Sedlmayr + Bredekamp


I.


Es gibt viele Gründe, gegen Hans Sedlmayr (18.1.1896 – 9.7.1984) zu sein.(1) Er war überzeugter Nationalsozialist – so wie Konrad Lorenz und Herbert von Karajan oder viele andere Prominente des Kultur- und Wissenschaftsbetriebes auch. Es ist die Frage, ob sich im Einzelfall die Überprüfung lohnt, inwiefern das wissenschaftliche Werk davon infiziert war. Sedlmayr war, das ist der zweite Grund, ein stockkonservativer Katholik, dessen Memorandum zur Katholischen Kirchenkunst – betreffend die Punkte 23 und 41 der Konzilsvorschläge in der Versicherung gipfeln, "daß wir für nichts anderes eintreten als für eine ars naturaliter christiana." (2) Man fühlt sich an eine Bemerkung seines Lieblingsphilosophen Franz von Baader (1765-1841) erinnert: "Christus selbst lehrt die Untrennbarkeit des Naturalismus vom Theismus..."(3) Jeder muss für sich entscheiden, was von einer derartigen kunsthistorischen Analyse zu halten ist. Es würde die Kunst herabsetzen, so nimmt Sedlmayr a priori an, wenn man den Zusammenhang zwischen Religion und Kunst leugnet und unterdrückt. Der Qualitätsmaßstab für Kunst sei im religiösen Erleben des Künstlers zu finden. Sedlmayr selbst hat dafür plädiert, Kunstgeschichte als Kultgeschichte zu schreiben: "Kunstgeschichte als Geistesgeschichte wird so konkret verstanden zur Kunstgeschichte als Religionsgeschichte. Ihr Kernstück aber wäre ‚Kunstgeschichte als Kultgeschichte." (4)

Ein dritter Grund liegt im engeren Bereich wissenschaftlicher Lauterkeit. Legendär ist die unverzeihliche Manipulation von Literaturhinweisen. Das beginnt bei der tendenziellen Fehldeutung von Texten, wie sie etwa in Sedlmayrs Neuinterpretation von Baaders ersichtlich wird. (5) Und es setzt sich fort zur Entstellung von Zitaten in ihr inhaltliches Gegenteil oder auch dem Verschweigen der Nachweise. Dabei hat er durchaus nicht gezögert, falsche Zitate bei anderen Autoren zu korrigieren. (6) Dass ausgerechnet Franz von Baader zum Kronzeugen seiner konservativen Weltsicht aufgerufen wird, entbehrt nicht einer gewissen Komik. Die erwähnte Schrift über Die Verfassung der christlichen Kirche ist anlässlich des 1. Vatikanischen Konzils von 1869 nochmals erschienen und trägt den Untertitel Blitzstrahl wider Rom. Auf dem Titelblatt erscheint der zusätzliche Vermerk: "In besonderer Schrift an das Licht gestellt auf Veranlassung des vom Papst auf den 8. Dezember ausgeschriebenen Concils." 1869 war das Konzil mit dem Dogma der Unfehlbarkeit des Papstes befasst. Den dagegen anschreibenden Autoren, wie dem rührigen Herausgeber der Schriften von Baader, Franz Hoffmann, wurde der Abfall von der katholischen Kirche vorgeworfen. Baader war ein vehementer Verfechter eines deutschen, von Rom unabhängigen Katholizismus. Sedlmayr, der untertänigst glaubte, Papst Pius XII. mit seiner Kunsttheorie dienen zu können, schaffte es, den antipapistischen und antijesuitischen Streiter von Baader zugunsten des ihm ins Konzept passenden Zeittheoretikers zu ignorieren. Bei von Baader findet man übrigens oft Hinweise auf die "rechte" oder "wahre Mitte". In einem seiner Zitate spart Sedlmayr ausgerechnet den Hinweis auf die "wahre Mitte" aus, obwohl sie in derselben von ihm zitierten Anmerkung Erwähnung findet. (7) Derartige Manipulationen der für ihn wichtigen Autoren ist staunenswert und verdiente einmal eine gründlichere Untersuchung.

Sedlmayrs kreativ-selektive Beurteilung von Lieferanten seines Zitatenschatzes beschränkt sich nicht auf den antirömischen Theosophen, der auch Arzt, Bergrat und wie Sedlmayr Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften war. Sie lässt sich auch in seinem berühmtesten Buch Verlust der Mitte am Beispiel des Anthroposophen Christian Morgenstern (1871 - 1914) zeigen. Das 14. Kapitel trägt das tragikomische Motto von Morgenstern "Wir sind am Ende..." Hier gibt es keinen Zweifel, man weiss sofort, was gemeint ist. Deshalb macht sich wohl niemand die Mühe, bei Morgenstern weiterzulesen. Stutzig hätten die Leser werden können, wenn im nächsten Kapitel wieder Morgenstern das Motto liefert, das dem vorhergehenden gegenüber konträr klingt: "... wir stehen an einem Anfang." Es handelt sich um eines der zahllosen Beispiele, wie sich Sedlmayr Quellen kreativ zurechtformte. Er war ein Meister der aus ihrem Zusammenhang gerissenen Zitate. Genau genommen gibt es die beiden Zitate nicht, vielmehr bilden sie die Variationen von zwei Gedanken, deren Kern Sedlmayr auslässt, nicht weil sie unwichtig wären, sondern obwohl sie offenkundig bedeutsam sind. Sie lauten: "Bewußtsein: Wir stehen an einem Ende, wir sind ein Anfang." (1908) und "Wir stehen nicht am Ende, sondern am "Anfang des Christentums" (1910). Abgesehen von seinen Auslassungen des "Bewußtseins" und des "Christentums" tauscht er also "Wir sind ein Anfang" in "wir stehen an einem Anfang" und "Wir stehen an einem Ende" oder "Wir stehen nicht am Ende" in "Wir sind am Ende".

Natürlich müsste man es nicht so pedantisch genau nehmen, wenn nicht Sedlmayrs eigene "Methode der kritischen Formen" aus dem vermeintlich Nebensächlichen die Deutung des Ganzen abzuleiten anbietet. (8) Wollte er sich nicht mit dem biederen und selbst ernannten Mystiker Morgenstern, der noch dazu der Anthroposophie so viel verdankte, identifizieren? Liess er deswegen ausgerechnet den Hinweis aus, dass nicht das Ende des Christentums befürchtet, sondern dessen Anfang beschworen wurde? Ich möchte das Ausmaß der Verdrängung nicht überstrapazieren und darauf verweisen, dass auch im Namensregister selbst noch in der 11. Auflage "Morgenstern" alphabetisch falsch erscheint. (9) Man muss aber in diesem Register nachlesen, um zwei weitere Zitate von Morgenstern zu finden, von denen eines zwar in Anführungszeichen gesetzt ist, aber ohne Hinweis auf den Autor erscheint. Die erste Textstelle lautet: "Existentiell kann nur derjenige verzweifeln, dessen Werterleben bis in die letzten, rational nicht mehr zu bestimmenden Tiefen seiner Existenz hinabreicht. Je tiefer etwa die Liebe eines Menschen ist..." und Sedlmayr fährt mit eigenen Worten fort: "desto mehr steht er in der Gefahr der Verzweiflung, wenn seiner Liebe ihr Gegenstand genommen wird." (247) Die zweite: "Es gibt Menschen, welche die Katastrophe brauchen." (248) Immerhin handelt es sich um den letzten wieder frei zitierten Bezug auf einen anderen Autor im Verlust der Mitte. Die bisher unbeachtete Bedeutung des anthroposophischen Nonsense-Texters Christian Morgenstern für Sedlmayr ist nicht hoch genug zu bewerten.

Die beiden Motti vom "Ende und Anfang" finden sich in mehreren Büchern Morgensterns. Blättert man einige Seiten im autobiografischen Erbauungsbuch Stufen weiter, begegnen wir einer Charakterisierung der Kugel: "Im Kugelbegriff grenzt sich Gott gegen sich selbst ab. Gott ist, worin dieser letzte Begriff als in seiner höheren Einheit aufgeht." (10) Das Kugelhaus war für Sedlmayr deshalb von zentraler Bedeutung, weil es das erste Mal die Möglichkeit vorstellte, das Unten mit dem Oben zu vertauschen. Genau darin liegt ja der Sinn der Französischen Revolution. Ihm erschien es als perverses Symptom, die göttliche Form als geometrischen Rest in einem belanglosen Haus mißbraucht zu sehen. Wenn gleichzeitig die Luftballons der Brüder Montgolfier die Wahrnehmung von oben erlauben und der Mensch nicht mehr auf die normale Perspektive reduziert bleibt, scheint die Welt aus den Angeln gehoben. Die Auseinandersetzung mit den Thesen Morgensterns findet nicht im Text statt, sondern bildet einen Fundus, der sich in den erwähnten Zitaten mehr oder weniger zufällig auskristallisiert.

Ein vierter Grund liegt in der Menschenführung. Man kann sich darüber wundern, warum er in München keine Tradition, keine Schule begründet hat, warum er keine bedeutenden Schüler hatte, ja warum seine Anregungen gerade bei seinen Gegnern, wie Werner Hofmann, auf fruchtbaren Boden fielen. Es gab viele Opfer seiner kompromisslosen launenhaften Ablehnung von Studierenden, zu denen auch der Verfasser gehört. So wichtig ihm die Metapher der "Mitte" war, so allergisch war er gegen Mittelmaß, mit dem er es naturgemäß ständig zu tun hatte.


II.


Doch zwei Jahrzehnte nach seinem Tod ist das Interesse an ihm ungebrochen, ja es flammt in jüngster Zeit wieder neu auf. Für ernsthafte Kunsthistoriker führt an ihm kein Weg vorbei. Das kann nicht daran liegen, dass er polarisiert oder dass seine Thesen, seine rigorose Ablehnung der Moderne noch besonders relevant wären. Sicher, es gibt auch heute noch Verehrer aus der Ökologie-Szene, die in ihm einen Vermittler von Natur und Kultur sehen wollen. Aber dass er das grundsätzlich diagnostizierte Elend der Moderne an den Symptomen kurieren wollte, dass er geradezu die Künstler zu schuldigen Tätern zu stempeln schien, weil sie der Apokalypse Ausdruck verliehen, verdankt sich wohl einem fundamentalen Glauben an die Abbildhaftigkeit der Kunst. Die surrealen Effekte seiner entsprechenden, suggestiven Wortkaskaden sind oft bemerkt worden. Sein fanatischer Glaube hatte etwas mitreissendes, seine rhetorische Begabung entwickelte noch im hohen Alter während seiner Zeit in der Salzburger Provinz, als er dort das Kunsthistorische Institut der neu gegründeten Paris Lodron Universität aufbaute, einen bezwingenden Charme.

Die Aktualität Sedlmayrs mag – so die im folgenden zu skizzierende These - in einer allgemeinen Sehnsucht nach der ganzheitlichen Sicht liegen. Hier findet sich das Paradigma einer zwar intoleranten, aber brillant konzipierten Schau der in der neueren Geschichte zertrümmerten, aber rekonstruierbaren Gesamtkunstwerke. Die Zauberformel dafür lautete "richtige Einstellung". Im Kapitel "Probleme der Interpretation" des Buches Kunst und Wahrheit fasst er die Voraussetzung einer Deutung knapp zusammen. Zunächst gehe es um den "Text" eines Werkes, der wiederhergestellt werden müsse. "In den Museen stehen heute Bilder und Skulpturen unter gänzlich veränderten Bedingungen vor uns." (11) Daraus folgt: "Zunächst ist die Voraussetzung für jedes Interpretieren, daß das Kunstwerk eine Ganzheit ist." (12) Dass das museale Denken Kunstwerke in die getrennten Abteilungen für die verschiedenen Kunstgattungen zerlegt, ist nicht zu bestreiten. Doch Sedlmayr beschränkt dies auf die "echten, die wahren Kunstwerke" und nimmt ausdrücklich die "schlechten Machwerke" aus. Die Bewertung ist von der Strukturfrage nicht zu lösen. Die Sedlmayrsche Strukturanalyse nimmt sich vor, die Strukturgesetze zu fassen, weil sich darin auch der Bewertungsmaßstab findet. "Das Ziel jeder ‚Strukturanalyse’ ist: <von wenigem Zentralen her möglichst vieles bestimmbar, begreifbar zu machen> (M. Wertheimer)" (13) Die große Eleganz dieser Methode besteht darin, das dieses "Zentrale" nicht nur das Werk in seinen Teilen und als ganzes, sondern auch die jeweilige Epoche erklären soll.

Das Zentrale eines Werkes nennt Sedlmayr den "anschaulichen Charakter". Er "bestimmt, ‚warum am Kunstwerk alles so ist, wie es ist." (14) Er offenbare sich allerdings nur demjenigen, der die richtige, d.h. die "ursprüngliche Einstellung" einnehme, die der "künstlerischen Einstellung" entspreche. (15) "Den ‚objektiven’ Wert... könnte nur feststellen, wer das ‚richtige’ Wertsystem herausfinden könnte. Ich halte das für möglich, aber nicht im Rahmen der Wissenschaft." (16) Nur der Gläubige vermag Qualität zu sehen, die vom selben Wertsystem bestimmt sei. Deshalb ist die dem nicht entsprechende Kunst (generell die Moderne) schlecht, woran sich auch nichts ändert, wenn sie gut erklärt wird, weil dies außerhalb des richtigen Wertesystems geschehe. Wissenschaftlich ist das unangreifbar, weil das eigentliche Kriterium außerhalb der Wissenschaft, in der Ideologie, in der richtigen Einstellung liegt. Hier setzt der Vorschlag Horst Bredekamps an. Seine Bemerkung lautete, dass Sedlmayr völlig akzeptabel wäre, würde man die ideologische Ausrichtung von Rechts nach Links umkehren. Bredekamp erinnert sich daran unter dem Eindruck der "Darmstädter Gespräche" gestanden zu sein, wo ihm auf "etwas naive Weise imponiert habe, dass Sedlmayr gegenüber dem großen Adorno nicht ‚gekuscht’ habe." (17) Da nach Sedlmayr die entscheidende Kompetenz, das richtige Wertsystem zu erfassen, außerhalb der Wissenschaft liegen soll, berührt sie zunächst nicht unmittelbar die Methodik. Aus dieser Sicht sollte es möglich sein, von links her eine Strukturanalyse mit einer Rekonstruktion ursprünglicher Ganzheiten zu entwickeln. Fast klingt die Umpolbarkeit Sedlmayrs wie ein unrealistisches, ja unakzeptables Kompliment. Boris Groys hat diese Bemerkung von Bredekamp mit der Beobachtung quittiert, (18) dass dies gerade dessen eigenes Konzept umreisse. Die entscheidende Frage muss lauten, wieweit die ideologische Umorientierung die Methode belässt oder verändert und sich daraus ihr Gegenstand anders darstellt. Oder anders gesagt, worauf richtet sich der Wunsch nach Reintegration und Ganzheit im Sinne Bredekamps? Bei welcher Art Methodik ist überhaupt die ideologische Basis relevant? In der Stilkritik ist es vermutlich egal, ob man in traditioneller Weise von links oder rechts die Analyse auf das Ergebnis "süddeutscher Barock um 1720" beschränkt.

Worin besteht die Affinität zwischen Sedlmayr und Bredekamp? Um das zu beantworten, wäre es nötig, auf mehr als einige Parallellen zu verweisen, wie z.B. auf Sedlmayrs Leidenschaft für den Fußball. Nun hat er nicht über Fußball geschrieben, denn dazu gab es anlässlich seiner Besuche im Salzburger Stadion keinen Anlass. Bredekamp hingegen spielte als Libero beim Hamburger FC Ditze, wie auf seinem Fußball-Buch zu lesen ist. (19) In diesem Text beschäftigt sich der Autor, der über Kunst als Medium sozialer Konflikte (20) dissertiert hat, in der neueren Hamburger Tradition mit einer politischen Ikonografie. Es "blieb im Calcio der Zwist zwischen der populären Herkunft und der höfischen Indienstnahme lebendig." (21) In einem zentralen Kapitel geht es um "höfische Tugendbildung" dieser mediceischen Festivität. Wir wollen es mit der Parallele aber nicht zu weit treiben und etwa noch auf die "anarchische Energie" (22) rund um diese Kugelform eingehen.

Bredekamp geht es nicht wie Sedlmayr um die retrospektive utopische Harmonisierung der höfisch-kirchlichen Hierarchie. Im Gegenteil. Das zeigt sich sofort bei einem Forschungsgegenstand, der für Sedlmayr als vermeintliches Gesamtkunstwerk hervorragend dazu geeignet gewesen wäre, in zeitloser Ganzheitlichkeit zu schwelgen. "Michelangelos Kuppel von St. Peter... wirkt... wie das Symbol einer Epoche, die prädestiniert war, überzeitlich Gültiges aus dem Konsens aller Beteiligten zu gestalten. Aber dieser Eindruck täuscht. Wie die Peterskirche überhaupt, so war die Kuppel nicht das Ergebnis einer langfristig wirksamen Planung, die sich auf verbindliche künstlerische Maßstäbe berufen konnte, sondern das Produkt sich unnachgiebig bekämpfender Konkurrenzprojekte." (23) Wie in vielen seiner Arbeiten ist der Autor fasziniert von den Konflikten und Kämpfen rivalisierender Interessensgruppen, ob es sich dabei um Päpste und ihre Familien, Kardinäle, Fürsten, Künstler oder die Bevölkerung handelt. Das ist eine Sedlmayr völlig fremde Denkungsweise, der allerdings von allen möglichen Krisen (des Glaubens) fasziniert war.

Bredekamp setzt dort an, wo der Vorgänger Sedlmayrs auf dem Lehrstuhl an der Wiener Universität, Julius von Schlosser (1866-1938) die Wurzeln des musealen Denkens rekapituliert hat, in den Kunst und Wunderkammern. (24) Dieses heterogene Sammelsurium war zwar nach jeweils einheitlichen hieratischen Kriterien geordnet und spiegelte die Sicht des Kosmos wider, den Wunderkammern fehlte aber genau das, was Sedlmayr mit dem "anschaulichen Charakter" beschrieb und in einer "ursprünglichen Einstellung" zu interpretieren gehabt hätte. Es fehlte die "Kunst" in Unterscheidung zur "Natur", d.h. es gab noch nicht die entsprechenden Begriffe, weil zwischen den beiden Sphären nicht unterschieden wurde.

Bredekamp erschließt – und darin unterscheidet er sich von Schlossers historischem Rückblick – die folgende "Kette" einer idealen Ordnung: "Naturform – antike Skulptur – Kunstwerk – Maschine". (25) Der bewegungsfähige, d.h. im damaligen Sinne beseelte Automat besiegte die unbewegte antike Skulptur und war im Urteil der Zeitgenossen der Höhepunkt einer Sammlung. Bredekamp richtet sein Augenmerk besonders auf drei Momente: erstens auf die Aufkündigung der begrifflichen "Einheit von Kunst und Mechanik" (26), zweitens die Entstehung visueller Zuordnungsmöglichkeiten in den Naturwissenschaften (27) und drittens die Geburt des modernen Kunstmuseums, das als "Gefäß der befreiten Menschheit ... im Zuge der französischen Revolution das gesamte Prestige, das bisher die Kunstkammer als enzyklopädische Institution beanspruchen konnte" übernimmt. (28) Diese drei Punkte lesen sich wie eine Perversion Sedlmayrschen Denkens.

Sedlmayr postulierte eine ideale Kunstsphäre, die sich mit der französischen Revolution und ihrer "Gleichmacherei" (29) durch Autonomisierungsbewegungen, d.h. eine "Zerspaltung der Künste" aufgelöst habe. Natur im Sinne von Landschafts- und Gartenkunst zerstöre die führende Rolle der Architektur, die zudem in den Bann der technischen Konstruktion gerate, (30) wobei ihm die Maschinenästhetik zum Schreckensbild des anorganischen Geistes wird. Bernhard Rupprecht hat darauf hingewiesen, dass der von Sedlmayr konstatierten "Zerspaltung der Künste" in der Moderne, zugleich das Gesamtkunstwerk der Kathedrale gegenüberstand. (31) Darin wird die ideologische Umkehrung ganz deutlich. Bredekamp definiert den vermeintlichen Verlust als "Ausdifferenzierung des Kunstsystems" (32) und dekonstruiert Vorstellungen heiler Ganzheitlichkeit, Sedlmayr postuliert sie in den großen Meisterwerken der Vergangenheit, um die aus linker Sicht mit ihrer Auflösung einhergehende "Befreiung" des Menschen als Verlust der Mitte, als Abfall von Gott zu beklagen. Die "ganze" Kathedrale war aber nicht gegeben. Sedlmayr musste sie erst schaffen. "Diesem zerfallenen Bild der Kathedrale und ihrer Entstehung ein neues, haltbares und befriedigendes entgegenzustellen, ist die Aufgabe." (33) Das war einerseits das Programm, andererseits wurde es erfüllt in der Illusion, dass es der "richtigen", nämlich "ursprünglichen" Einstellung entsprochen haben muss.

Das war ein Teil der Frage. Der zweite lautet, wie die Sedlmayrsche Gewissheit einer großen Einheit in der Vergangenheit sich unter anderen ideologischen Voraussetzungen konstruiert. Auch Bredekamp ist erfüllt von der Sehnsucht nach dem großen Zusammenhalt, den er allerdings nicht in den vermeintlichen Gesamtkunstwerken der Vergangenheit vermutet, sondern in den idealen Sammlungskonzepten. Auf die Frage in einem Interview, ob er den damaligen Kunstbegriff gerne wieder einführen würde, antwortete er: "Ich bin der festen Meinung, daß wir nach 200 Jahren der ästhetischen Rationalität, die notwendig war, auf einem neuen Niveau in einem Zeitalter der Kunstkammer sind. Die Mauern zwischen den Disziplinen werden niedriger, die Naturwissenschaft nähert sich in ihren bildnerischen Ausdrucksformen den Formen der Kunst..." (34) Ernsthaft wäre die Wiedervereinigung oder Annäherung von Natur und Kunst nicht zu erhoffen, aber Bredekamp postuliert eine solche zwischen Natur- und Geistes- bzw. Kulturwissenschaften.

Kronzeuge dieser ebenfalls rückwärtsgewandten Utopie ist der große Gottfried Wilhelm Leibniz, "einer der gedankenschärfsten und vielseitigsten Köpfe der Zeit zwischen dem Dreißigjährigen Krieg und der Aufklärung." (Bredekamp) (35) Leibniz ging es um nicht weniger als die Organisation der "gesamten Welt des Wissens". Da Teile der umfangreichen (naturkundlichen!) Sammlungen der Humboldt Universität in Berlin auf jene Kunstkammer zurückgehen, die Leibniz im Auge hatte, knüpft Bredekamp ein Band zwischen seiner eigenen Wirkungsstätte und dem großen Geist um 1700. "Die Ausstellung vermag die Verbindung mit dem Theater, wie Leibniz es vorschwebte, nicht einzuholen; sie bleibt utopisch. Zu hoffen wäre jedoch, dass er bei einem Gang durch den Gropius-Bau einen Teil des Vergnügens entwickeln könnte... Zumindest das Theatrum Naturae müsste ihn elektrisiert haben." (36) Wenn sich die Einzeldisziplinen isolierten, "werden sie verkümmern wie in Einzelhaft." So schließt Bredekamp sein Buch Antikensehnsucht und Maschinenglauben. (37)

Sedlmayr postulierte aus der "richtigen Einstellung" auf dem Fundament des Glaubens die Gesamtkunstwerke der Vergangenheit, vor allem der Kathedrale und des Barocks, welchen gegenüber die Kunst der Moderne durch ihre, verkürzt gesagt, naturwissenschaftlich-mathematisch-technoide Orientierung einen Absturz in die Zersplitterung darstellt. Bredekamp sieht in den Kunstkammern des Manierismus und Barock jene Einheit des Wissens, die durch die Spezialisierung und Ausdifferenzierung seither verloren gegangen ist, aber wiederum eine Utopie integrativer Kraft darstellt. Dort der melancholisch-pessimistische Blick Sedlmayrs mit der Aversion gegenüber allem Außer- und Nichtkünstlerischen, hier der dynamische Optimist Bredekamp ohne Berührungsängste – doch gemeinsam ist ihnen beiden die Sehnsucht nach einer in die Vergangenheit projizierten Ganzheitlichkeit der Kunst und des Glaubens bzw. des Wissens.

Dass die Interpretationen Sedlmayrs heute kaum mehr halten, stellt in dieser Geschichte des Faches kein großes Hindernis dar. Allen Deutungen widerfährt in dieser Hinsicht das gleiche Schicksal. Was bleibt ist nicht der Inhalt, sondern die Intensität und Überzeugungskraft, mit der er für sein Weltbild gekämpft hat. Solange man an eine dritte Kultur oder an die große Theorie (in der Physik), an irgendeine Ganzheit und Einheit glauben möchte, wird man Sedlmayr zwar nicht Recht geben, aber sich (insgeheim) ein Beispiel an ihm nehmen können.

 

Anmerkungen:
1) Der beim Symposium gehaltene Vortrag ist abgedruckt in: T. Z.: Kunstwissenschaft. Eine Art Lehrbuch. Schriftenreihe des Instituts für Kunst- und Designwissenschaften (IKUD) der Universität Essen, Band 7. Klartextverlag Essen 2002, S.123-133. Dabei lag der Schwerpunkt auf den Anekdoten als "kritische Form", also um eine Strukturanalyse persönlicher Erinnerungen. Hier konzentriere ich mich auf den Grundgedanken der ideologischen Umpolung, wie sie Horst Bredekamp vorgeschlagen hat.
2) Das nicht für die Veröffentlichung bestimmte Memorandum wurde im Oktober 1962 für das Konzil geschrieben und zunächst nur an Exzellenzen und Eminenzen versandt, darunter den Kardinälen Larrona, Döpfner, Frings und König.
3) Franz von Baader: Die Verfassung der christlichen Kirche und der Geist des Christenthums. Erlangen 1870, S.6
4) H. S.: Kunst und Wahrheit. Zur Theorie und Methode der Kunstgeschichte. Rowohlts Deutsche Enzyklopädie. Reinbek bei Hamburg 1958, S.77
5) H. S.: Erneuerung als konservatives Prinzip bei Franz von Baader. In: Studium Generale Jg. 15, Heft 4 (1962), S.264-271
6) "Hier habe ich das ‚nicht’, welches im Zitat bei Mohler fehlt und doch wohl nur versehentlich fortgefallen ist, sinngemäß ergänzt. In: Erneuerung (Anm. 5), S.270 Anm.6
7) Sedlmayr zitiert (s. Anm. 5, S.267) eine Textstelle aus: Franz Xaver von Baader: Sämtliche Werke. Hgb. Von Franz Hoffmann, Julius Hamberger, Band 6, Leipzig 1854 (Neudruck: Scientia Verlag Aalen 1963), S.70 Anm. *
8) Auf die Methode und den Zusammenhang von Epoche und Einzelwerk gehe ich hier nicht ein. Vgl.: T.Z.: Methoden der Kunstgeschichte. Zu drei Vorträgen von Hans Sedlmayr. In: Salzburger Museumsblätter, Jg.36, Juni 1975, N.2, S.15-16; Systeme der Kunstgeschichte. Dissertationen der Universität Salzburg 5. Wien 1975, S.163-236; Kunstgeschichte als Geistesgeschichte. Eine andere Wiener Schule. In: K.Sotriffer (Hg.): Das Größere Österreich. Geistiges und soziales Leben von 1880 bis zur Gegenwart. Wien 1982, S.162-164; Tiefensinn. VERMEER und Hans Sedlmayr (1896-1984). In: T. Z.: Leitbilder. Denkmodelle der Kunsthistoriker. Klagenfurt 19952, S.41-65
9) H. S.: Verlust der Mitte. Die Bildende Kunst des Neunzehnten und Zwanzigsten Jahrhunderts als Symptom und Symbol der Zeit. 1948. Otto Müller Verlag, Salzburg 1998 11. Morgenstern erscheint zwischen "Mitelli Giuseppe" und "Möhler Johann Adam" statt zwischen "Montesi Gotthard" und "Morris Walter", der eigentlich "William" hieß. Die Schuld an einem solchen, über die Jahrzehnte falsch beibehaltenen Register liegt natürlich nicht beim Autor, sondern beim Verlag.
10) Christian Morgenstern: Stufen. Piper, München 1918, S.300
11) Kunst und Wahrheit (Anm.4), S.91
12) Kunst und Wahrheit (Anm.4), S.92
13) Kunst und Wahrheit (Anm.4), S.94
14) Kunst und Wahrheit (Anm.4), S.111
15) Kunst und Wahrheit (Anm.4), S.44
16) Kunst und Wahrheit (Anm.4), S.100
17) Horst Bredekamp schrieb mir in einer Email am 17.1.2001 wörtlich: "zu befürchten ist, dass ich ähnliches damals gesagt habe... Wenn man also Adorno/Horkheimer einen hohen analytischen Wert beimesse, dann müsste man auch etwa die ersten Kapitel des ‚Verlustes der Mitte’ zumindest als Analyse diskutieren, ohne seine Konsequenzen zu teilen." In diese Richtung zielt die Aufarbeitung der Moderne durch Werner Hofmann. Hier soll eine andere Spur verfolgt werden.
18) In einem Gespräch mit dem Autor im Herbst 2001 in Wien.
19) Horst Bredekamp: Florentiner Fußball: Die Renaissance der Spiele. 1993. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2001
20) Horst Bredekamp: Kunst als Medium sozialer Konflikte. Bilderkämpfe von der Spätantike bis zur Hussitenrevolution. Frankfurt: Suhrkamp 1975.
21) Florentiner Fußball (Anm.19), S.9
22) Florentiner Fußball (Anm.19), S.146
23) Horst Bredekamp: Sankt Peter in Rom und das Prinzip der produktiven Zerstörung. Bau und Abbau von Bramante bis Bernini. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2000, S.9
24) Julius von Schlosser: Die Kunst- und Wunderkammern der Spätrenaissance. Ein Beitrag zur Geschichte des Sammelwesens. 1923 2 . Braunschweig 1978
25) Horst Bredekamp: Antikensehnsucht und Maschinenglauben. Die Geschichte der Kunstkammer und die Zukunft der Kunstgeschichte. 1982. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2000, S.33
26) Antikensehnsucht (Anm.25), S.79
27) Antikensehnsucht (Anm.25), S.80
28) Antikensehnsucht (Anm.25), S.89
29) "Gleichmacherei der ersten Revolutionsarchitektur". In: Verlust der Mitte (Anm.9), S.64
30) Hans Sedlmayr: Die Revolution der Modernen Kunst. Rowohlts Deutsche Enzyklopädie. Reinbek bei Hamburg 1955, S.67 ff.
31) Bernhard Rupprecht: Vorwort. In: Hans Sedlmayr: Die Entstehung der Kathedrale. Baukunst-Mystik-Symbolik. VMA-Verlag, Wiesbaden 1988, S.XV
32) Horst Bredekamp: Die Kunst der Paradoxie. In: Rechtshistorisches Journal (Hg.: Dieter Simon), Bd.17, 1998, S.415-421. Bredekamp zeigt auf, dass Niklas Luhmann in seiner Kunst der Gesellschaft (1995) zwar Sedlmayr als Gegenbild nützt, aber keinen Blick auf Paragone und Kunstkammer wirft.
33) Die Entstehung der Kathedrale (Anm.31), S.20
34) "Um zu bestehen braucht die Kunstgeschichte einen Rahmenwechsel". Interview. In: art. Das Kunstmagazin Nr. 9, September 1997, S.103
35) Horst Bredekamp: Leibniz’ Theater der Natur und der Kunst. In: Theatrum naturae et artis -Theater der Natur und Kunst. Wunderkammern des Wissens. Martin Gropius - Bau, Berlin. Henschel Verlag Berlin 2000, S.13
36) Leibniz’ Theater (Anm.35), S.19
37) Anm.25

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