A la recherche de la peinture perdue
Jacques Derrida zwischen Antonin Artaud und Yves Klein

In: Denken nach Derrida. Beiträge zu einem Kultphänomen.
I.K.U.D. Zeitschrift für Kunst- und Designwissenschaften, 1-2005, S.6-17

Das Werk des - etwa von Paul Feyerabend - als „Obskuranten“ charakterisierten Kultautors Jacques Derrida wurde von den einen als ein Steinbruch, von manchen anderen als eine Goldgrube ausgebeutet. Dass die Obskuranten nicht aufzuhalten sind, heute weniger denn je, hat psychologische, genauer massenpsychologische Gründe. Die Methodik der Dekonstruktion „unter Tage“ wurde im schürfenden Weiter- und Wiederverwertungsprozess zu einem materialreichen Zitatenschatz, in welchem der imaginierte Zusammenhang entschwand. Manche Texte haben sich dafür geeigneter als andere erwiesen.

Der Kunsthistoriker wählt spontan das seit 1992 auf Deutsch zugängliche, erstmals 1978 erschienene Buch La vérité en peinture. Es spielt allerdings in unserem Fach eine eher marginale, zumindest ambivalente Rolle. Das liegt daran, dass es die Erwartungen zahlreicher Kunsthistoriker schockartig enttäuscht hat, die auf der Suche nach der Wahrheit die Malerei entschwinden sahen. Eine Ausnahme bildet das zentrale Kapitel Parergon, das zu Reflexionen über den Rahmen angeregt hat. Paul Duro hat 1996 Essays von vierzehn Autoren zum Thema The Rhetoric of the Frame - Essays on the Boundaries of the Artwork herausgegeben und sich dabei auf Derridas „celebrated“ Parergon-Text gestützt. Duros Behauptung, Derrida habe Meyer-Shapiros kunsthistorische Beobachtungen über den Rahmen „revisited“ (2) ist - gelinde gesagt - euphemistisch. Derrida nennt den Namen Meyer-Shapiro in Parergon gar nicht, und es gibt weder Fußnoten noch ein Literaturverzeichnis, weil ein wissenschaftlicher Apparat erst bei der Übersetzung ergänzt worden ist. Manchen wird auch Ein Auge zuviel, das gelehrte Nachwort des Übersetzers Michael Wetzel, überraschend klar erscheinen, was vielleicht daran liegt, dass es nur peripher mit Derridas Textversammlung zu tun hat. Derrida gesteht in der deutschen Ausgabe in einem Hinweis (100), dass er Meyer-Shapiros Rahmen-Aufsatz nicht gekannt habe. Später, erst im letzten Kapitel Restitutionen wird Meyer-Shapiro bei der Betrachtung der Schuhe von van Gogh gegen Heideggers Beobachtungen in Ursprung des Kunstwerks ausgespielt. Derridas eigentlicher Bezugspunkt ist Kant.

Auf der Suche nach Rahmenbedingungen ist es vielleicht nachvollziehbar, dass man ständig am Zentrum vorbeizielt. Verschiedene Autoren in dem in der Cambridge University Press herausgekommenen Band The Rhetoric of the Frame zitieren zwar Derrida - und dadurch werden (auch ungelesene) Autoren berühmt -, aber sie beziehen sich in der Vorstellung ihrer eigenen Thesen gar nicht auf ihn. Damit hat sich das Kriterium der Wissenschaftlichkeit in sein eigenes Gegenteil verkehrt. Früher zitierte man, um nachzuweisen, was man alles kannte und wahrscheinlich sogar gelesen hatte. Heute zitiert man das, was einen nicht interessiert und womit sich gefälligst die Leser selbst auseinandersetzen sollten. In diesem Sinn sind Fußnoten im Laufe der Jahre zu Zumutungen geworden. Mit Hilfe des Internet ist es heute ein leichtes, Unmassen von Zitaten und Quellen anzuhäufen, die auch den Vorteil haben, den Mangel an Ideen zu tarnen. In einer dem Rahmen-Thema gewidmeten Ausstellung des van Gogh-Museums (In Perfect Harmony - Bild + Rahmen 1850-1920, Amsterdam 1995) spielt Derrida fast überhaupt keine Rolle mehr, jedenfalls nicht mehr als Anreger.

In The Rhetoric of the Frame wird genauso wenig auf Paul Cézanne Bezug genommen, wie Derrida auch nur ein Werk von Cézanne zeigt, obwohl er ihn zu seinem wesentlichen Anreger erkoren hat. Derrida schreibt - ständig mit imaginärem Blick in den Spiegel: „Und nun lasse ich Sie allein mit jemandem - ich bin es nicht -, der kommt und erklärt: ‚Ich interessiere mich für das Idiom in der Malerei.’ -2- La vérité en peinture, die Wahrheit in der Malerei, dieser Ausdruck trägt die Signatur Cézannes. Dies ist ein Ausspruch Cézannes.“ Und dann wuchert der affektierte Diskurs um die „Schuld“ weiter. „Affektiert“ deswegen, weil dieses „jemand - ich bin es nicht“ zu einer redundanten Floskel der Ablenkung wird - Derrida beginnt das Buch schon mit diesem geheimniskrämerischen „Jemand kommt, nicht ich," und erklärt: "Ich interessiere mich für das Idiom in der Malerei." Dieses Irgendwas, das nicht es selbst sei, ist einmal der Autor, dann wieder die Sprache: „In der französischen Sprache - wenn es eine gibt, die eine sei und wenn dies nicht eine Malerei ist...“ (20) Einen Vortrag anlässlich der Eröffnung einer Artaud-Ausstellung im MoMa beginnt er analog: „Und wer/ wird heute/was/sagen?“ - auch wenn es sich um ein Zitat von einer Zeichnung Artauds handelt.

Das wird von mir - falls ich einer bin - und zwar in der deutschen Sprache - falls die eine nicht gerade die eine oder andere Malerei ist - als konditional-konjunktivischer Unsinn aufgefasst, zumindest im Augenblick, wenn es nicht morgen sei. Die Manieriertheit dieser sprachlichen Selbstverliebtheit scheint noch nicht so in Floskeln erstarrt zu sein, dass man sie so gerne karikiert wie einst das pseudo-etymologische Tiefengründeln Heideggers.

Man kann naturgemäß eine schöne Ausstellung aus der Beobachtung machen, dass der Zeichner nicht sieht, was er zeichnet, entweder weil er den zu zeichnenden Gegenstand, also nicht das Blatt, sondern von diesem weg ihn anblickt, oder aber weil Hand und Zeichengerät die entstehende Linie verdecken: Mémoires d’aveugle: L’autoportrait et autres ruines (Louvre, Paris 1990). Verrät dieser Tatbestand viel mehr, als dass sich das Zeichnen nicht unmittelbar der Hand verdankt? Derrida tendiert dazu, das Selbstverständliche in der Weise zu hinterfragen, dass sich in diesem Selbstverständlichen der Sprengsatz zu seiner Zerstörung und Auflösung verbirgt. Das Zeichnen verdankt sich wohl gerade nicht dem Umstand, dass man seine Entstehung nicht begreift. Oder umgekehrt, wenn sich diesem Umstand die Zeichnung verdankt, warum sollten wir sie dann anblicken? Was wir jeweils sehen, ist nicht ihr Ursprung in der immer gleich bleibenden Tatsache ihrer Unerklärbarkeit. Damit dies verstanden wird, muss es unendlich oft variiert und wiederholt werden, wodurch es gewichtig wird. Der Derridasche Kunstgriff enträumlicht und entzeitlicht das, worüber er reden will. Daher benötigt er auch keine wissenschaftliche Literatur, auf die er sich beziehen könnte. Vergangene Interpretationen von Bildwerken stehen ihm im Weg. Vielleicht verdankt sich seine Strahlkraft gerade der daraus entspringenden Gegenwärtigkeit/Präsenz. Das ist für Philosophen charmanter als für Historiker. Jedenfalls hat das 465 Seiten füllende Die Wahrheit in der Malerei zahlreiche Kunstwissenschaftler enttäuscht, die auf der Suche nach der Wahrheit die Malerei entschwinden sahen.

Worum es in diesem Buch auch gehen mag, es geht nicht um Malerei und schon gar nicht um ihre Wahrheit, wofür sie auch gar nicht erfunden wurde. Im besten Fall führt die Malerei zur Täuschung des Auges (trompe l’œuil) generell zur Darstellung, manchmal zu Aussagen über Gott und die Welt. Wer seit Platon auf der Suche nach der Wahrheit ist, vermeidet geradezu einen Blick auf die Täuschung der Malerei. In dieser Realitätsflucht, die die Kunst auf Aussagen oder Inhalte reduziert und sie als Illustrationen von Ideen geringschätzt, liegt tendenziell ein Bilderverbot. Das Glück des Umschreibens und Anpeilens, Wiederzurücknehmens und mit einem Strich ins Negative wendende Instrument der Sprache, das mühelos zwischen Sein und Nichtsein schwankt, pendelt und oszilliert, hat der Theologie reiches Material geliefert (P. Zeillinger-Matthias Flatscher). Hier allerdings ist das Obskure legitimerweise zu Hause.

Kurze Frage, langer Sinn. Was ist das für eine Malerei, in der die Wahrheit wohnt bzw. nicht zu finden ist? Hier hilft die Statistik. Im Buch finden sich (schlecht gerdruckte) 23 Skizzen und Fotos von Gérard Titus-Carmel aus der Ausstellung The Pocket Size Tlingit Coffin (1975) im Centre Georges Pompidou, 9 Bildwerke von Valerio Adami (1966-1975). Das sind nicht gerade Meisterwerke der Weltkunst, sondern bezeichnenderweise qualitative Randphänomene. Sie werden ergänzt durch 9 van Goghs, davon 4 Schuh-Bilder, 4 Magrittes, 2 Goyas, jeweils 1 Bild von Cranach, Caron, Lindner und van Eyck. Dazu kommen Kartuschen, Schmuckschilder und Ornamente weniger bekannter Künstler. Die Abbildungen (der klassischen Kunstgeschichte) stehen meist für sich, sie werden im Text nicht notwendigerweise erwähnt, geschweige denn beschrieben, analysiert, gedeutet. Die „Wahrheit“ in der „Malerei“ scheint in ihrer Ersetzbarkeit durch die (keineswegs soziologischen) Rahmenbedingungen des an ihnen sich entzündenden Gerede-Denk-Schwalls zu liegen, dessen Reiz in seiner kartuschenhaften Zierhaftigkeit zu finden sein mag.

Gleich das erste abgebildete Gemälde, die Lukretia von Lucas Cranach (1533) hat keinen „Rahmen“. Das Innen-Außen-Thema wird als der Gegensatz des nackten Frauenkörpers und der „Parerga“ erläutert. Derrida stellt die Frage, ob denn der Schleier, das Halsband und der Dolch als solche zu bezeichnen wären. Gewänder an Statuen tragen in diesem Sinne nichts eigentlich zur Vorstellung des Gegegenstandes bei, sie seien Hors-d’œuvre (wörtlich „außerhalb des Werks“). Von wo muss man ein Bild betrachten, damit die Attribute einer Nackten zum Hors-d’œuvre werden? Muss da nicht der Betrachter selbst Hors-d’œuvre sein? Was wären dann in diesem Gastmahl die Parerga des Rahmens? Das Begriffsgeplänkel, wie es von Derrida auch hier durchexerziert wird - „aurait à voir, donnerait à voir, ferait voir, laisserait voir, laisserait faire voir, se faire voir“ - lassen wir einmal bleiben. Für den Kunsthistoriker ist es zunächst kein Gewinn, ausgerechnet die Attribute, die den Inhalt, also das Innere der Figur ergeben, als äußerlich, als Parerga zu sehen. In einem Bild gibt es keinen Innen-Außen-Gegensatz und vermutlich gibt es ihn im Prozess der Interpretation nicht einmal zwischen Bild und Betrachter. Ein soziologisches Parergon wäre z.B. die Frage, was sich mit der politischen Figur der Lukretia für die Zeit Cranachs verbindet, etwa im Vergleich zu seinen vielen „Judiths“ oder „Salomes“, auch inwiefern sie austauschbar sind, was sich damit für Frauenrollen verbinden. Man kann es auch umkehren, wie Derrida das so liebt, und den Frauenakt als Parergon, als schmückenden Rahmen bezeichnen.

Naiv wäre die Frage, was man davon hat, wenn man die Schuhe in der van Eyckschen Arnolfini-Hochzeit (Abb. links) mit den Heideggerschen Schuhen van Goghs (Abb. rechts) vergleicht? Zielt diese Gegenüberstellung eines Details eines frühneuzeitlichen Meisterwerks im Lichte der Deutung Erwin Panofskys mit dem Schuhmacher-Denkmeister aus dem Schwarzwald irgendwo in die Malerei hinein oder nur über die Rahmen hinaus in das Ungewisse reflektierender Wort-Kaskaden? Es gibt keine Aussagen, sondern nur das Ergriffensein derjenigen, die guten Willens und großer Duldsamkeit sind. Versuchen Sie es: „Die Verläßlichkeit* des Zeugs ‚vor’ seiner Dienlichkeit, aber als Bedingung dieser Dienlichkeit, verpflichtet in der Zugehörigkeit zur Erde und zur Welt.“ (408) Nun ja, das ist es, was beim Vergleich der Schuhe dann herauskommt, aber „ - Wir können uns hier nicht auf die lange Spur verpflichten -“ (409)

Wenn Derrida tatsächlich „den philosophischen Text in eine paradoxe Parallelität zur Malerei gebracht“ hat (Kimmerle/10), dann sehe ich auch schwarz für die philosophische Exegese. Ziemlich kryptisch ist auch der Hinweis, Derrida „macht Kunstwerke zu Texten, die auf ihre Weise etwas auszudrücken vermögen, was der philosophische Diskurs nicht zu artikulieren vermag.“ (Schmitt/1) Erstens spricht Derrida fast gar nicht über die ausgewählten Kunstwerke und schon gar nicht werden sie von ihm sprachlich umgebildet. Wieso sollte ein Text über Kunst eine andere Dimension erlangen als ein „normaler“ philosophischer Text? Wozu sollte man den im Bild unaufspürbaren Sinn in einen unauffindbaren Sinn des Textes transferieren? Wenn Derrida noch dazu ohnehin „niemals bei einem eigentlichen Bild ankommt“ (Schmitt/4), wovon geht er bei der Übertragung in einen Text dann eigentlich aus? Um es auf den Punkt zu bringen: Wenn Derrida sich tatsächlich immer „unterwegs zum Bild befindet.“ (Schmitt/4), dann ist es schlüssig, dass er sich auch immer unterwegs zum Text befindet. Das macht ein Verständnis unmöglich.

*

Ist einmal die Schwelle der Popularität überschritten, gewinnen klare und unklare Denker gleicherweise Anregungen daraus. Klarheit liegt allerdings nie in den Randzonen, die das Spielen mit der Sprache erlaubt. Wenn es in erster Linie um Vorstellungen geht, die keimhaft in der Sprache selbst liegen, dann sind sie ziellos und gehen an dem jeweils zufällig wirkenden Gegenstand vorbei. Ein zusätzlicher Reiz entsteht durch ihre Unübersetzbarkeit, wovon man sich nicht hat abschrecken lassen.

Ob Obskuranten auf das Erbe von anderen Obskuranten angewiesen sind, ist schwer zu sagen. Derrida hat sich gerne auf Antonin Artaud bezogen. Die Absurdität der Gedankengänge müssen aber nachvollziehbar sein, will sich der aus dem Unbewußten speisende Assoziationsschwall des (Post)Surrealisten manifestieren. Artauds Ungeheuerlichkeiten sind verständlich, sie sind es aber nicht mehr, wenn sie von Derrida zitiert und neu montiert werden. Das schaut dann folgendermaßen aus. Artauds Text Das Theater der Grausamkeit beginnt mit furchterregenden Scheußlichkeiten:

„Kennen Sie etwas maßlos Fäkaleres
als die Geschichte Gottes
und seines Seins: SATAN,
die Herzmembran,
die schändliche Sau
des universell Illusorischen,
der mit seinen sabbernden Zitzen
uns immer nur das Nichts verborgen hat?...

Und wenn es nichts gibt,
gibt es nichts
als diese exkrementiöse Idee
eines Seins,
das zum Beispiel die Tiere geschaffen
hätte.

Und wovon kommen die Tiere
In diesem Fall?...“

Derrida entschärft die Sprengkraft des Schrecklichen in seinen entsprechenden Überlegungen Das Theater der Grausamkeit und die Geschlossenheit der Repräsentation (Derrida/1976) schon durch die Struktur der Eingangs-Zitate: „’...Der Tanz/ und daher auch das Theater / haben noch nicht zu existieren begonnen’, kann man in einer der letzten Schriften Antonin Artauds lesen.“ Hier wird schon gesäubert. Das Original-Zitat ziemlich gegen Schluss des Textes lautet:

„Pest,
Cholera
Und schwarze Pocken
Gibt es nur,
weil der Tanz
und folglich das Theater
zu existieren noch nicht begonnen haben.“

Dazwischen liegen nicht die Welten des Lebens und der Repräsentation, sondern der Krankheiten. Bei Artaud geht es in dem Ton gleich weiter (39):

„Welcher Arzt der rationierten Körper im gegenwärtigen Elend
hätte sich bemüht, eine Cholera aus der Nähe zu betrachten?“

Derrida setzt seine Zitate aber mit Artauds Bestimmung des Theaters der Grausamkeit fort „als ‚die Bejahung / einer furchtbaren / im übrigen aber umgehbaren Notwendigkeit’“.. (351) Dann folgt sofort die Vereinnahmung: „Artaud ruft daher keine Destruktion, keine neue Manifestation der Negativität auf den Plan. Trotz allem, was er auf seinem Durchgang durcheinanderwerfen muß, 'ist das Theater der Grausamkeit / kein Symbol einer abwesenden Leere’. Es bejaht, es erzeugt die Bejahung selbst in ihrer vollen und notwendigen Unerbittlichkeit.“ Das liest sich wie ein Denken in unerbittlicher Konsequenz, mehr Bejahung als Leere, so als ob es um die Gründe dafür gehe, dass das Theater der Grausamkeit noch nicht realisiert worden ist.

Doch bei Artaud geht es um die Krankheit und Gesundung, vielleicht sogar um das Theater der Grausamkeit als Rückkehr zu einem nicht von Zerstückelung und Krankheit bestimmten Dasein. Was bei Derrida zu zwei mehr oder weniger logischen Zitaten montiert wird, ist umgekehrt ein unerbittlicher Gedankengang, der an die „Rückkehr einer ewigen Gesundheit“ anschließt:

„Das Theater der Grausamkeit
ist kein Symbol einer abwesenden Leere,
einer entsetzlichen Unfähigkeit, sich in seinem Menschenleben
zu verwirklichen.
Es ist die Affirmation
Einer schrecklichen
Und übrigens unvermeidlichen Notwendigkeit.“

Bei Derrida geht es um die Unterstellung der Verneinung und Bejahung des von Artaud erfundenen Theaters, bei Artaud besteht das Theater in der Verneinung und Bejahung des Lebens. Selten ist so gegen die Zumutung des Körpers gewütet worden, wie von Artaud, was mit einer „Darstellung“ nicht das Geringste zu tun hat. Derrida dekonstruiert die willkürlich collagierten Textstellen, um sich dem Ursprung der Existenz und des Theaters, ja um so akademische Geschichten wie der Mimesis auszusetzen. Wenn Derrida meint, Artauds Theater verjage Gott von der Bühne (355), so verflucht Artaud diesen Gott, wie in der schon zitierten Eingangspassage oder er zittert vor seiner Absicht, „dem Menschen einreden“ zu wollen, „daß die Dinge geistig gesehen und begriffen werden könnten... Und Gott wollte dem Menschen die Wirklichkeit der dämonischen Welt einreden.“ (35). Artaud kümmert sich nicht darum, Gott von der Bühne zu vertreiben, weil er seine existentielle Rolle als „maßlos Fäkales“ fürchtet.

Derrida sieht zwar, dass es gar nicht um eine Darstellung des Lebens geht, sondern um das Leben als, ja als was? Die Einheit des Schreckens, außerhalb dessen es nichts Erwähnbares gibt, und der Wunsch der Gesundung werden bei Derrida zu einer unvereinbaren Dichotomie: „Das Theater der Grausamkeit ist keine Repräsentation. Es ist das Leben selbst in dem, was an ihm nicht darstellbar ist. Das Leben ist der nicht darstellbare Ursprung der Repräsentation... Dieses Leben trägt den Menschen, es ist aber nicht in erster Linie das Leben des Menschen. Dieser ist nur eine Repräsentation des Lebens...“ (353)

Die Ontologisierung des Lebens führt zur Verallgemeinerung, deren Repräsentant z.B. der Mensch ist, und weil Artaud nichts darüber sagt, wie die entsetzliche Existenz des Menschen zur Darstellung im Theater gelangen soll, behauptet Derrida, dass es der „nicht darstellbare Ursprung der Repräsentation“ ist. Die Begriffe „Repräsentation“, „Ursprung“, „darstellbar“ interessieren Artaud überhaupt nicht, er spricht sie nicht aus. Sein körperzentriertes Vokabular lässt sich nicht wie durch einen Trichter in die Vorstellungen Derridas gießen. Und wenn Derrida verallgemeinernd sagt, das Leben sei „nicht in erster Linie das Leben des Menschen“ (s.o.), dann findet sich bei Artaud nichts, das diesen Gedanken stützte. Vielmehr geht es ihm, auch wenn das noch so kryptisch wirkt, um die „einfache Idee eines rein organischen Lebens“ (33), weil sich auf der Ebene der Tiere noch nicht die „Welt der körperlichen Wahrnehmungen“ wie beim Menschen ausgebildet habe.

Nein, das Theater der Grausamkeit ist eben nicht das Leben selbst anstatt einer Repräsentation, weil Artaud von diesem Gegensatz nichts ahnt. Derrida schließt seine Ausführungen (die keine Einführung bieten) mit seiner eigenen sich aus dem Ursprung des Aufschubs entspringenden Repräsentanz der Wiederholung (oder umgekehrt): „Die Geschlossenheit der Repräsentation zu denken, heißt daher die grausame Macht des Todes und des Spiels zu denken, das es der Präsenz ermöglicht, sich selbst zu entspringen und sich selbst durch die Repräsentation, in der sie sich im Aufschub (différance) entwendet, zu genießen. Die Geschlossenheit der Repräsentation zu denken, heißt das Tragische zu denken: nicht aber als Repräsentation des Schicksals, sondern als Schicksal der Repräsentation. Ihre willkürliche und grundlose Notwendigkeit. Und weshalb es in ihrer Geschlossenheit fatal ist, daß die Repräsentation weitergeht.“ (379)

Der niemals die Repräsentation denkende, unter seinem Leben und seinen Fantasien leidende Artaud stellt selbst das Elend der Welt dar und der Bezug zum Theater entzieht sich dekonstruktivistischen Floskeln von différance, Ursprung, Geschlossenheit, Wiederholung, Notwendigkeit. Wäre es für den Rahmendenker Derrida nicht schlüssig gewesen, den Ort dieser schrillen Aufführung mit zu reflektieren? Dieser Ort war nämlich nicht das Theater, sondern das Medium des Radios, es handelte sich um eine Art unsendbares Hörspiel, für das Artaud ein Abschlagshonorar bekam und keine anständige Bezahlung - 3190 Frs. statt der vertraglich vereinbarten 20 000 Frs. Er hat deswegen den zuständigen Redakteur mit Briefen heftig traktiert. Erst nach seinem Tod ist der Text in der Zeitschrift „84“ veröffentlicht worden. (Artaud/ Anmerkungen)

Derrida dachte im Anschluss an Artaud an das Weitergehen der geschlossenen Repräsentation, an das Denken des Tragischen, wohingegen Artauds Text die Repräsentation zu seinen Lebzeiten gar nicht erreichte. Es war sein Tod, der die Publikation ermöglichte - und es war kein Tod im Leben, das den Text auf philosophisch reflektierte Weise durchzieht. Derrida stellt sich nicht dem Leben Artauds, sondern überzieht und durchkreuzt durch die Strategie der Enträumlichung und Zeitlosikeit dessen Tragik. Um es auf einen Punkt zu bringen, Derrida denkt das Tragische und übersieht damit die persönliche Tragik Artauds. Nur zu welchem Zweck?

Wer beim Schreiben in den Spiegel schaut, erblickt die eigenen Rahmenbedingungen, die sich seit den Surrealisten und dem Post-Surrealisten Artaud, d. h. seit den 20er bis in die 40er Jahre geändert haben. Wo Artaud den Sonderfall „Tiere“ des organischen Lebens erwähnt, die Tiere, die von der „exkrementiösen Idee eines Seins“ geschaffen wurden, die also auf ihrer Ebene „der körperlichen Wahrnehmungen“ nicht fertig sind, wo Artaud also eine Art kontinuierlicher Entwicklung zwischen Tieren und Menschen andeutet, da betont Derrida in den 60er Jahren nicht das geheime Band, sondern den Bruch. Dieser trennt die Repräsentation vom Leben. Es ist kein Zufall, dass zur gleichen Zeit in den Künsten dieser Gegensatz dadurch thematisiert wird und wie ein Sprengsatz wirkt, indem sowohl lebende Menschen als auch lebende Tiere als Material benützt werden.

Die Zuschauer einer Performance von Yves Klein werden sich vermutlich gefragt haben, was da eigentlich „repräsentiert“ wird, und ob es nicht vielmehr das pralle Leben war, das der Künstler mit seinen nackten Modellen auf die „Bühne“ brachte. Die Anthropometrien, die blauen Bilder mit den Abdrücken der Frauenkörper, in denen auch die Tragik der menschlichen Schatten von Hiroshima vom Japan-Kenner Klein mitgedacht wurden, diesen schönen Schrecken hat damals von den gut gekleideten Zuschauern, die dem Spektakel sitzend, fast andächtig oder empört lachend beiwohnten, als Gemälde eines nouveau réalisme kaum jemand verstehen können. Vielleicht genoss man die Provokation mehr als die Kunst. Und ganz sicher verstand man damals das Zerfetzen eines Huhns in einer Galerie (durch den Japaner Ay-O, 1962) nicht als bildende Kunst, sondern dachte dabei, wenn man überhaupt dachte, an den Gegensatz von Darstellung (Repräsentation) und Leben (bzw. Tod).

Derridas Blick auf Artaud ist aus dem historischen Abstand geboren, er beutet dessen dunkles Grauen für das Konstrukt seines obskuren Systems aus - das ist das Gegenteil einer „Dekonstruktion“ in Derridas eigenem Sinn. Das Auswerten und Ausschlachten des Gegenstands durch den Historiker ist nicht unbedingt zu verurteilen - schließlich steht niemand außerhalb der eigenen Zeit. Es ist sogar ein Qualitätsmerkmal, auf der Höhe der eigenen Zeit zu stehen und sie in die Reflexion der Vergangenheit einzubringen, wenn nur das Objekt der Untersuchung dann noch in seinen Konturen verständlich bliebe. Derrida collagiert jedoch aus dem Theater der Grausamkeit ein Bühnenbild, einen Rahmen, ja einen gerahmten Spiegel, in dem sich bald jeder wiederfinden sollte, wenn er sich mit der Dekonstruktion an sich befassen wollte. Dieser Kunstgriff ist seine größte Leistung. Es macht dann nichts, wenn man sich auf der vergeblichen Suche nach der Wahrheit in/und der Malerei schließlich selbst erblickt. Wenn dieser Blick erfreulich ist, wird man auch mit Derrida ganz zufrieden sein können. Wehe den Anderen, die wie Artaud nicht so selbstzufrieden sind. Dass Derrida deswegen in einem späteren Text über Artaud für eine Ausstellung im MoMa (1996) seiner Aversion gegen den Künstler freien Lauf lässt - er spricht sogar von „Abscheu“ und „Antipathie“ gegen den „schmerzenden Feind“ - hat dann keine philosophisch-kunsttheoretischen, sondern vermutlich psychologische Gründe.


Zitierte Literatur:
Antonin Artaud: Schluß mit dem Gottesgericht. Das Theater der Grausamkeit. Letzte Schriften zum Theater. München 2002
Jacques Derrida: Das Theater der Grausamkeit und die Geschlossenheit der Repräsentation, in: Die Schrift und die Differenz, Frankfurt am Main 1976, S.351-379
Jacques Derrida: Die Wahrheit in der Malerei. 1978. Wien 1992
Jacques Derrida: Aufzeichnungen eines Blinden. Das Selbstporträt und andere Ruinen, 1990. München 1997. Mit einem Nachwort von Michael Wetzel: „Ein Auge zuviel“ - Derridas Urszenen des Ästhetischen
Jacques Derrida: Artaud Moma - Ausrufe, Zwischenrufe und Berufungen. Wien 2003
Paul Duro (Hg.): The Rhetoric of the Frame - Essays on the Boundaries of the Artwork. Cambridge 1996
Heinz Kimmerle: Derrida zur Einführung. Hamburg 1988
Eva Mendgen (Hg.): In Perfect Harmony - Bild + Rahmen 1850-1920. Katalog, Van Gogh Museum Amsterdam - Kunstforum Wien 1995
Axel Schmitt: Unterwegs zum Bild. Derridas Randgänge zwischen den Medien.
http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=3431&ausgabe=200103
(Nr. 3, März 2001, 3. Jg.)
P. Zeillinger - Matthias Flatscher: Kreuzungen Derridas. Geistergespräche zwischen Philosophie und Theologie. Wien 2004

Vgl.: Mark Tanseys Darstellung des Konflikt zwischen Derrida und Paul de Man

 

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