König, Köln 2004, ISBN: 9783883757773

Bücher liefern seltsame Geschichten. 2003 fand im Kunsthaus Bregenz die Ausstellung von Anish Kapoor statt. Für den Katalog My red homeland lieferte ich den folgenden Beitrag. Das Katalogbuch erschien im Frühjahr 2004. Meine Belegexemplare verschenkte ich sofort und verabsäumte, mir weitere Exemplare zu kaufen. Das Buch kostete damals 54.-€. Mittlerweile wird es bei amazon marketplace angeboten, heute (26. Oktober 2008) 2 gebrauchte Exemplare um $764.65, in Frankreich gar "2 neufs et d'occasion disponibles à partir de EUR 2.474,94". Das bedeutet in Zeiten der internationalen Finanzkrise einen irrationalen Preissprung von 4.500%.  Nach eurobuch.com wurde im März d. J. nur ein Exemplar um 1.237,53 €  angeboten.
6. November 2008: Neues Angebot um unglaubliche 3,730.98 $ bei:
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Am 11.11. werden bei amazon angeboten: "1 new from $2,475.00" und "2 used from $764.65".

 

Der Ort des Marsyas
Anish Kapoor und Tizian (2003)

In einer frühen Phase der Entwürfe für die „Skulptur“ in der Tate Modern hat Anish Kapoor an einen wogenden Körper gedacht, der den gewaltigen Raum wie ein gestrandeter Wal durchmisst.(1) Die formale Analogie schien ihm selbst zu trivial, denn irgendwelche illusionistischen Ähnlichkeiten zu assoziieren, entspricht nicht seinen Intentionen. In diesem Stadium der Imagination arbeitete er stets mit einem Modell der Halle, in die er die kurvig-bewegten Körper hineinstellte, deren symmetrisches Äußeres er immer wieder veränderte. Erst als er auf das traditionelle skulpturale Prinzip eines Körpers im Raum verzichtete, indem er das Gebilde zu gewaltigen Schleusen nach den Schmalseiten und nach unten auf die Besucher-Plattform öffnete, verlor sich  die Möglichkeit einer Orientierung zwischen innen und außen. Dem Besucher erschließt sich von keinem Standort mehr die äußere Form  des plastischen Körpers. Man weiß wohl, dass es eine hauchdünne PVC-Folie ist, die an drei ovalen tonnenschweren Stahlringen befestigt ist, aber versteht nicht annähernd das Prinzip, welchen Gesetzen die Gestaltung folgt. Steht man auf der Brücke unter dem hängenden horizontalen Ring in der (nicht genauen, sondern etwas verschobenen) Mitte, blickt man in den Schlund einer riesigen Blüte oder eines Instruments, das nach zwei Seiten posaunt. Auch die eustachische Röhre, die Ohrtrompete hat man damit assoziiert. Dadurch fällt das Entstehen und Wahrnehmen des Klanges in einem optischen Signal zusammen.

Abgesehen von den technischen Daten und konstruktiven Prinzipien dieses gewaltig ausgreifenden, über 150 Meter durchstoßenden Wunderwerks, das alle Dimensionen herkömmlicher Plastiken sprengt, erstaunt noch etwas anderes. Man vermisst das Fleisch, das diese rot-geäderte Haut umschließt und kann nicht nachvollziehen, wieso eine körperlose Hülle ihre Façon beibehält. Die gespannte Haut lebt auch ohne den Inhalt weiter, nur diese Grenze wird erhalten, die sich zwischen innen und außen spannt. Jede Vorstellung darüber, was hier eigentlich außer einer abstrakten Leere umhüllt wird, sprengt den Horizont der überforderten Wahrnehmung. Auch wenn man in diese raumsaugende Leere oder von oben und unten auf die geschmeidig schwingenden Oberflächen blickt, wird der davon „einst“ umschlossene Körper nicht greifbar. Dieser riesige, sich an die West- und Ostwand der einstigen Turbinenhalle festsaugende Hohlkörper funktioniert als eine Allusion auf den verlorenen Gehalt, der die Vergangenheit genauso wie alle anderen davon überwundenen Kunstwerke meinen könnte. Wie eine Aura ist Marsyas als das glänzende Umfeld der Ersatz des Verlorenen – und das ist der längst undarstellbar gewordene Mythos.

Spätestens um 1900 wurden die olympischen Götter als Karikaturen der Lächerlichkeit preisgegeben oder verwandelte sich das mythische Personal zu archetypischen Ausbünden der Psyche, von den Nymphomanen bis zum Oedipus-Komplex. In der Kunst hat der Mythos sowieso längst seine Bedeutung eingebüßt. Nur noch als literarischer Fundus wird er geplündert, ohne jeweils präzise inhaltliche Bezüge. In der Moderne sind die mythischen Gestalten kraftlos zu Metaphern herabgesunken, als fehlte ihnen der Körper. Da erleidet jemand tantalische Qualen, empfindet seine Aufgabe als Sisyphus oder kehrt nach Jahren der Wanderschaft wie Odysseus heim. Wer hätte heute noch Lust, in die Haut eines solchen Geschöpfes abgesunkener Bewußtseinsdimensionen zu schlüpfen? Es wäre ein unkalkulierbares Wagnis, in die Arena der Metamorphosen hinabzusteigen, um sich einsam-hybrid mit diesen versunkenen Gottheiten der fernen Vergangenheit zu messen.

Der Werktitel bezieht sich denn auch nicht auf einen Mythos, sondern nur auf ein Bild des tragischen Helden, der aus Strafe für seinen Wahn, im musikalischen Wettstreit mit dem Gott Apollon konkurrieren zu wollen, von diesem bei lebendigem Leib gehäutet worden ist. Kapoor hat nicht auf die Geschichte der blutrot-gespannten Haut verwiesen, sondern ein bestimmtes Kunstwerk genannt. Dieses Vorbild war Tizians Spätwerk Die Schindung des Marsyas (1576), das während der Präsentation von Kapoors Monster aus dem erzbischöflichen Palais in Kremsier (Mähren) nach London zur großen Tizian-Ausstellung in der National Galerie ausgeliehen wurde. Es hat weder formal noch inhaltlich das Geringste mit seinem Werk zu tun, auch wenn emsige Kunsthistoriker bemüht waren, Parallelen in der Komposition aufzuspüren. Analog ist nur der nach unten ausgerichtete Mittelteil, also die mittlere Ringöffnung über der Brücke in der Tate Modern, und der kopüber hängende Marsyas bei Tizian.

Kapoor greift eine verloren gegangene Tradition wieder auf, die in der Moderne fast verschüttet war. Nur selten hat das Thema die Künstler im letzten Jahrhundert so fasziniert, wie in der frühen Neuzeit, wo es zum beliebten Gegenstand berühmter Maler, von Perugino und Raffael über Giulio Romano bis Guido Reni war. Dass sich ein Mischwesen, wie der Satyr Marsyas, erdreistet, gegen den saitenspielenden Gott der Musen mit einem Blasinstrument in einem Wettstreit anzutreten, hat viele Deutungen vom Herrscherruhm über die Pflichten der Untertanen bis zum Wettstreit der Künste anklingen lassen.(2) Dass sich der greise Tizian selbst als Midas, der wegen seines Votums gegen Apoll und für den Syrinxspieler mit langen Ohren bestraft worden ist, darstellte, ist oft bemerkt worden. Dieser erstaunliche Sachverhalt erlaubt die Vermutung, dass sich der alte venezianische Maler ganz bewusst auf die Seite des falschen Urteils schlägt. In seinem Paragone (Wettstreit) ging es nicht um die Vorzüge der Malerei gegenüber der Musik, sondern um die Verteidigung seines persönlichen, typisch venezianischen Kolorits im Gegensatz zu dem von Giorgio Vasari gepriesenen Disegno der toskanischen Maler. Der vorherrschenden Meinung zufolge überwindet die apollinisch geklärte (akademische) Zeichnung die wilde, mit der Farbe identifizierte Natur. Tizian erlaubte sich eine kaum durchschaubare Revision dieser Auffassung, indem er das scharfe Messer des ans Werk gehenden Apoll zum Pinsel eines bluttriefenden Kolorits, sein präzises Schneiden als Ursprung des von Blutspritzern übersäten Inkarnats verwandelt. Wenn sogar Apoll, so mag sein Argument gelautet haben, durch seine Handlung die Linien verdeckt, wie sollte da die Malerei vom Disegno bestimmt bleiben? Auch Tizian erweckte keineswegs den Mythos durch die erweiterte Handlung zu neuem Leben, sondern nützte die bekannte Geschichte zu einer überraschenden Verteidigung der eigenen Kunsthaltung.

Kapoors Rückgriff auf Tizian evoziert gleicherweise nicht den Mythos, sondern die Veränderung der Wahrnehmung. Tizian setzte seine wilde, damals dionysisch-undiszipliniert wirkende Farbgebung zur Expansion der Malerei ein. Kapoor reflektiert in dieser Erinnerung seine eigene Ästhetik. Ästhesie, wörtlich das Empfindungsvermögen, ist in seinem Gesamtwerk immer neuen schwindelerregenden Metamorphosen unterzogen worden. Wenn es in seinem Œuvre einen Bezug zu seiner indischen Herkunft gibt, dann betrifft dies nicht nur seine frühen von bunten Pigmentfarben bestimmten Skulpturen (um 1980), sondern eine von Maya bestimmte Weltanschauung. Es handelt sich dabei um das Wissen, um den weisen Durchblick, dass die Welt der Phänomene immer einer fundamentalen Täuschung unterliegt. Das Pantheon der indischen Gottheiten, die religiösen Rituale des Hinduismus, bieten in diesem mythischen Irrgarten Orientierungspunkte und weniger nachprüfbare Gewissheiten an. Mehr als jedes im westlichen Sinne verifizierbare Wissen zählt dabei die individuelle Erfahrung. Deren höchstes Ziel ist die formlose Leere, das Nirvikalpa-Samadhi. Ein Erleuchtungserlebnis setzt hier immer eine veränderte Wahrnehmung voraus.

Kapoors eingesetzte künstlerische Mittel bewirken zunächst eine irritierende Verunsicherung, sie stören den perspektivischen Blick sowohl durch glänzend polierte Oberflächen, wie durch schwarze Hohlräume. Vergeblich sucht man etwa sich in derartigen Skulpturen zu spiegeln, bis man der eigenen Gestalt überraschenderweise an einem anderen Teil ansichtig wird. Unbestimmt bleiben die als Leere empfundenen Tiefen der Innenräume, in die der Blick buchstäblich geworfen wird. Der Effekt tritt dabei nur ein, wenn man die ästhetische Schwelle, die Distanz des kritischen Beobachters überwindet und in den Bann der Werke gerät, der nichts anderes als die projizierte Verunsicherung der Wahrnehmung ist. Im Marsyas bündelt Kapoor diese beiden Prinzipien, die Sicht auf eine unüberschaubare Form und den Blick in das verschlingende Innere. Nicht nur der von unten in den Schlund der roten Haut blickende Besucher gerät in den Sog des Marsyas, sondern auch die im rationalen Sinn rahmende Architektur. Sie wird nicht als außen erfahren, sondern durch die saugenden schräg-vertikalen Stahlringe instrumentalisiert. Dieser ortsspezifische Effekt ist so stark, dass Rezipienten verstört darüber spekulierten, ob die Skulptur größer als die sie umschließende Turbinenhalle sei.

 

1) A Conversation. Anish Kapoor with Donna de Salvo.
In: Anish Kapoor – Marsyas. Tate Publishing, London 2002, S.63

2) T. Z.: Marsyas und die Musik der Bilder.
In: T. Z.: Kunstwissenschaft- Eine Art Lehrbuch, Essen 2002, S.183-193

 

 

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