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Die Geburt der Plastik von René Magritte
(In: T.Z.: Distanz-Dialektik in der Modernen Kunst - Bausteine einer
Paragone-Philosophie. Verlag
des Verbandes der wissenschaftlichen Gesellschaften Österreichs,
Wien 1982, III. Kapitel, S.57-77)
(Abbildungen in Arbeit)
.......
Der belgische Surrealist René Magritte (1898-1967) hat eine Totenmaske
Napoleons als Readymade bemalt und es Die Geburt der Plastik
(1932) genannt. Die Trias READYMADE (Maske) - MALEREI (Bemalung) - PLASTIK
(Titel) zeigt Bedingungen auf, unter welchen die Gattungen entstehen.
Magritte
war in erster Linie Maler. Er hat auch bei diesem Werk mit malerischen
Mitteln die Geburt der Plastik hervorzurufen versucht. Er bemalt
die Maske mit einem Wolkenhimmel. Auf vielen seiner Werke sind Wolken
zu sehen. In der Bildsprache werden sie als Element der Ferne, bzw.
der Überwindung der Distanz benützt. Wenn sie in Die schöne
Gefangene vor der Staffelei mit einem Bild einer Gebirgslandschaft
erscheinen, dann werfen sie zwar einen Schatten auf Rahmen und die Zimmerwand
dahinter, aber nicht auf das Bild, dessen Bestandteil sie zugleich sind.
Als ferne Wolken über den Bergen sind sie groß, während
sie nah im Zimmer schwebend als winzig einzuschätzen sind.
Im Fernglas (1963) gibt Magritte ein Fenster wieder, durch das
man einen blauen Himmel mit Wolken sieht. Ein Flügel jedoch ist
geöffnet und dahinter erscheint nicht ein Streifen des hellen "Durchblicks",
sondern dunkle Nacht. Die logische Annahme, der "Tag" sei
auf das Fensterglas gemalt und dieses nicht transparent, wird durch
zwei Beobachtungen widerlegt. Durch den oberen Teil der geöffneten
Fensterhälfte sieht man den Fensterrahmen, d. h. es handelt sich
um durchsichtiges Glas. Außerdem müßte bei einer schrägen
Ansicht der Bemalung eine perspektivische Verkürzung entstehen.
Dies ist jedoch nicht der Fall, der Meereshorizont ist links und rechts
in gleicher Höhe waagrecht zu sehen. Eine Erklärung dafür
gibt es nicht. Der Wolkenhimmel ist nur durch das geschlossene, durchsichtige
Fenster zu sehen; öffnet man es, verschwindet er. Die Transparenz
des Glases ist nur gewährleistet, wenn sie nicht überprüfbar
ist.
Daß das Glas eine Replik der durchscheinenden Wirklichkeit ist,
hat Magritte öfters gezeigt,
indem auf den zerbrochenen Scheiben Teile der jetzt ungehindert sichtbaren
Welt haften geblieben sind: z. B. Der Schlüssel der Felder
(1933), Die Domäne von Arnheim (1949) mit dem Adlergebirge,
Der Abend fällt herein (1964), wo die untergehende Sonne
geteilt auf zwei Glasstücken am Boden liegt.
Auf anderen Bildern sind die Wolken Muster von Tapeten oder Bühnenprospekten
oder Motive von Bildern (also Bilder in Bildern). Mit diesem Kunstgriff
holt Magritte das atmosphärisch Ferne wieder in die malerische
Substanz zurück und weist darauf hin, dies sei alles lediglich
Illusion. Das ironische Moment liegt darin, daß er sich mit malerischen
Mitteln über die Begrenztheit der Malerei Klarheit verschafft.
Daß die Wirklichkeit nicht nur optisch erfaBbar ist, hat Magritte
oft
in optischer Weise vorgeführt. Drei Jahre vor Die Geburt der
Plastik beschäftigt er sich mit dem Auge selbst und bezeichnet
es als Der Falsche Spiegel (1929). Die Geburt der Plastik
wird dadurch vorbereitet, daß die Wolken am Himmel der Iris eingepaßt
sind. Was, wie und wohin wir auch schauen, es blickt uns in den Erscheinungen
an, nichts bleibt vom Blick unberührt. Die Pupille im Zentrum zeigt
nichts, sie ist leer, verweist nicht hinter die Wolkendecke oder den
Himmel , sondern zurück auf den Betrachter. Ein echter Spiegel,
der nur das wiedergibt, was außen ist, existiert nicht. Magritte
malt kein Auge, sondern das Auge als Funktion, das Äugen. Anstelle
des bewölkten Himmels könnte theoretisch auch anderes in dieser
Iris erscheinen, aber das Motiv eignet sich vielleicht am besten für
die Darstellung der Lücke, jenes über uns und den Dingen der
Landschaft Liegende, das in seiner freiräumlichen Distanz nicht
an einem bestimmten Ort beginnt und endet, mehr verbindet als trennt.
Der bewölkte Himmel ist Mittel, um Subjekt und Objekt im Wahrnehmungsprozeß
zu einen. Der bewölkte Himmel auf der Totenmaske Napoleons zeigt
aus dieser ersten Ansicht, daß diese Maske auch den Betrachter
oder des Betrachters Schau reflektiert, d. h. daß jeden der Tod
und in weiterem Sinn die Geschichte etwas angeht.
Der
Wolkenhimmel erscheint ausnahmsweise nicht auf dem Bild, sondern auf
der Maske. Die Maske spielt in Magrittes Werk sonst keine Rolle, aber
es gibt fiir diese Wahl in den Jahren davor ein künstlerisches
Klima. R. Langers erstes Sammelwerk über Totenmasken erscheint
1927 in zweiter Auflage. In der Literatur gibt es eine angeregte Diskussion
über die Unbekannte aus der Seine, deren Maske man in ungezahlten
Wohnungen als plastischen Schmuck findet. Ödön von Horvath
ist der bekannteste Autor, der sich dieses Themas annimmt. Er erklärt
einmal in einem Brief, was ihn daran faszinierte: "Erlauben Sie,
daß ich in knappen Worten den Fall skizziere: vor einigen Jahrzehnten
zog man eine Mädchenleiche aus der Seine, irgendeine junge Selbstmörderin,
also eine ganz alltägliche Begebenheit. Man wußte nichts
von ihr, nicht wie sie lebte, wie sie starb, wer sie war, wie sie hieß
und warum sie ins Wasser ging - man hat es auch nie erfahren, und das
junge Geschöpf wäre verscharrt worden, sang- und klanglos,
hatte sie nicht zufällig ein junger Bildhauer erblickt, den das
unbeschreiblich rätselhafte Lächeln, das das Antlitz der Leiche
überirdisch verklärte, derart anzog, daß er ihr die
Totenmaske abnahm. So blieb uns dies ewige Antlitz mit seinem zarten,
göttlich-traurigen Lächeln - und dies Lächeln eroberte
die Welt. Viele Dichter hat die Unbekannte angeregt, aber alle tappen
im Dunkeln-" (1935) Das metaphorische im-Dunkeln-Tappen bestimmt
bei Horvath nicht nur das Inhaltliche, sondern auch die szenischen Angaben.
In dieser von Sachlichkeit geprägten Wirklichkeit klammern sich
verunsicherte Gestalten an sprachliche Versatzstücke, woraus sich
eine eigentlich von den Figuren selbst nicht tragisch empfundene Handlung
entwickelt. In dieser Entfremdung ist alles von gleicher Wichtigkeit:
"Rosen bringen Glück", "Kinder bringen Glück",
"Tote bringen Glück", heißt es in Horvaths Die
Unbekannte aus der Seine. Die Maske wird in Horvaths Stück
in Zeitungspapier eingewickelt und für das Heim als Schmuck zwischen
den Büchern oder dergleichen bestimmt. Mit ihr hält der "Held"
eine Zwiesprache, er fragt wörtlich: "Bist Du es?.. Hm, ich
weiß nicht". Die Beziehungslosigkeit zwischen den Menschen
wird in der Koppelung mit der Dingwelt zum Anstoß, Assoziationen
herzustellen. Diese Intensitätsangleichung zwischen Menschen und
Dingen mag ein Grund für das allgemeine Interesse an Masken gewesen
sein, die zu phantasiegeladenen Mittlern wurden.
In der Totenmaske eignet sich der Bildungsbürger das Unbekannte
wie das Bekannte (aus Dichtung und Musik) an, um es mit den eigenen
Vorstellungen zu erfüllen. Man könnte fast meinen, die Masken
sind Ersatz für das Leben. Oft wird von den Künstlern der
Zeit das Leben maskenhaft erfahren.
Man Ray (1890-1976)
hat 1932, gleichzeitig mit Magrittes Die Geburt der Plastik sein
Selbstportrait mit Hilfe einer Maske geschaffen. "Es sollte als
Deckel für Man Rays Fotoalbum aus dem Jahr 1934 dienen. Ein deutscher
Bildhauer, der in Paris lebte,
machte von Man Rays Gesicht einen Gipsabdruck; der Bronzeabguß
davon wurde dann in eine Holzkiste eingepaßt. Eine Brille auf
der Nase und ein paar zerknüllte Zeitungen zwischen der Bronze
und den Kistenwänden vervollständigte das Portrait".
(Arturo Schwarz, 1977) Die Sonnenbrille verleiht dem aus der Kiste herausblickenden
Kopf mit den rahmenden Zeitungen eine überraschende Lebendigkeit.
Die vermutlich dahinter geschlossenen Augen könnten sich jederzeit
öffnen. Man Ray malte seiner Freundin Augen auf die geschlossenen
Augen, sodaß durch das Schließen der Augen neue Augen sich
öffneten". In der Maskierten Maske (1953) verdeckt
eine Augenmaske die als solche eindeutig erkennbare Maske, als ob dieses
Verbergen der sowieso nichts verbergenden Maske einen unbekannten Ausblick
eröffnen konnte.
Wenn das frühe Selbstportrait durch die Verlebendigung der
Maske zugleich die maskenhafte Erstarrung des Lebendigen decouvriert,
so sind die später entstandenen Masken Rays anders motiviert. Sie
geben sich in Wortspielen zu erkennen, demonstrieren das Verbergen oder
sind von einer Enthemmunsfunktion getragen, vielleicht die wichtigste
Rolle spielt der Wunsch nach Verwandlung. "In der esoterischen
Überlieferung wurde angenommen, die Masken verfügten über
die Macht, dem, der sie trüge, die Eigenschaften der dargestellten
Person zu verleihen. Sie offenbaren somit die unbewußte Sehnsucht
dessen, der sie herstellt oder trägt, sie sind eine Versinnlichung
seines Wunsches, das wahre Wesen seines Ichs nicht nur in den Augen
der anderen, sondern auch in seinen Augen zu verwandeln." (Arturo
Schwarz, 1977) Durch das Bemalen der Masken mit vegetabilen, zoomorphen
oder ornamentalen Zeichen findet eine künstlerische Identifikation
mit dem nicht-menschlichen Bereich statt, um an anderen Bewußtseinsdimensionen
teilzuhaben.
Doch bei Magrittes Werk dürfen wir nicht von einer Maske in diesem
Sinn sprechen. Die Herstellung einer Totenmaske ist von der unbewußten
Überzeugung getragen, damit etwas Wichtiges von dieser Person über
den Tod hinaus festhalten zu können. Diese Idee ist nur solange
sinnvoll, als man dem lebenden Menschen starre Züge, die es zu
fixieren gilt, zuspricht. Es handelt sich um plastische Qualitäten,
die hier zum Tragen kommen, was sich darin ausdrückt, daß
die Atmosphäre, die Umgebung eines Kopfes in unserem Fall, nicht
für wichtig erachtet wird.
Die Geburt der Plastik ist davon insofern betroffen, als Magritte
eine Totenmaske benützt. Denn die Umarbeitung steht den eben genannten
Eigenschaften von Masken konträr gegenüber. Magritte legt
Wert auf Atmosphäre, aber diese lagert sich auf das Antlitz und
bezeichnet nicht die Umgebung. Das Erstaunliche daran ist, daß
er als Maler durchaus den Dingen ihren Ort beläßt wie in
der "Neuen Sachlichkeit", wenn auch manchmal gerade durch
das Paradoxon, daß er die optische Erscheinung anzweifelt.
Wenn man von "plastischen Qualitäten" der Malerei spricht
- wir werden einige Beispiele anschließend nennen -, dann ist
es naheliegend, danach zu fragen, ob sich die Plastik der Zeit auch
besonders "geschlossen" zeigt. Es ist gar nicht notwendig,
in die späten 30er Jahre auszuweichen und die ungewollt visionären
Portrait-Büsten der Staats-Kunst des Nationalsozialismus anzuschauen.
Diese sind "entzeitlicht", nicht in der intendierten Weise,
sie für 1000 Jahre gültig zu schaffen, sondern durch die Angleichung
an Totenmasken, deren blinde Augen die Wirklichkeit nicht zu schauen
imstande sind.
Wiederum
1932 hat Georg Kolbe ( 1877-1947) eine 30 cm hohe Bronze mit dem Titel
Das innere Gesicht geschaffen. Die Augen sind nicht als glatte,
herausragende Halbkugeln gebildet, sondern ohne Zwang geschlossen, die
Ohren fehlen, sodaß eine bestechende Ähnlichkeit mit Magrittes
Werk entsteht. Dieser äußerlich an eine Totenmaske erinnernde
Kopf wirkt wie durchpulst von visionärem Leben, wozu die malerisch
aufgefaßte Oberfläche beiträgt. Doch ist dieses stille
Meisterstück wie Magrittes Maske eine Ausnahmeerscheinung.
Sonst ist die Plastik wie die Malerei dieser Zeit von einer "nichtmalerischen",
zeichnerischen Gegenstandstreue gekennzeichnet, was in der Kunst der
Neuen Sachlichkeit der 20er Jahre beginnt. Das Abgehen von einer "malerischen
Malerei" bedeutet zugleich eine Hinwendung zur Oberfläche
und ein weitgehendes Desinteresse an Innerlichkeit, bzw. expressiver
Emotionalität. Die dargestellten Objekte erfahren dadurch im Bildraum
eine zunehmende Isolierung, d. h. ihre Plastizität, ihre Körperhaftigkeit
wird ein formaler Wert. Die Portraits werden glatt und wirken gedrechselt.
Vom Bildaufbau sagt Wieland Schmied: er "ist statisch und festgefügt,
der Raum wirkt oft luftleer, gläsern, die isolierten Dinge starr
und steif, wie herauspräpariert, in einer Sphäre des Schweigens.
Alles "Atmosphärische" ist ausgeschlossen, die Luft oft
wie 'abgepumpt''' (Wieland Schmied, 1969)
Am deutlichsten wird dies am Interesse der Maler an plastischen Werten
und im Grenzfall eben an Plastiken. Die Objektivierung dieser Malerei
wird so stark empfunden, daß der Betrachter dazu tendiert, die
Wirklichkeit des Bildes in fotografischer Weise als Fortsetzung einer
vor dem Bild bestehenden Welt anzunehmen. So wird das 1928 entstandene
Bild Julius Bissiers Bildhauer mit Selbstbildnis zunächst
als Selbstbildnis aufgefaßt. Das Mißverständnis
entsteht dadurch, daß der Kopf des gemalten Bildhauers formal
mit dem skulptierten Kopf auf dem Tisch davor, an welchem er arbeitet,
identisch ist. Die Verdoppelung erweckt den Eindruck eines Selbstbildnisses,
wobei man übersieht, daß es nicht des Malers Selbstbildnis
ist, sondern das Gemälde eines Selbstbildnisses eines Bildhauers.
Verständlich ist dieser Irrtum außerdem deswegen, weil es
wahrscheinlich keine derartigen plastischen Selbstportraits gibt. Bissier
zeigt, daß im Vergleich von Malerei und Plastik die Wirklichkeitsgrade
nur Schein sind. Das Verhältnis von Plastik und Malerei ist das
Thema des Bildes. Weil dieses Thema aber ausschließlich von der
Malerei gewählt und durchgeführt werden kann, bleibt die Malerei
trotz ihres Interesses für plastische Eigenschaften, die sie übernimmt,
siegreich.
Rudolf Wacker
wird in seinem Stilleben Zwei Köpfe (1932) einen Schritt
weitergehen. Darin erscheinen auf der grauen Wand und der braunen Fläche
darunter neben einem hängenden gelben Vogel und einer weinroten
Vase mit oranger Blüte eine beschädigte Portraitplastik und
eine mit Nadel aufgespießte Kinderzeichnung. Wiewohl die braune
Fläche durch die Schräge links als Tisch angedeutet ist, sind
die Grundfolien flach und nur durch den Schatten der beiden Objekte
unten, die fehlenden Schatten oben, räumlich verständlich.
Gemalt wird ein Paradoxon: das Bild im Bild hat, obwohl als Kopf eindeutig
erkennbar, den im naturalistischen Sinn der Wirklichkeit entferntesten
Charakter, aber ist als Zeichnung illusionistisch eindeutig getroffen
(man erinnert sich unwillkürlich an das Vorbild des Venezianers
Caroto, der in einem Bild ein Kind mit einer Kinderzeichnung darstellt).
Ebenso klar ist die beschädigte, kolorierte Holzplastik einer Frau
erkennbar.
Doch kommt dieser trotz abgebrochener Nase, Sprüngen im Holz und
abgeblätterter Farbe nicht nur als Plastik, sondern als Darstellung
des Menschen der großte Realitätsgrad zu. Die Darstellungen
einer Vogelplastik mit echten Vogelfedern, eines geschaffenen Objekts,
das mit dem Hilfsmittel natürlicher Federn ein Lebewesen meint
und einer Vase, die als Objekt nur die eigene Funktion eines Behälters
für die echte Blume und keine mimetische Anlehnung bedeutet, verwirren
zusätzlich die Wirklichkeitsstufen im Bild. Natur kommt hier nur
als Material menschlicher Gestaltung vor: eine Blume in einer Vase ist
dabei selbstverständlicher als Federn, die Flügel darzustellen
haben, aber begrenzter in ihrer Möglichkeit, auf anderes, über
sie selbst Hinausgehendes zu verweisen (eine Blume bleibt Blume, eine
Feder wird zum Flügel). Das Paradoxe, worauf es hier ankommt, ist
aber, daß das Zeichenhafte und die Plastik gleichermaßen
den Begriff "Frau" zeigen, aber nicht der gemalten Zeichnung
im Bild, sondern der Plastik die größte illusionistische
Fülle zukommt. Nur, dieser Parapone - genauso wie beim vorigen
Beispiel -, bei dem im Bild die Skulptur, noch dazu als beschädigte,
den Sieg davon-trägt, ist nur zu malen, wäre aber nicht vom
Bildhauer zu zeigen.
Was das zweite Moment, das Beschädigte als Darstellungwert im Plastischen
anlangt, so ist vielleicht in diesen, Fall eine Vorliebe für das
Unvollkommene festzustellen. Die Kinderzeichnung als eine Metapher für
das noch-nicht-künstlerisch-Gelungene, die Plastik als das nicht-mehr-Vollendete
durch den Prozeß des Alterns. Ähnlich stehen sich die Zeichen
für Tier und Pflanze gegenüber. Im übertragenen Sinn
spielt hier das Bewußtsein eine Rolle, daß das Künstlerische
schon vergangnen sei - Ausdruck einer Hoffnungslosigkeit und Gegenwartsferne.
Voraussetzung für dieses Motiv ist die Wahrnehmung ästhetischen
Reizes des Unvollkommenen, Teilhaften, Beschädigten und im Grenzfall
des Toten. Die Faszination der Zeit für die Totenmaske findet eine
Analogie im Maskenhaften der Portraits der Neuen Sachlichkeit und dem
symptomatischen Auftauchen von Paragone-Elementen.
Die Tendenz in der Malerei, auf die Wirklichkeitsdichte der Plastik
hinzuweisen, führt natürlich nicht zur Emanzipation der Plastik,
sondern ist ein Stilmerkmal der Neuen Sachlichkeit und zeigt die Unsicherheit
eines schwankenden Realitätsverständnisses auf, die sie mit
dem Surreallismus verbindet. Um die Verbindung zu Magritte wiederherzustellen,
ist es notwendig, zu sehen, daß Magrittes Interesse am Plastischen
zwar durch die Wahl der Totenmaske gegeben scheint, aber dies nicht
Thema eines Gemäldes wird, sondern Gegenstand eines Bildes, also
Bildträger. Seine Zerstörung der Plastik durch die Malerei
ist radikaler als die Demonstration einer Überlegenheit der Malerei,
indem man Plastiken darstellt.
Näher
kommt dem die Darstellung von Masken in Bildern, die als Symbol für
die Imitatio durch Jahrhunderte zum festen Bestandteil von Malerateliers
gehörten. Die ehedem als Requisiten abgelegten, auch an den Wänden
hängenden Masken (vgl. Menzels Atelierwand, Kap. I) , verlebendigen
sich plötzlich. In Italien geht diese Tradition auf Giorgio de
Chirico zurück, dessen Statuen zwar nicht im Kolorit aber in ihrer
Erscheinungsweise, meist schlafend, dem gewohnten Bild von Masken und
Plastiken widersprechen. Sein weniger bekannter Bruder Alberto Savinio
verdeutlicht diesen Aspekt, wenn der Dichter mit einem antikischen Kopf
fast leblos einem großen Statuenkopf gegenübersitzt (Der
Traum des Dichters,1927) oder zwei männliche Statuen sich anblicken
und umarmen (Gespräch, 1928).
In einem Stilleben (1918) von Gino Severini öffnet die Steinmaske
die Augen und den Mund zu einem Schrei. Felice Casorati stellt zwei
Köpfe (Stilleben mit Puppenköpfen, 1923/24)
vor einen Spiegel. Die vier, der vordere mit geöffneten Augen,
der nächste mit gesenktem Kopf, dieser im Spiegel abgewendet und
schließlich der erste dahinter nur noch an einem Detail sichtbare
bilden einen Bewegungsablauf. Der im Hintergrund kaum sichtbare Mann
verschwindet fast als Beiwerk oder als Bild im Bild. So lebensvoll erscheint
eine gelbe Buddhamaske in dem Portrait Albert Birkles hinter dem Maler
Schäfer-Ast (1931), als ob er dieser ausgeliefert sei.
Wir wollen es bei diesen wenigen Beispielen belassen. Die Maske hat
sich als Attribut des Malers in der Kunst des 20. Jahrhunderts derart
weiterentwickelt, daß ihr selbst die Rolle einer lebendigen "Imitatio"
zukommt und der Maler aus dem Bild meist verschwunden ist. Gerade diese
Tradition wird von Magritte ad absurdum geführt, da er das Symbol
der Malerei mit einem "malerischen" Motiv bemalt und es dadurch
zur Geburt der Plastik werden soll. Je genauer wir uns mit den
direkten oder indirekten Vorbildern und Voraussetzungen dieses Werkes
beschäftigen, umso mehr entzieht es sich einer ikonographischen
Betrachtung. Wenn man von den Bemalungen der Masken bei Man Ray absieht,
die erst in den 50er Jahren stattfinden, dann ist die Bemalung einer
Totenmaske eine einmalige künstlerische Handlung. Dies wird durch
alle Hinweise auf die Neue Sachlichkeit und die Vorliebe für das
Motiv der Bildhauerei in den Gemälden nicht verständlicher.
Die Schwierigkeit liegt nicht nur in der Wahl dieses Readymades, sondern
auch in der Tatsache, daß ein Maler für ein "Bild"
einen derartigen Ausschnitt annimmt.
In einer Parallele hat Salvador Dali ein Paar, die Köpfe voller
Wolken gemalt, allerdings erst 1936. Es handelt sich: dabei um zwei
Tafeln mit den Konturen eines Mannes und einer Frau, auf welche Landschaften
gemalt sind. Wie der Titel deutlich macht, sind die Köpfe voller
Wolken. Das Entscheidende dieses Werkes liegt in dem gegenständlichen
Bildausschnitt (in Form eines Kopfes und Oberkörpers), der als
Motiv der Nähe von Darstellungen landschaftlicher Ferne erfüllt
ist. Diese Koppelungsmöglichkeit einer Ausgrenzung des Bildrandes
als menschlicher Silhouette mit dem weiten Raum, ist kaum von Magritte
angeregt worden, jedenfalls finden wir die Voraussetzungen dafür
in den Jahren davor bei Dali selbst.
Um 1931 beginnen Wolkenformationen seine Bilder zu erfüllen: Vegetabile
Metamorphose (1931), Das Gespenst und das Phantom (1931).
Gleichzeitig arbeitet er an Der Unsichtbare Mann (1929-1933),
dem ersten wichtigen Vexierbild, das eine doppelte Vorstellung erfordert.
Im Gegensatz zu den Vorbildern des 16. und 17. Jahrhunderts und der
Romantik erklärt er das zweite, verborgene, halluzinatorische Bild
als das wirkliche. Formal entstehen die doppelten Bilder durch eine
Ambivalenz der Konturen als Außen- und Innen-Grenzen, die in den
optischen Bildraum flächenhaft einschneiden. Indem sich das Disparate
zu einer Gestalt fügt, wird eine alternierende Nah- und Fernsicht
gefordert. Beides zugleich ist nicht möglich. Genau diese zweifache
Möglichkeit, ein Bild anzusehen, ist bei Die Geburt der Plastik
gegeben. Die Maske wird nur aus der Nähe erlebbar, ertastbar, während
die Wolken als Ausblick in den fernen Himmel aufzufassen sind.
Vorstufen dazu hat Magritte vor 1932 erarbeitet. Im Unterschied zu Dali
überblendet erTeile einer Form durch eine andere, wobei der Umriß,
ja die plastische Erscheinung gewahrt bleibt: In Die gigantischen
Tage (1928) sind die Konturen einer nackten, sich gegen einen Mann
wehrenden Frau wiedergegeben, wobei der von hinten sichtbare Mann sich
diesem Umriß "fügen" muß, also größtenteils
ausgespart bleibt und nur an den Stellen erkennbar ist, wo er den Akt
perspektivisch überdeckt.
Die perspektivische Überlagerung hat Magritte immer wieder variiert,
am deutlichsten in seinn Staffeleibildern, wie Die schöne
Gefangene
(1931), Die Beschaffenheit des Menschen (in mehreren Variationen).
In den Staffeleibildern geht es immer um dasselbe Prinzip. Eine vor
einem Fenster oder im Freien aufgestellte Staffelei verdeckt die dahinterliegende
Landschaft, die zugleich auf dern Bild zu sehen ist. Dazu hat Magritte
folgendes festgestellt: "Der im Gemälde dargestellte Baum
verbirgt den Baum, der sich außerhalb des Baumes dahinter befindet.
Er existiert im Geist des Betrachters tatsächlich nun gleichzeitig,
sowohl innerhalb des Raumes im Gemälde und außerhalb in der
wirklichen Landschaft." Magritte legt es dem Betrachter nahe, daß
sich hinter dem auf dem Bild dargestellten Staffeleibild die dieser
Darstellung entsprechend gleichende Wirklichkeit verbirgt, weil sie
perspektivisch nahtlos ineinander übergehen. Aber eigentlich kann
der Betrachter darüber nur spekulieren, denn diese vermeintliche
Verdoppelung des Baumes in der Landschaft ist für ihn nicht gegeben.
Sie wird vorgetäuscht; die Gefahr dabei liegt darin, mehr wahrzunehmen
als wiedergegeben ist, indem man die Wirklichkeit des Bildes wörtlich
nimmt. Jedenfalls verbirgt der Baum im Bild keinen dahinter "außerhalb
des Raumes", eines Raumes, den es nicht auf der Bildfläche
gibt. Im Unterschied zum "Raum des gemalten Bildes" gibt es
keinen Raum "außerhalb in der wirklichen Landschaft".
Es liegt am Betrachter, was er in das Bild hineinzusehen und -zulegen
vermag, bzw. wieweit er sich der Täuschung zu entziehen trachtet.
Das Verwirrspiel dieser Menschlichen Beschaffenheit entsteht
durch die spezifische Objektivitätstreue Magrittes, in der Bild
und Abbild einander zu gleichen vorgehen.
Magritte selbst hat strikt gegen jeglichen Ikonologismus gemalt und
schreibt: "Die Bilder müssen so gesehen werden, wie sie sind.
Auch gibt es in meiner Malerei keinen Vorrang des Unsichtbaren vor dem
Sichtbaren." In allen Verwirrspielen der verschiedenen Realitätsebenen
bleibt das Sichtbare seiner Malerei siegreich: ob er, wie bei den genannten
Beispielen Nähe gegen Ferne, Kunst gegen Wirklichkeit ausspielt,
oder die Sonne vor den Bäumen untergeht (Das Festessen,
1956), das Ganze die Form eines Teiles
annimmt, wie die Bäume in Form eines Blattes (z. B. Die Perspektiven
der Liebe,1935) Schuhe oder Hemden die Gestalt des von ihnen Verborgenen
annehmen (Die Philosophie im Boudoir, 1948), er den Geruch
einer Rose malt (Der Schamsinn, 1952), der abgesägte Baumstamm
die ihn bedrohende Axt mit einer Wurzel festhält (Die Arbeiten
des Alexander, 1950), der Schatten eines Aktes sich als monochrome
Wiederholung auf einem Vorhang zeigt (Der Magnet, 1941), Skulpturen
bluten (Die Erinnerung, 1948), der Hut mit einer Aufschrift "Usage
Extern" (1966) versehen wird (er wird "innen" benützt,
indem man ihn "außen" auf den Konf setzt), man in Fenster
hinein ins Freie blickt (Lob der Dialektik, 1937), u.v.a. Einem
Künstler, der die Realitätsebenen derart systematisch mischt,
ist grundsätzlich auch bei seheinbaren Eindeutigkeiten zu mißtrauen.
Dazu muß Magrittes Auffassung der Skulptur in zwei Bildern veranschaulicht
werden.
In der Ewigkeit
(1935) sind hinter einer Respekt gebührenden Kordel drei nummerierte
Sockel zu sehen. Zwischen einem Heiligen oder Christuskopf und einem
Dantekopf steht in der Mitte ein Butterblock mit einer Spatel. Ob Magritte
nun meinte, den Steinskulpturen käme nicht mehr Dauer zu als einem
Haufen Butter oder umgekehrt, daß die Butter mehr sei als normalerweise
angenommen wird, ist nicht so sicher. Daß das Paragone-Argument,
die Plastik sei haltbarer als die Malerei, wenigstens als Gedanke mitgespielt
hat, wäre durchaus sinnvoll.
Der Torso der Venus von Milo erscheint als von ei ner Kerze beleuchtetes
Bild im Bild in Die Erleuchtung der Kongruenzen (mehrere Varianten).
Magritte wird damit weniger verkünden wollen, daß ihm die
Venus von Milo so minder ist, weil er sie nur als Bild im Bild
zeigt. Dem steht entgegen, daß er einen Vorschlag, sie statt aus
weißem Stein aus buntem Granit zu malen, als unsinnig ablehnt,
da sie sowieso aus Stein sei. Vielmehr ist entscheidend, daß die
Skulptur im Bild einen Schatten ins Bild wirft, der sich auf die Lichtquelle
der Kerze daneben auf dem Tisch bezieht. Damit wird die Frage aufgeworfen,
die für die Betrachtung der Geburt der Plastik im Sinne
der Wahrnehmungsbedingungen zentral sein wird. Der weibliche Torso im
Bild wird als gemalte Plastik durch die Licht-Schatten-Modellierung
ganz unabhängig von der jeweiligen Lichtquelle sichtbar. Daß
im Bildraum die Kerze als Lichtpuelle nicht nur die Schatten des Tisches
oder Rahmens erklärt, sondern sich auch die gemalte Plastik danach
ausrichtet, ist wohl als Zufall annehmbar, aber als sinnvoller Zufall,
der die malerischen Bedingungen von Plastik erhellt, wie zudem im Titel
angedeutet. In Die Geburt der Plastik sind es malerische Bedingungen,
die noch immer einer Erklärung harren.
Im Grunde war die kunsthistorische Reise vor die einzelnen Vergleichsbeispiele
vergeblich, die nur aufzuzeigen vermochten, was Magritte trotz ähnlicher
Interessen und der eingesetzten Mittel nicht wollte. Ist es vielleicht
doch entscheidend, daß er ein Readymade umarbeitete, sodaß
wir es mit der anhand von Nicht-Kunstgattungs-Kunst erprobten außerkunsthistorschen
Methode der '"Negativform" versuchen sollten? Welcher Ort
ist der ursprüngliche einer Totenmasken-Funktion? Doch wieder nur
jener Projektionsbereich des Bildungsbürgers, der die Distanz zu
überwinden oder zu bannen trachtet. Distanz unser durchgehendes
Thema, betont Magritte nun tatsächlich durch das Motiv des Wolkenhimmels.
Was aber gewinnen wir damit? Schon einmal hat Magritte einen Kopf mit
einem landschaftlichen Motiv überlagert. In Phantomlandschaft
(1928/29) liegt quer über dem Frauengesicht der Schriftzug "montagne"
(=Berg). Die Heterogenität der beiden Zeichenbereiche Bild und
Schrift wird krass deutlich. Zwar vermag der "Berg" das Gesicht
mit Assozioationen zu überlagern, aber diese führen vom Bild
weg, eine ästhetische Einheit wird so nicht hervorgebracht.
Etwa um dieselbe Zeit beschäftigt sich Magritte mit sprach-bild-philosophischen
Problemen. Er beginnt seinen berühmten Aufsatz in La Révolution
surréaliste (1929) mi t folgender Definition: "Ein Objekt
ist von seinem Namen nicht so besessen, daß man nicht einen anderen,
der besser dazu paßt, finden könnte." Die Verbindung
mit anderen Sätzen wie "Manchmal nimmt der Name eines Gegenstandes
den Platz des Bildes ein", "Ein Wort kann den Platz eines
Gegenstandes in der Realität einnehmen", oder auch "In
einem Gemälde bestehen Wörter aus derselben Substanz wie Bilder",
"Ein Bild kann den Platz eines Wortes in einer Behauptung einnehmen",
allerdings auch "Man sieht die Bilder und die Wörter in einem
Gemälde unterschiedlich" und schließlich: ''Jede beliebige
Gestalt kann das Bild eines Objektes ersetzen", lassen den theoretischen
Grund für die Geburt der Plastik aufleuchten. Der Begriff
auf einem Gesicht wird jetzt nicht geschrieben, sondern gemalt und durch
den Titel zu einem Objekt zwischen den Grenzen der Künste; aber
nicht nur durch den Titel, dessen Glaubwürdigkeit im Surrealismus
nicht zu überschätzen ist. "Der Zusammenhang zwischen
Titel und Bild ist dichterisch, d.h. daß nicht die Gegenstände
in diesen Zusammenhang aufgenommen wurden, sondern nur einzelne ihrer
Einenschaften, die gewöhnlich aus dem Bewußtsein verdrängt
werden, aber bisweilen durch gewöhnliche Ereignisse aufgefüllt
werden, die durchaus
noch nicht von der Vernunft beherrscht werden", sagt 'Magritte
selbst dazu. Was sind diese gewöhnlicherweise verdrängten
Eigenschaften, die dem Werk Die Geburt der Plastik unabhängig
von seiner "Gegenständlichkeit", d. h. jenseits von Maske
und Wolkenhimmel anhaften? Haften wir an diesen Genenständen, dann
führt uns das nicht in den Titelzusammenhang, heißt das
mit anderen Worten. "Der an Kunstinterpretation gewöhnte Betrachter
unterliegt der Gefahr, auf der Suche nach verborgenen Bedeutungen in
eine Falle zu geraten." (Uwe Schneede, 1978) "Nicht die Gegenstände
sind verrätselt, sondern die Methode ihrer bildnerischen Herstellung
verrätselt ein aufzudeckendes Bildproblem." (Uwe Schneede,
1978)
Überdies hat das Werk einen zweiten Titel: Die Zukunft der Statuen.
Damit gelangt ein neuer Akzent in die Interpretation, aher wie schwer
wiegen nun eigentlich Titel in Magrittes Werk? Noch weniger als eine
Plastik, deren reliefhaften Ansatz er malerisch stört, ist die
Totenmaske ein Standbild. Sie ist nicht einmal der Torso eines Standbildes.
Warum nicht eher "Ende der Plastik", "Tod der Statuen
in der Atmosphäre" oder "Geburt der Malerei"? Die
"Zukunft" setzt mit der "Geburt" zwar ein, entfernt
sich jedoch immer weiter von dieser. Sie ist immer das Noch-Nicht, das
nicht einmal geschehen ist, wie die "Geburt". Zukunft geschieht
nicht, sondern folgt aus einem Geschehen, während aus dem Vorgang
der Geburt alles kommen, sie aber vergangen sein wird. Auf das Werk
selbst und nicht auf irgendeinen "unsichtbaren" Inhalt bezogen,
bedeutet die "Geburt" nicht weniger als den kreativen Akt,
aus dem die Beziehungen zwischen den Kunstgattungen aufleuchten. Genausowenig
wie damit der historische Beginn der Skulptur gezeigt werden kann, haben
die Standbilder eigentlich Zukunft. Es wird auch nicht eine "Zukunft"
dargestellt, was gar nicht möglich wäre.
Wie aber eine Zukunft die Geburt voraussetzt, so mag die weitere spätere
Entwicklung von Statuen oder Denkmälern davon abhängen, wie
es überhaupt zu Plastik als Kunstgattung im Wahrnehmungsprozeß
kommt . Wir müssen, wollen wir Magrittes eigener Anweisung folgen,
auf verdrängte Eigenschaften blicken. Wir haben damit schon angesichts
seiner Plastik-Malerei-Auffassung in dem Bild des Torso der Venus von
Milo begonnen. Setzen wir an der gewollt zufälligen Übereinstimmung
von malerischer Erscheinung der Plastik und Licht-Schatten-Gebung des
Bildes an. Uns ist das Wissen um Plastik scheinbar unmittelbar gegeben.
Sie entsteht durch einen Appell an den Tastsinn, der die optischen Eindrücke
vertieft. Die Veränderung der Maske durch die Bemalung akzentuiert
diesen Entstehungsprozess nicht - im Gegenteil. Wie sollte auch das
Motiv des Wolkenhimmels, eines illusionistischen Mittels also, die Kunstgattung
"gebären"? Diese Frage stellt sich uns ständig.
Der zweite Titel trägt zur Klärung des Problems nichts bei.
Die zeitliche Dimension der Zukunft führt über die Totenmaske
doch gewiß nicht in den Bereich der Standbilder. Oder sollte damit
angedeutet werden, daß die Verewigung der Toten als Statuen der
Ansatzpunkt dieser Kunst ist? Warum aber dann das malerische Mittel
des Himmels? Ist der Himmel das, was wir sozusagen auf das Antlitz eines
Toten projizieren? Es wäre unserer Vorstellung nach das, was sich
vor dessen innerem Auge auftut. Oder erhöht die aufgesetzte Atmosphäre
Napoleons Maske? Magritte spricht aber nicht vom Tod, von Himmel, unserem
Auge, Denkmalkult und dgl. Die Dimension einer realen Zukunft nach der
Geburt eines künstlerischen Mittels steht in Frage.
Wir haben uns der ikonographischen Klärung zuzuwenden versucht,
bevor wir die Wahrnehmungsbedingungen für das Werk genau überlegt
haben. In der Kombination von stillem Antlitz mit geschlossenen Augen
und blauem Himmel mit weißen Wolken, zeigt es eine Überlagerung
zweier Kunstbereiche, der Gattungen Malerei und Plastik bzw. Relief.
Wie erwähnt worden ist, handelt es sich dabei um eine Ergänzung
der beiden Wahrnehmungsbereiche: Tast- und Gesichtssinn. Das Antlitz
vermittelt nach und nach die Irritation einer gestörten Ruhe. Wir
müssen die Behauptung einer Ergänzung der beiden Sinne (Tasten
und Sehen) bezweifeln, weil sie einander nicht decken, sondern miteinander
im Streit liegen. Die Bemalung koloriert nicht das Gesicht, sondern
kontrastiert es mit einem davon unabhängigen Motiv. Trotzdem
hat man bisher nicht darauf geachtet, weil man von Magritte eine Überlagerung
verschiedener Wahrnehmungs- und Bedeutungsebenen gewohnt war, wovon
schon die Rede war.
In immer wieder überraschender Weise hat Magritte die Überlegenheit
seiner Malerei durch eine Schilderung von Paragone-Situationen demonstriert.
Das Bild Das ist kein Apfel, das einen Apfel mit dem geschriebenen
Titel zeigt, vermag in seinem präzisen Illusionismus durch Ironisierung
diesen wieder abzuschwächen. Es ist ja kein Apfel, sondern nur
das Bild eines solchen. In einer Seminar-Situation ist es nicht einmal
das, sondern die Projektion eines Diapositives einer Abbildung des Gemäldes
eines Apfels . Über alle in Gang gesetzten Gedanken hinaus, bleibt
es doch die Malerei, die das zu zeigen imstande ist - und nicht die
Wirklichkeit.
In Die Geburt der Plastik allerdings vermag die Malerei nicht
die Geburt der Plastik zu zeigen, weil sie den plastischen Grund der
Maske nicht schafft. Vielmehr wird der Wolkenhimml wie jedes malerische
Motiv durch das Relief gestört. Umgekehrt verunklärt er die
Maske. Die Störung ist wechselseitig. Eine Erklärung dafür
ist erwähnt worden: man kann nicht zugleich in die Nähe und
Ferne blicken. Distanz als kürzeste Paragone-Formel. Der Kontrast
von Nahsicht-Fernsicht und Tastsinn-Gesichtssinn wird nie klar, weil
man normalerweise die beiden Pole voneinander abschirmt. Würde
man sie miteinander koppeln, wäre die Frage zu stellen, inwiefern
der "Tastsinn" einer "Nahsicht" entspräche
. Es geht weniger um die Übereinstimmung mit den "Tastsinn"
als um die Möglichkeit des Sehens, Nähe und Relief festzustellen.
Man hat sich in der Paragone-Literatur auch damit befaßt.
Ein Beispiel soll die Argumente des Wettstreites kurz demonstrieren.
Der große Galilei hat in einem Brief an Lodovico Cigoli (1612)
unter anderem die Begründung zurückgewiesen, Skulptur wäre
der Malerei durch ihr Relief überlegen. Denn das wahrgenommene
Relief in der Skulptur sei gar nicht ihre Eigenschaft, sondern eine
der Malerei. Er begründet das durch die Charakterisierung der Malerei
als einer Darstellung durch Licht und Schatten. Skulptur werde aber
nur reliefhaft durch Licht und Schatten in den einzelnen Partien, was
experimentell nachweisbar wäre. Bemale man nämlich eine Skulptur
in ihren hellen Teilen dunkel, scheine sie zu verschwinden. Panofsky
hat das Experiment mit Kugeln wiederholt. Die Malerei sei demnach tausendmal
höher einzuschätzen, weil sie ohne jegliches Relief genausoviel
zu zeigen vermöchte.
Neben einer Reihe anderer Gründe, die wir hier übergehen,
sei noch einer erwähnt. Bildhauer imitierten Dinge, wie sie seien,
Maler wie sie erschienen. Da aber Dinge nur einmal seien und
in unendlichen Weisen erscheinen, habe es der Maler viel schwerer,
seine Gestaltung zusammenzustellen. Magrittes Die Geburt der Plastik
wäre nach diesem Argument sowohl, was sie ist, als auch wie sie
erscheint. Mit dieser Erläuterung können wir aber heute nichts
mehr anfangen, weil wir die Gewißheit haben, daß auch die
Skulpturen, bzw. die Gegenstände, die sie darstellen, in mannigfacher
Weise erscheinen. Wir wenden uns dem ersten Unterschied zu. Stimmt es,
daß das durch Licht-Schatten konstituierte Relief einer Skulptur
eine malerische Qualität ist? Magritte hat auch das mit dem mehrmals
erwähnten Torso-Bild im Bild Die Erleuchtung der Kongruenzen
gezeigt. Ohne Zweifel führt die Malerei Licht-Schatten als Farbeigenschaften
ebenso ohne Relief mit sich. Erinnern wir uns ferner an die Geschichte
der Grisaille-Darstellungen, die in Gemalden Skulpturen vorzutäuschen
trachteten. Bei einer sich verändernden Beleuchtung ändert
sich an der Licht-Schatten-Verteilung im Bild (ob monochrom oder bunt)
nichts. Beim Relief hingegen ändern sich die Schatten bei wechselnder
Beleuchtung. Diese in den beiden Künsten unterschiedliche Determiniertheit
durch äußere Bedingungen schreibt Galilei deswegen der Malerei
zu, weil sie darauf nicht reagiert, es gewissermaßen ihr Element
sei.
Wir sind bereits einmal einer vergleichbaren Situation begegnet. Ein
Rad bewegt sich durch Eigenbewegung fort. Erst wenn wir es aus der Fortbewegung
herausheben, sehen wir, daß die Eigenbewegung nicht immer zugleich
zur Ortsveränderung führt, aber sich auch am gleichen Ort
drehen kann . Analoges gilt für Licht-Schatten (als Eigenschaft
einer äußeren Beleuchtung) und Hell-Dunkel (als Eigenschaft
der Farben). Das wird unter normalen Bedingungen nicht bewußt,
aber dort sichtbar, wo ein Relief bemalt ist. Das Hell-Dunkel der Bemalung
wird nur unter optimalen Lichtverhältnissen ungestört sichtbar,
wenn das Relief keinen Schatten wirft. Wird die Totennmaske nicht von
allen Seiten angestrahlt, dann überlagert Schatten (der Nase, der
Augenlider, des Mundes) das Hell-Dunkel. Fällt Schatten auf einen
kolorierten Körper, stört der Schatten die Farbe nicht. Erst
dort, wo die Bemalung nicht mit der körperlichen Gestalt übereinstimmt,
entsteht eine Dissonanz.
Auf der Maske werden u. U. Schatten, die Wolken und Himmel gleicherweise
treffen oder überschneiden, wahrnehmbar. Dafür gäbe es
keinen Grund, wäre es eine rein malerische Situation. Plastik wird
dadurch sichtbar, daß Licht-Schatten sich von Hell-Dunkel unterscheidet.
Das wiederum wird nur deutlich, wo die beiden Aspekte sich nicht decken.
Das zeigt uns Magritte in Die Geburt der Plastik mit malerischen
Mitteln anhand eines Ready-made. Die Reliefhaftigkeit der Totenmaske
wird als Readymade-Negativform zu einer Geburt der Plastik, was
Magritte, im Bewußtsein der Macht der Malerei vorführt.
Ist der Titel erst einmal als sinnvoll erkannt, mag man über die
Elemente dieser erstaunlichen Metamorphose neuerlich nachdenken . Die
einzigartige Bedeutung dieses Werkes besteht darin, daß durch
die malerische Überwindung eines Objektes ohne Rücksicht auf
dessen Eigenschaften, erst unbewußte Wahrnehmungsbedingungen dieses
Dinges ins rechte Licht (oder ins Hell-Dunkel) gerückt werden.
Magritte hat in Die Geburt der Plastik eine Niederlage der Malerei
hingenommen, die nur von ihr selbst in Szene gesetzt werden kann. Indirekt
wird das Verständnis der Gattung Plastik wieder malerei-abhängig.
Will Magritte damit andeuten, daß das Einzigartige Napoleons erst
in der malerisch-sentimentalen Distanz eines projizierten Himmels entsteht
oder etwa, daß die Himmelsvorstellunq durch die Aufnahme von Leuten
wie Napoleon empfindlich gestört wird? Er schreibt einmal in einem
Aufsatz Der Kampf der Gehirne: "War es eine gute Wahl, hat
man die Namen von Männern, die der Menschheit kostbar sind, Archimedes,
Leonardo, Pasteur, Marx usw. War es eine schlechte Wahl, hat man die
Namen der Männer, die für die Menschheit unnütz waren,
vergessen, es sei denn, daß man sich ihrer nur zu gut erinnert,
wie an Nero, Bonaparte, Hitler und viele andere. Aber ohne diese tragischen
Irrtümer, die fähigen aber konfusen Gehirnen zu verdanken
sind, hätte Nero vielleicht Mozart übertroffen, hätte
Bonaparte den Spartakus-Aufstand zu Sieg geführt, wären Churchill
und Hitler die größten Maler der Geschichte gewesen. Der
Kampf - wie das Leben- geht weiter". In einer weiteren "Ruhmesvision"
macht sich Magritte über Napoleon als Feldherrn lustig. Magrittes
Ironie schließt auch Phantasien wie die erwähnte ein, wir
belassen es bei seinem Titel, der sich letztenendes als Lösung
wieder eingestellt hat. Als "Negativforn'' ist die bemalte Maske
auch deswegen anzusprechen, weil Magritte nicht auf das hinweist, was
er darstellt, sondern einen Wahrnehmungsprozeß offenbart, der
paradoxerweise im Werk selbst nicht mehr stattfindet. Das Antlitz vermochte
einmal in die Wolken zu blicken, mit toten geschlossenn Augen ist das
nicht mehr möglich. Es ist die Ergänzung des Betrachters,
die das Unmögliche sichtbar macht, wörtlich etwa: "Tote
sehen keinen Himmel"; ironischerweise sehen nur Tote den Himmel
. Wieder "negativ geformt": nicht der Tote sieht oder sieht
nicht, sondern der Betrachter soll etwas sehen, was er mit geschlossenen
Augen (d.h. mit dem Tastsinn) an Plastik nicht sieht.
Die Malerei als einen weiten Umraum umfassende Kunst vermag Einzelkörper
einzuschließen, aus nächster Nähe und aus der Ferne.
Die Plastik, die sich aufgrund ihrer Ausgedehntheit auf Einzeldinge
beschränkt, ist, wenn man die Beziehungen zwischen Körpern
und die variierende Distanz als Kriterium annimmt, Teil der Malerei.
Die Totenmaske verweist darauf, daß es die Leblosikeit inmitten
malerischer Tatbestände ist, die Plastik hervorbringt. Indem wir
dazu die charakteristischen Unterschiede zur herkömmlichen Plastik
sehen, wird Plastik als Gattung bewußt. Sie entsteht vor uns ebenso
als das in dem Werk Nicht-Dargestellte oder auch scheinbar Überwundene.
In dem vom Leib abgehobenen Relief begegnen Tod und Geburt, der Tod
des Menschen und die Geburt der überdauernden Plastik, und es treffen
einander Malerei und Plastik, denen ebenfalls in der Tradition unterschiedliche
Lebensgrade zukommen. Die Plastik
als der Körperlichkeit bedürfende Kunst steht mehr im Leben,
aber die Tastbarkeit und das Umschreiten machen ihre ideal-farblose
Starrheit trotz aller "fruchtbaren Augenblicke" (G.E.Lessing)
bewußt. Die Malerei als Medium farbiger Fülle erfaßt
alles Sichtbare bis in die Ferne, entzieht sich in ihrer Illusion aber
dem Körpergefühl.
So führt uns Magritte durch die Titelgebung weit über den
verblüffenden Effekt dieser kolorierten Maske hinaus in prinzipielle
Wesenheiten, in ursprüngliche Erscheinungsweisen der Kunst. Durch
die im 2. Titel angespielte Thematik wird angedeutet, daß die
Zukunft der Plastik von einer solchen Darstellung her immer wieder überdacht
werden kann. Immer wieder neu deswegen, weil die Kunstgattungen gerade
im 20. Jahrhundert eine ständige Entwicklung durchgemacht haben
und dieser Prozeß weitergehen wird. Nicht das Werk, aber der Titel
zu diesem Werk schließt die historisch im Aufbau des Werkes noch
nicht erfaßten, aber im Betrachter vorhandenen Erfahrungen seiner
(und nicht des Werkes) Vergangenheit mit ein. Plastische Standbilder
wirken für uns heute durch die Emanzipation des Plastik-Begriffes
vor allem in den 70er Jahren anders als davor. Magrittes Werk hat zwar
damals davon nichts vermitteln können, aber die Öffnung der
Plastik, die keine eigentliche Plastik war und auch nicht Körper
wiedergab, in die Landschaft ist rückblickend durch die Sprengung
der Gattungs-Grenzen prophetisch.
Nicht wie sich die Entwicklung der Kunst entfalten würde, hat Magritte
geahnt, aber daß in der Kunst Grenzen zu sprengen sind, die in
erster Linie die Erkenntnismöglich-keiten des Betrachters verunsichern
werden, diese Notwendikeit der aktiven Teilnahme am Interpretationsvorgang,
die Absage an die Passivitat gegenüber sogenannten objektiven Tatbeständen
auch in der Kunst macht ihn aktueller denn je. Das Besondere an Magritte
liegt darin, daß er keiner surrealistischen Wirklichkeitsverzerrung
mittels traumhafter Mischformen bedurfte, die ja immer mangels Identifikation
zu einem Bild-Betrachter-Gegensatz führen, sondern daß der
Betrachter gerade durch überraschende Grenzziehungen und Ergänzungen
seiner Erinnerungen an die Wirklichkeit der Welt in die Eigenwirklichkeit
der Bilder hineingezogen und in seinem Verständnis vewirrt wird.
Auch dort, wo Interpreten sich gerade über seine betont a-persönliche,
sachliche Darstellungsweise klar waren, sind die Opfer der damit bezweckten
Täuschungen geworden. Magrittes Werke erfordern eine wechselnde
Distanznahme. Das ist sein Beitrag zum Paragone, in welchem er sich
nicht zwischen Lösungen entscheidet, sondern sie miteinander kombiniert.
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